Nicaragua | Nummer 585 - März 2023 | Politik

AUS DEM GEFÄNGNIS IN DIE VERBANNUNG

Staatschef Daniel Ortega wirft politische Gefangene aus dem Land

Als am Morgen des 9. Februar 2023 eine Chartermaschine in Richtung Washington D.C. vom Hauptstadtflughafen Managua abhob, hatte sie 222 politische Gefangene an Bord. Die Freigelassenen reisten als Staatenlose, denn kurz darauf wurde ihnen die nicaraguanische Staatsbürgerschaft entzogen wie auch in der Folge weiteren 94 als Dissident*innen bekannten Personen. Ein Kommentar von Sergio Ramírez.

Von Sergio Ramírez (Übersetzung: Lutz Kliche)

Die übergroße Mehrheit der politischen Gefangenen, die in den Gefängnissen der Diktatur Strafen für Verbrechen verbüßten, die sie niemals begangen hatten und die in willkürlich erlassenen Gesetzen erfunden wurden, ist freigelassen, in ein gechartertes Flugzeug gesetzt und bei Nacht und Nebel in die Verbannung geschickt worden − auf dieselbe willkürliche Weise, wie sie festgenommen und Gerichtsverfahren unterworfen wurden, die keinerlei juristischen Wert hatten, und unter unmenschlichen Bedingungen in Einzelhaft gehalten wurden. Einige wenige erhielten Hausarrest.

Gerade habe ich das Video gesehen, in dem ein Richter in seiner Robe − Präsident des Berufungsgerichts von Managua − vor einem leeren Saal des Justizkomplexes mit Grabesstimme das Urteil verliest, mit dem die langen Haftstrafen, zu denen die Gefangenen verurteilt worden waren, in die Strafe der Verbannung umgewandelt werden. Außerdem werden sie wegen Vaterlandsverrats aller Bürgerrechte und politischen Rechte beraubt − eine weitere Willkür, die jeder Grundlage entbehrt.

Kurz darauf hat die Nationalversammlung in einer Dringlichkeitssitzung in gehorsamer Einstimmigkeit ein Dekret verabschiedet, das in Verletzung der Verfassung Vaterlandsverrätern die nicaraguanische Staatsangehörigkeit entzieht, also den noch auf ihrer Flugreise befindlichen Verbannten. Noch mehr Willkür. Sie vergessen, dass allgemein geltenden Prinzipien entsprechend Gesetze nicht rückwirkend angewandt werden können, auch wenn es sich um ein Verfassungsgesetz handelt. Doch in Nicaragua haben allgemein geltende Prinzipien ihre Gültigkeit verloren.

Verbannt, staatenlos, aber frei. Gott schreibt die Verse der Freiheit auf krummen Linien, doch mit gerader Schrift. Und dies ist gerade mal das erste Blatt. Die besten Seiten kommen erst noch. Sie nehmen ihnen die Staatsangehörigkeit, weil sie meinen, damit können sie die wütenden Fanatiker ruhig stellen, die blinden Anhänger, die Paramilitärs, die sich bei der Repression mit Blut besudelt haben und jetzt verwirrt sein müssen, sind sie doch an die Hasstiraden gewöhnt, die ihnen Tag für Tag eingehämmert werden, und denen zufolge diese Vaterlandsverräter, diese Terroristen, die im Jahre 2018 einen Putschversuch unternommen haben, nie wieder das Sonnenlicht erblicken sollten. Das war die offizielle Rhetorik: Verräter, Terroristen, Müll, Vaterlandsverkäufer. Sie haben die Freiheit wiedergesehen, wie das ganze Land sie eines Tages wiedersehen wird.

Alle politischen Gefangenen der Diktatur, sowohl diejenigen, die das Flugzeug bestiegen, das sie in die Verbannung brachte, als auch die 38, die blieben, sind vorbildliche Nicaraguaner*innen, die voller Würde über Monate die Isolation in Einzelzellen ertragen und aus dem Gefängnis den Ort ihres Kampfes gemacht haben, dem Gefängnis, wo sie nie hätten sein dürfen: Politische, Gewerkschafts- und Bauernführer*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Vertreter*innen der Privatwirtschaft, studentische Aktivist*innen, Jurist*innen, Universitätsdozent*innen, katholische Priester. Und sogar ein Bischof aus der Diözese von Matagalpa und Estelí, Monseñor Rolando Álvarez, eine wahrhaft prophetische Stimme, der sich weigerte, ausgebürgert zu werden und das Gefängnis vorzog: „Sie sollen frei sein, ich übernehme ihre Strafe“, sagte er. Sie alle waren in Haft wegen eines von Winkeladvokaten aus dem Ärmel gezogenen Vergehens: „Untergrabung der nationalen Souveränität“; einer von einem Ehepaar angeeigneten Souveränität, einer Familie an der Macht, einer alten revolutionären Partei, die zur Karikatur eines längst gescheiterten Traums geworden ist.

