VOM GENERALSTREIK ZU DEN WAHLEN 2022

Der Staat tötet Wandbild zur Erinnerung an die Getöteten des Generalstreiks 2020 am Tempelhofer Feld in Berlin (Foto: Jara Frey-Schaaber)

Der Streik in Kolumbien wurde Opfer seines eigenen Erfolgs, denn niemand hatte erwartet, dass er so weitreichend und lang anhaltend sein würde. Große Demonstrationen über einen Zeitraum von drei Monaten führten zu zahlreichen Veränderungen in der politischen Landschaft. Vier Minister wurden abgesetzt, Kolumbien verlor die Gastgeberschaft der Copa América, die Regierung musste zwei wichtige Reformen zurücknehmen und sich vor der internationalen Gemeinschaft für die Menschenrechtsverletzungen verantworten. Man kündigte eine Polizeireform an, deren größte Errungenschaft darin bestand, die Farbe der Uniformen von grün auf blau zu ändern. Die vielleicht einzige greifbare und dauerhafte Errungenschaft ist eine kostenlose öffentliche Universitätsausbildung für Menschen mit niedrigem Einkommen. Unter den Menschen jedoch herrscht das Gefühl, der Streik habe zu lange gedauert. Die Straßenblockaden hielten über Wochen an. Ohne klare Führungspersönlichkeiten gerieten Wut und Frustration außer Kontrolle, und schließlich verlor der Streik die breite Unterstützung in der Bevölkerung, die er zuvor genossen hatte.

Die Spitze des Streikkomitees, die sich zunächst aus Gewerkschaftsvertreter*innen und Studierenden zusammengesetzt hatte, erweckte den Anschein, ein autonomer politischer Akteur zu werden, der die Wahlen im Jahr 2022 beeinflussen könnte. Doch diese Illusion verblasste zusehend. Schließlich wurde die Streikbewegung so groß, dass sie keine Anführer*innen mehr anerkannte. Jede Gruppe beharrte auf ihren eigenen Forderungen: Die formalen, gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer*innen wollten ihren Status nicht verlieren; die Verzweifelten, die große Mehrheit, wollte in die Bewegung integriert werden. Diese zerfiel und die internen Spaltungen und Vorwürfe nahmen zu. Das Streikkomitee legte seine eigenen Forderungen vor, ohne die der großen Mehrheit zu berücksichtigen. Die marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen hatten keine sichtbaren Anführer*innen. Während die soziale Revolte in Chile neue Führungspersönlichkeiten hervorbrachte, die ihre Listen in den Verfassungskonvent einbrachten (siehe Artikel auf Seite 8), müssen die Protestierenden in Kolumbien auf bereits bestehende Koalitionen setzen, die sich der Regierung Duque entgegenstellen: Das Bündnis Pacto Histórico der Linken und die Coalición de la Esperanza der Mitte.

Für einige besteht kein Zweifel, dass die Zeit des Uribismus vorbei ist

Eine der Hauptforderungen der Streikenden waren Maßnahmen von Seiten Duques gegen die politische Gewalt in Kolumbien, die derzeit größte Bedrohung für soziale Bewegungen. Die Regierung Duque und ihre drei Verteidigungsminister verharmlosen die Verfolgung von Aktivist*innen und bestreiten, dass Morde politisch motiviert seien. Dabei stigmatisieren sie die Opfer und die Umstände ihres Todes. Nach Angaben des Instituts Indepaz wurden seit dem 28. April mehr als 80 führende Persönlichkeiten aus zivilgesellschaftlichen, bäuerlichen, indigenen und afrokolumbianischen Gruppen sowie aus Umwelt- und Menschenrechtsbewegungen ermordet – zusätzlich zu den mehr als 1.200 Aktivist*innen, die seit 2016 ermordet wurden. Eine regelrechte Vernichtung der Demokratie und sozialen Bewegungen.

