Nicaragua | Nummer 583 - Januar 2023

DIE GEDANKEN SIND NICHT FREI

Mit der Verhaftung des 76-jährigen Soziologen Oscar René Vargas füllen sich die Gefängnisse Nicaraguas weiter

Der Regimekritiker und bekannte Soziologe Oscar René Vargas befand sich zu Besuch bei seiner kranken Schwester, als am 22. November 2022 eine schwer bewaffnete Polizeitruppe das Haus stürmte. Vargas hat bis zum Zeitpunkt seiner Verhaftung in einem geheimen Ort gelebt. Er wurde in das berüchtigte Gefängnis El Chipote verbracht, wo ein Teil der inzwischen 235 politischen Gefangenen unter unerträglichen Haftbedingungen einsitzen. Diese Umstände könnten wegen seines Alters und schlechten Gesundheitszustands lebensbedrohlich werden. Ein Kommentar.

Von Ernesto Medina Sandino (Übersetzung: Elisabeth Erdtmann & Christian Böhme)

Am Morgen des 22. November wurde der Soziologe und politische Analyst Oscar René Vargas Escobar in Managua verhaftet. Er gehört zu den kritischen Stimmen gegen die Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo und ist in unabhängigen Medien eine wichtige Referenz, wenn es um die Analyse der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Realität in Nicaragua geht. Mit 34 veröffentlichten Büchern und zahlreichen Publikationen in Zeitschriften und Zeitungen ist er einer der produktivsten und bedeutendsten Denker des Landes.

Während eines Besuchs bei seiner Schwester wurde er von schwer bewaffneten Polizeikräften verhaftet. Ohne Haftbefehl, auf „Befehl von oben” wie es hieß.

Allgemein wurde vermutet, dass sich Oscar René Vargas seit 2018 in Costa Rica aufhielt, um dort wie viele andere Nicaraguaner*innen Schutz, Zuflucht und Freiheit zu suchen, vor einem Regime,das nach den Protesten im April 2018 in seinen Grundfesten erschüttert und von Rachegelüstengetrieben ist.

Wir nahmen an, dass er von dort aus an seinen Schriften arbeitete und seine Analysen erstellte, die von den unabhängigen Medien veröffentlicht wurden. Seine Verhaftung in Managua kam überraschend. Möglicherweise war sein schlechter Gesundheitszustand der Grund für seine Rückkehr nach Nicaragua, um sich von befreundeten Ärzten behandeln zu lassen. Im Ruhestand und ohne soziale Absicherung in einem fremden Land blieb ihm keine andere Wahl, um eine angemessene Behandlung zu erhalten.

Drei Tage nach der offiziell von den nicaraguanischen Behörden veranlassten Verhaftung erhob ein Staatsanwalt Anklage gegen Oscar René. Tatvorwurf: Schädigung des nicaraguanischen Volkes, jedoch ohne nähere Angaben zur Grundlage der Anklage, geschweige denn zu den Verfahren, die zu seiner Festnahme führten. Die Anklageschrift wurde vor einem Gericht in Managua von der Richterin Gloria María Saavedra Corrales erhoben, die bereits für die Prozesse gegen mehrere politische Gefangene zuständig war, die wegen „Verbreitung falscher Nachrichten” oder „Verschwörung zur Untergrabung der nationalen Integrität” verurteilt wurden. Wenn dieser Prozess denselben Verlauf nimmt wie die der letzten Monate (siehe LN 573), ist zu erwarten, dass Oscar René wegen des Gebrauchs seiner Meinungsfreiheit zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wird.

Haftstrafe aufgrund freier Meinungsäußerung

Für diejenigen, die Oscar Renés akademische und wissenschaftliche Arbeit verfolgen, kann es kein Zufall sein, dass seine Verhaftung nur einige Tage nach seinen Erklärungen zum Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) erfolgte. Dieser wurde am 16. November 2022 unter dem Titel „Nicaragua: Erklärung des technischen Personals zum Abschluss der Artikel IV-Mission 2022” veröffentlicht.