Es war immer klar, dass die politischen Gefangenen Geiseln waren

Nie hat man sie beugen können. Niemals senkten sie den Kopf vor den erbärmlichen Richtern bei den Orwell’schen Verhandlungen. Sie trugen ihre Gefängniskleidung, ohne dass es ihre Würde verletzte, und gaben einem Land ein Beispiel von Anstand, das mit Gewalt zum Schweigen gebracht worden ist und aus dem inzwischen Tausende über die grüne Grenze geflohen sind, auf der Flucht vor der Repression, vor dem Schweigen, vor der Angst. Ein Land, das noch nicht aus seinem langem Alptraum erwacht − nach einer Diktatur die nächste, noch schlimmere −, das ganz für sich allein heimlich feierte, als das Flugzeug mit den verbannten Gefangenen abhob; eine kleine Freude, auch wenn es weiß, dass es noch weit entfernt ist vom Ziel der Freiheit und Demokratie.

Es war immer klar, dass die politischen Gefangenen Geiseln waren. Angesichts der zunehmenden internationalen Isolierung wollte die Diktatur diese Verhandlungsoption behalten, die einzige, die ihr zur Verfügung stand, die Gefangenen im Tausch gegen etwas: die Aufhebung der wirtschaftlichen Sanktionen der USA, der Europäischen Union, der Schweiz, Kanadas und Großbritanniens. Sanktionen sowohl gegen staatliche Einrichtungen als auch öffentliche Unternehmen und regimetreue private Unternehmen, Funktionäre der Polizei und der Regierung sowie Angehörige der Familie des Diktators. Haben sie etwas davon erreicht? Noch ist nicht klar, was sie im Gegenzug erhalten haben. Der Charterflug mit den Gefangenen hatte den Dulles Airport in Washington zum Ziel, doch in einem Kommuniqué für den Kongress beeilte sich das State Department zu erklären, dass es sich um eine einseitige Entscheidung Ortegas gehandelt habe, „seine eigene Entscheidung“. Und er wird aufgefordert, weitere Schritte für die Wiederherstellung der Demokratie und der Freiheit in Nicaragua zu unternehmen, ohne dass dabei irgendein Handel zugegeben wird.

Ortega sagte in seinem öffentlichen Auftritt, nachdem die ausgebürgerten Gefangenen in Washington angekommen waren, dass es sich um eine einseitige Entscheidung seiner Regierung handele und es keine Verhandlungen gegeben habe. Er habe nur den US-Botschafter gebeten, sie abzuholen und sonst nichts.

Sehr seltsam und paradox. Erst kürzlich hatte er den mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador und den argentinischen Präsidenten Alberto Fernández ebenso brüsk zurückgewiesen wie den kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro, als sie ihn um genau dasselbe baten: die Gefangenen freizulassen. Und er beschuldigte sie sogar der Einmischung von außen, trotz der ideologischen Übereinstimmungen, die er mit ihnen zu haben vorgibt. Und jetzt gesteht er das, was er ihnen verweigerte, dem ewigen imperialistischen Feind zu? Wie soll man das verstehen?

Wie auch immer, die Diktatur steht jetzt mit leeren Händen da. Ihre beste Strategie wäre es gewesen, die Freilassung der Geiseln nach und nach auszuhandeln, statt sie alle auf einmal freizulassen, um noch Asse im Ärmel zu behalten. Ein schlechtes Zeichen, was sie anbelangt. Die Geiseln freizulassen ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Das zeigt der Diktator, indem er ihnen die Staatsangehörigkeit entzieht, eine letzte Rache, wo sie doch schon außer Reichweite seiner Klauen sind, als ob seine Dekrete und die Gesetze und Urteile seiner Statisten, Richter und Abgeordneten, ewige Gültigkeit hätten und Nicaragua für immer unter seiner Knute stünde. Diese Verbannten sind mehr Nicaraguaner*innen denn je.

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