Die politische Verfolgung trägt sich inzwischen sogar in kolumbianischen Organisationen in Europa zu. Vor einigen Tagen erhielt Karmen Ramírez Boscán, Vertreterin der Wayú-Indigenen und Mitglied der Partei Colombia Humana, zusammen mit anderen Aktivist*innen Morddrohungen aus der Schweiz. Es gibt außerdem Gerüchte, dass der jüngste Mord an dem in Genf lebenden Geflüchteten und Aktivisten Alfredo Camelo Franco mit den kolumbianischen Paramilitärs in Europa in Verbindung steht.

Die unabhängige Presse, die von der Unterdrückung des nationalen Streiks berichtete, ist ebenfalls Zielscheibe politischer Gewalt geworden. Der Journalist Alberto Tejada von Canal 2, der während der Proteste über die illegale Inhaftierung hunderter junger Menschen in geheimen Polizeigewahrsamzentren in Cali berichtete, erhielt Morddrohungen, mutmaßlich finanziell unterstützt von wohlhabenden Menschen aus Cali, wie mehrere Medien berichteten. Aus diesem Grund beantragte die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) vorsorgliche Maßnahmen zu seinem Schutz und dem seines Kameramanns. Auch der junge Journalist Christian Guzmán vom digitalen Medium La Direkta musste aus dem Land fliehen, nachdem er erfahren hatte, dass ein Mordanschlag auf ihn geplant war. Am 23. August wurde der Studierendenanführer und unabhängige Journalist Esteban Mosquera ermordet, der vor drei Jahren bereits ein Auge verloren hatte, als die Polizei ihn anschoss. Der Killer, der ihn von einem Motorrad aus erschoss, gestand, dass er dafür bezahlt worden war, den Journalisten zu töten, weil er „eine gefährliche Person für die Gesellschaft” sei.

Die Aktivist*innen werden auch gerichtlich verfolgt, insbesondere die der sogenannten primera línea (siehe Interview auf Seite 42). Während der heftigen Proteste rüsteten sich diese jungen Leute mit selbstgebauten Schilden und Tränengasmasken aus, mit denen sie sich gegen die Brutalität der Polizei wehrten. Heute sind schätzungsweise 165 von ihnen unter anderem wegen Vandalismus und Terrorismus verhaftet worden.

Ein weiterer Grund für die Unzufriedenheit mit Duque ist die Kooptation der Justiz durch die Ernennung seines persönlichen Freunds Francisco Barbosa zum Generalstaatsanwalt. Barbosa ist für seine Unfähigkeit bekannt, Ermittlungen voranzutreiben, die Duque mit dem Drogenhändler José Guillermo (El Ñeñe) Hernández in Verbindung bringen, der angeblich seine Präsidentschaftskampagne 2018 finanzierte. Überraschenderweise war Barbosa sehr effizient bei der Einleitung harmloser und medienwirksamer Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Duques Hauptgegner*innen wie die Bürgermeisterin von Bogotá, Claudia López, und den linken Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro.

Trotz allem gehen die Mobilisierungen weiter. Obwohl weniger Menschen auf die Straße gehen, sind die Vorwürfe nach wie vor schwer. Für den 20. Oktober rief das Streikkomitee zu einer Demonstration auf, bei der sie die Erneuerung des Gesundheitssystems und eine bessere Bezahlung von Ärzt*innen forderten. Ein Sprecher des Ausschusses verwies insbesondere auf einen Fall, in dem die Beschäftigten eines Rehazentrums über 33 Monate kein Gehalt bezogen.