Dem Bericht zufolge seien trotz global ungünstiger Faktoren die wirtschaftlichen Aussichten Nicaraguas vielversprechend. Zu dessen wichtigsten Ergebnissen gehören unter anderem, dass die Wirtschaftsaktivität, nachdem sie im Zeitraum 2018 bis 2020 um 9 Prozent geschrumpft war, dabei ist, sich gut zu erholen. Es sei jedoch nötig, dass eine besonnene Geld-, Steuer- und Finanzpolitik fortgesetzt werde, um die Widerstandsfähigkeit zu stärken und ein nachhaltiges mittelfristiges Wachstum zu erreichen. Der nicaraguanische Staat habe bereits Maßnahmen zur Verbesserung der Regierungsführung und Korruptionsbekämpfung ergriffen, wenn auch weitere Anstrengungen erforderlich seien, um diese Maßnahmen und ihre wirksame Umsetzung zu stärken. Dieser Bericht stellt zweifellos eine wohlwollende und positive Bewertung der aktuellen wirtschaftlichen Situation Nicaraguas und dessen Regierungsleistung dar. Er wurde von nicaraguanischen Fachleuten − darunter Oscar René −, die die Lage weniger optimistisch einschätzen, kritisch bewertet.

„Ein Dokument, das in der Öffentlichkeit für Verwirrung sorgt“

In Äußerungen gegenüber einem unabhängigen Medienunternehmen, die einen Tag vor seiner Verhaftung veröffentlicht wurden, bewertete Oscar René den IWF-Bericht folgendermaßen: „Es ist ein Dokument, das in der Öffentlichkeit für Verwirrung sorgt. In Wirklichkeit sagt der Fonds aus, dass sich Nicaraguas Wirtschaftsmotor verlangsamt hat, was erhebliche soziale Folgen hat. Es wird weniger Möglichkeiten geben, Arbeit zu finden, ein Einkommen zu erhalten, mit dem man seinen Grundbedarf decken kann und letztendlich der Armut zu entkommen”.

Im Gegensatz zu den enthusiastischen Kommentaren in den offiziellen Medien dürften diese Äußerungen beim Regime nicht gut angekommen sein. Falls Oscar René deswegen verhaftet wurde, haben wir ernsthafte Gründe, uns Sorgen um Nicaraguas Zukunft zu machen. Die Zahlen belegen die Tragödie, welche das Land derzeit durchlebt: Mehr als 350 Tote während der Proteste 2018, mehr als 200 politische Gefangene sitzen derzeit in Haft und 200.000 Nicaraguaner*innen leben als Migrant*innen dauerhaft im Ausland. 4.000 Nichtregierungsorganisationen und alle unabhängigen Medien wurden vom Regime willkürlich geschlossen. Die Durchsetzung eines Regimes der Angst und die Festnahme Oscar René Vargas’ sollten uns dazu bringen, kritisch zu hinterfragen, was in diesem kleinen mittelamerikanischen Land geschieht:

In was für einer Welt leben wir, wenn wir das Leid eines Volkes nicht als unser eigenes Empfinden, es vorziehen wegzuschauen und die Augen vor dem was geschieht verschließen? In was für einer Gesellschaft leben wir, die es toleriert und als normal ansieht, dass ein Mensch verhaftet und vor Gericht gestellt wird, ohne dass ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit gewahrt wird, nur weil er frei denkt und von dem Menschenrecht zur freien Meinungsäußerung Gebrauch machen will? In was für einer Demokratie leben wir, die es nicht wagt, die Achtung der Menschenrechte eines Volkes zu fordern, das gewaltsam unterdrückt und unterjocht wird, weil es gewagt hat, ein Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie zu verlangen?

Nur wir können diese Fragen beantworten − mit den Menschen in Nicaragua in unseren Köpfen und Herzen. Einer der letzten, auf seiner Webseite veröffentlichten Artikel von Oscar René Vargas einen Tag vor seiner Verhaftung ist „Die Strategie zur Befreiung der politischen Gefangenen”. Darin macht er Vorschläge für eine politische und aktionistische Strategie der vielen Nadelstiche im Kampf gegen die Diktatur.

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