Wenn die Regierung jedoch zu Beginn des Streiks keine wirkliche Verhandlungsbereitschaft gezeigt hat, besteht wenig Hoffnung, dass die Demonstrationen zu diesem Zeitpunkt etwas bewirken werden. Die gescheiterten Gespräche zwischen den sozialen Bewegungen und der Regierung von Iván Duque dauerten drei Wochen. Das allein genügte den Demonstrierenden, um zu erkennen, dass die Regierung absichtlich Zeit schindete, und sich vom Verhandlungstisch zurückzog. Man wollte warten, bis sich die Demontrationen auflösten. Duque ist inzwischen der unbeliebteste Präsident in der Geschichte Kolumbiens, rund 70 Prozent lehnen ihn ab. Das Gleiche gilt für Álvaro Uribe, ehemaliger Präsident und Parteivorsitzender des rechtskonservativen Centro Democrático (CD), dem auch Duque angehört. Angesichts der bevorstehenden Wahlen im Jahr 2022 führt ein solch negatives Image auch in der eigenen Partei zu einer heftigen Ablehnung des Präsidenten. Die Regierung ist so unpopulär, dass sich viele Abgeordnete angesichts der näher kommenden Wahlen um jeden Preis von Duque distanzieren wollen. Für einige besteht daher kein Zweifel, dass die Zeit des Uribismus vorbei ist.

Die Voraussetzungen für einen Machtwechsel sind gegeben

Doch der Weg für eine politische Alternative ist noch nicht frei, was vor allem an einem Aspekt liegt: Der bekannte Politikwissenschaftler Ariel Ávila, der jetzt für den Senat kandidiert, hat eindringlich vor möglichem Wahlbetrug im Jahr 2022 gewarnt. Seine Besorgnis dreht sich um die Registraduría – jene Behörde, die für die Organisation der Wahlen zuständig ist.

Unter anderem kritisiert er den Fluss von Bestechungsgeldern zur Veränderung der Stimmauszählung. Ein weiterer Grund zur Besorgnis sei, dass der Leiter der Behörde, Alexander Vega, eine Überprüfung der sieben Softwarepakete vom Privatunternehmen Thomas Greg and Sons, die zur Auszählung der Stimmen verwendet werden, verhindert hat. Das Unternehmen hatte bereits die Software für jede Wahl in Kolumbien seit 2009 geliefert und erfüllt somit als einzige eine umstrittene Anforderung: bereits in früheren Wahlen eingesetzt worden zu sein. Mit anderen Worten: Der Auftrag ist auf das Unternehmen zugeschnitten. Angesichts dessen haben Kandidat*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen die Entsendung von internationalen Wahlbeobachtungsmissionen gefordert, um gewisse Garantien zu gewährleisten. Einige führende Politiker*innen bestehen darauf, dass die Aufgabe der Bürger*innen in nächster Zeit darin bestehen solle, die Wahlen zu überwachen und die Transparenz des Prozesses zu kontrollieren. Die Besorgnis über die Transparenz des demokratischen Kampfes wächst.

Generell scheinen die Auseinandersetzungen zwischen der derzeitigen Regierung und den sozialen Bewegungen unversöhnlich zu sein.

Die Voraussetzungen für einen Machtwechsel sind gegeben: weit verbreitete Unzufriedenheit, eine unnachsichtige und isolierte Regierung, eine schwerwiegende Menschenrechtslage und zwei Oppositionskoalitionen, die immer stärker werden. Die tatsächlichen Folgen des nationalen Streiks werden jedoch erst bei den Kongress- und Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 sichtbar werden. Angesichts des Misstrauens gegenüber dem von Vega geleiteten Wahlregister scheint es, dass nur die sozialen Bewegungen und die alternativen politischen Sektoren die Transparenz des demokratischen Wettbewerbs garantieren können. Ebenso hängt die neue Zusammensetzung des Kongresses und der Regierung im Jahr 2022 davon ab, ob und wie die sozialen Bewegungen einen Ausweg aus der politischen Verfolgung und ein offenes Ohr für ihre Forderungen finden.

SIE ZOGEN DIE MASKE ÜBER, ALS DIE REGIERUNG IHRE ABLEGTE

Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr  (CC BY 2.0)

Als Don Nicolás Palacios Ortiz am 18. April das Haus verließ, trieb ihn die Sorge um, dass sein ohnehin mageres Einkommen noch weiter geschmälert würde, denn zwei Tage zuvor hatte Präsident Ortega per Dekret eine Rentenkürzung erlassen. Der 64-jährige Rentner wusste, dass die Rentner*innen von León an diesem Morgen auf die Straße gehen würden, um gegen die Reform und für ihre Rücknahme zu protestieren. Darum begab er sich zu der Sitzblockade vor dem Instituto Nicaragüense de Seguridad Social (INSS), der nicaraguanischen Sozialversicherung. Unter die Protestierenden mischte sich eine Gruppe radikaler Sandinisten. Zwei Männer packten Don Nicolás gewaltsam, so dass er zu Boden stürzte. Der alte Herr war nicht der Einzige, der angegriffen wurde. Ein in den sozialen Medien geteiltes und im Internetportal artículo66 veröffentlichtes Video zeigt, wie radikale Anhänger im Dienst der Regierung auch andere ältere Menschen verprügelten, Steine auf die Rentner*innen warfen und auf die Menschen, die sie unterstützten. In der Stadt Masaya wurde tags darauf ebenfalls ein Protestmarsch von Rentner*innen organisiert. Aber jetzt gingen sie nicht mehr alleine, wie in León, sondern wurden von anderen Bürger*innen begleitet. Dabei traten die ersten blau-weißen Fahnen in Erscheinung, die Nationalfarben Nicaraguas, die zum Ausdruck und Symbol der Protestbewegung wurden.

„Es ist wie ein Zustand innerer Gärung, das Ergebnis von wiederholten Rückschlägen, von Wut, Frustration und aufgestauten Erniedrigungen, die dazu führen, dass urplötzlich die Mauern der Angst verschwinden und hochentzündliche Dämpfe entstehen”, beschrieb unter dem Pseudonym Juanónimo − einer der vielen, die ihr Gesicht maskierten − die zu diesem Zeitpunkt bei vielen vorherrschende Gemütslage auf der Internetplattform Nicaragua Investiga.

In Stein gesprüht Freiheit geht nur noch ohne Ortega (Foto: Susanne Brust)

Die Bilder verprügelter Rentner*innen lösten Empörung im ganzen Land aus und trieben Tausende von Nicaraguaner*innen auf die Straße, darunter etliche Sandinist*innen, die schon an der Revolution der 1980er Jahre teilgenommen hatten. Dies veranlasste die Regierung die Reform teilweise zurückzunehmen. Aber jetzt ging es nicht mehr nur gegen die Reform des INSS, sondern um Freiheit und Demokratie in Nicaragua. Die Aktivistin Tamara Dávila, heute eine der mehr als 130 politischen Gefangenen, sagte im April 2021 rückblickend auf die Tage des 18. und 19. April 2018 in articulo66: „Die Bilder von der sandinistischen Jugend, die auf Rentner*innen, friedliche Demonstrant*innen und Journalist*innen einschlug, schürten die Flammen des April weiter”. Die Juventud Sandinista (JS) hat heute Ähnlichkeit mit den Jugendbanden in anderen Ländern Mittelamerikas, wo marginalisierte Jugendliche ganze Stadtviertel durch die Ausübung brutaler Gewalt kontrollieren. In Nicaragua nahm Vizepräsidentin Murillo sie unter ihre Fittiche, integrierte sie in die JS, die Murillo nach allgemeiner Überzeugung auch befehligt.

Urplötzlich verschwinden die Mauern der Angst

Auf die Gewaltakte gegen die Rentner*innen folgten aufwühlende Bilder angegriffener Studierender, die eine breite Öffentlichkeit erzürnten.

Medien berichteten von Unruhen in Masaya, wo die Bewohner*innen des Stadtviertels Monimbó zur Unterstützung der Student*innen gegen die Polizei rebellierten und sich ihr entgegenstellten. Letztere stürmte dort den Universitätscampus, was selbst während der Somoza-Diktatur nicht vorgekommen war. Die Student*innen versuchten, ihren Campus mit Steinen und selbstgefertigten Katapulten zu verteidigen.

Im April 2018 waren fast alle Universitäten des Landes in Aufruhr. In Managua hatten sich die Student*innen in den beiden Universitäten UPOLI und UNAN verbarrikadiert und leisteten Widerstand zur Verteidigung der universitären Unabhängigkeit. Viele Bewohner*innen der Stadtviertel rund um die Universitäten unterstützten die Student*innen und deren regierungsfeindlichen Protestaktionen.

Auch in anderen Städten war der Großteil der Bevölkerung mobilisiert, angeführt von Jugendlichen und Student*innen besetzten Städter*innen Straßen und öffentliche Orte wie die Universitäten. Die Regierung ließ mit Kriegswaffen ausgerüstete Paramilitärs auf die Menschen los und die Polizei setzte Tränengas, Gummigeschosse und Betäubungsgranaten ein, wie artículo66 berichtete.

In den Stadtvierteln schüchterten die JS und paramilitärische Banden in Pickups die Bewohner*innen ein, die davon überzeugt waren, dass diese von der Regierung geschickt wurden. Diese Pickups, voll besetzt mit vermummten, bewaffneten Gestalten in Kampfanzügen, sollten zum Hass- und Angstobjekt der Bewegung werden.

Die von der Regierung organisierte Gewalt gegen die autoconvocados brach sich ungehindert Bahn. Auf Nicaragua Investiga äußerte Juanónimo fassungslos: „Wie kann man mit so einem Hass regieren? Welche geistige Verfassung kann zu dem Befehl veranlassen, die Krankenhaustore für junge Leute zu schließen, die verbluteten? Oder dazu, Ärzte nur deswegen zu entlassen, weil sie verletzte Demonstranten behandelt hatten? Und selbst als die „Säuberungsaktionen” schon abgeschlossen waren, noch weiterhin die Menschen verfolgten, bedrohten, entführten und folterten?”

Zwischen dem 23. April und dem 9. Mai 2018 fanden in Managua drei große Demonstrationen statt. Zu diesem Zeitpunkt schlossen sich die Landwirt*innen, die seit fünf Jahren gegen Ortegas Kanalprojekt kämpften, dem Aufstand an und begannen, Straßensperren zu errichten, die Hauptverkehrsadern und die wichtigsten Landstraßen blockierten. In Dutzenden von Städten verbaute die ansässige Bevölkerung erreichbares Baumaterial zu Barrikaden. Ende Mai offenbarte die Topografie des Landes mehr als 100 Straßensperren und unzählige Barrikaden.

Am 30. Mai befahl die Regierung den Sicherheitskräften die größte Demonstration in der Geschichte des Landes anzugreifen, wobei ein Dutzend Menschen getötet wurden. Was als friedliches Fest begann, endete in einer beispiellosen Gewaltorgie, die der Journalist Carlos Salinas Maldonado in Confidencial wie folgt beschreibt: „Einer nach dem anderen fiel auf das Pflaster. Einer von ihnen vor den Augen der eigenen Mutter. Kugeln regneten auf eine blau-weiße Flut (Farben der Nationalflagge Nicaraguas, Anm. d. Red.), die stolz darauf, ihre vom Hass gekaperte Stadt zurückzuerobern, voranschritt. Einer nach dem anderen fielen die jungen Leute“.

Zwischen Juni und Juli 2018 sah die Regierung die Zeit für die Niederschlagung des Aufstands gekommen. Es begann die „Operation Säuberung”, deren Ziel die Überwindung der Straßensperren war. Wie eine Besatzungsmacht tauchten Polizei und Paramilitärs in jeder Gemeinde auf. Sie schossen auf alle, die sich auf der Straße bewegten. Der Angriff auf die Verteidiger*innen der Tag und Nacht besetzten Straßensperren und Barrikaden, die sich mit selbstgefertigten Katapulten, einigen Jagdwaffen und automatischen Gewehren zu verteidigen suchten, war völlig unverhältnismäßig. Begleitet wurde die Aktion von Räumfahrzeugen, um die mit Pflastersteinen, Steinblöcken oder anderem Material errichteten Hindernisse zu zerstören − die Symbole der Rebellion fielen, die zur Verteidigung von der Bevölkerung errichtet worden waren, um der Polizei und den Paramilitärs das Eindringen in die widerständigen Viertel und Gemeinden zu erschweren. Auch die Kirchen wurden nicht verschont, wo die Menschen Schutz gesucht hatten oder medizinisch versorgt wurden.

Der Direktor der Amerikaabteilung von Human Rights Watch, José Miguel Vivanco, fand zu den „Säuberungen” die folgenden Worte: „In den 30 Jahren, in denen ich die Menschenrechtssituation in verschiedenen Ländern der Welt beobachte, habe ich noch nie so etwas gesehen wie das, was wir in Nicaragua erleben. Nirgendwo sonst haben wir gemeinsame Aktionen von Polizei und schwer bewaffneten Schlägern erlebt, die von Gemeinde zu Gemeinde durchs Land zogen, schossen, entführten und dann auf den Straßen feierten, als hätten sie einen Kriegsgegner besiegt.”

Die „Säuberung” fand auch auf institutioneller Ebene statt: Entlassung von Staatsbediensteten, die als nicht mehr zuverlässig galten; willkürliche Entfernung von medizinischem Personal aus öffentlichen Krankenhäusern, das verletzte Menschen während der Proteste behandelt hatte. Tausende von Student*innen mussten die Universitäten verlassen, viele flohen ins Ausland, andere wurden inhaftiert und Hunderte exmatrikuliert.

In den Monaten des Aufstands wurden Dutzende von Personen verhaftet und strafrechtlich verfolgt. Führende Aktivist*innen der Bäuer*innenbewegung, der sozialen Bewegungen, der Student*innen oder des Oppositionsbündnisses Bürgerallianz wurden auf der Straße oder zu Hause meist ohne Haftbefehl festgenommen und in Gerichtsverhandlungen hinter verschlossenen Türen auf der Grundlage fabrizierter Anklagen zu Höchststrafen verurteilt.

Polizei und Schläger feierten als hätten sie einen Kriegsgegner besiegt

Ex-Gefangene berichten von in der Haft erlittener physischer Folter und die nicaraguanische Feministin Teresa Blandón bestätigte in einem Interview mit LN im Mai 2019 (siehe LN 539), dass Frauen und auch einige Männer in den Gefängnissen vergewaltigt wurden: „Diese und andere abscheuliche Erfahrungen haben Frauen in den Gefängnissen erlebt.”

In dem nach der großen Protestwelle im April und Mai 2018 einsetzenden politischen Organisationsprozess der Opposition erlangten zunehmend rechte Kräfte und die traditionellen bürgerlichen Eliten die Vorherrschaft. Diese Entwicklung hat viele Illusionen der autoconvocados und der sozialen Bewegungen begraben. Dennoch fürchtet die Wirtschaftselite des Landes eine authentische soziale Bewegung mehr als das tyrannische System eines Ortega, mit dem man notfalls würde verhandeln können. Doch spätestens ab Juli 2018 waren aufgrund der Repression keine größeren öffentlichen Protestaktionen mehr möglich.

Der US-amerikanische Sozial- und Politikwissenschaftler William I. Robinson resümiert im August 2021 in der lateinamerikanischen Informationsagentur alai: „Die traditionelle Elite genießt die Unterstützung internationaler rechter Kräfte, die mit dem sandinistischen Monopol der politischen Macht nie zufrieden waren und die den Aufstand nutzen wollen, um die Macht wiederzuerlangen”. Die Situation der jungen Menschen, die 2018 ihre Empörung auf die Straße trugen und die meisten Todesopfer stellen, ist heute als tragisch zu bezeichnen: Für Ortega sind sie gescheiterte Putschisten, für die bürgerliche Opposition waren sie Aushängeschilder und Spielfiguren des Wandels, die dieser den Weg geebnet haben, den sozialen Prozess in Richtung der eigenen Interessen umzulenken.

REPRESSION OHNE GRENZEN

“Gerechtigkeit” Die Gesichter der Opfer von Menschenrechtsverletzungen an einer Hauswand in Santiago (Foto: Ute Löhning)

Eine Folge der Repression gegen die sozialen Proteste in Chile seit Oktober 2019 waren Tote und Verletzte, viele Menschen erlitten Augenverletzungen, es gibt Berichte über Folter durch Polizeikräfte. Wie haben Sie bei CODEPU diese Zeit erlebt?
Die Menschen kannten CODEPU noch aus Zeiten der Diktatur, als wir, wie auch die Vicaría de la Solidaridad, uns der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen annahmen. Nach dem Beginn der Revolte 2019 kamen sofort zahllose von Polizeiübergriffen Betroffene zu uns. Wir besuchten Festgenommene in Polizeidienststellen und Verletzte in den Krankenhäusern. Wir begannen die Informationen zu systematisieren und errichteten eine eigene – informelle – Gesundheitsstation, in der wir Verletzte betreuten und an Krankenhäuser weiterleiteten. Diese Arbeit führen wir bis heute fort. Wir haben bislang etwa 200 Strafanzeigen wegen Menschenrechtsverletzungen gestellt. Und wir vertreten etwa 60 Menschen anwaltlich, die während der Proteste verhaftet wurden.

Wie verlaufen die Strafverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen der staatliche Sicherheitskräfte begangen wurden? Gibt es Verurteilungen?
Seit dem 19. Oktober 2019 wurden tausende Strafanzeigen gestellt. Bislang gibt es erst vier verurteilte Polizisten. Eine dieser Verurteilungen – wegen Folter an einem Demonstranten aus Lo Hermida – haben wir erreicht. Doch die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Wir stellen leider fest, dass die Staatsanwaltschaft mit zweierlei Maß misst: Bei Vorwürfen gegen Protestierende wird schnell und eingehend ermittelt, es gab zahlreiche Verurteilungen und viele Beschuldigte sitzen über lange Zeit in Untersuchungshaft.

Bei Ermittlungen gegen Angehörige der staatlichen Sicherheitskräfte ziehen sich dagegen die Verfahren in die Länge, etwa 40 Prozent der Untersuchungen wurden eingestellt. Staatliche Stellen, die diese Verfahren unterstützen sollten, wie das gerichtsmedizinische Institut SML, wurden personell nicht aufgestockt und sind überfordert. So werden beispielsweise bei Foltervorwürfen notwendige forensische Gutachten verzögert. Das erschwert die Beweis-*führung, führt zu Frustration bei den Betroffenen und einem Glaubwürdigkeitsverlust des Justizsystems.

Sitzen mutmaßliche Täter*innen aus den Reihen der Polizei in Untersuchungshaft?
Einige Wenige. Beispielsweise führen wir Nebenklage im Fall eines am 23. Oktober 2019 in Buin verhafteten Demonstranten, Mario Acuña. Er wurde nach seiner Festnahme von sechs Polizisten schwer verletzt und gefoltert. Seit März dieses Jahres befinden sich nun drei Beschuldigte in Untersuchungshaft. Das ist ein großer Erfolg, denn wir beobachten, dass in vielen sehr bekannten Fällen, wie Gustavo Gatica oder Fabiola Campillay, die ihr Augenlicht verloren haben, die Beschuldigten unter Auflagen auf freiem Fuß sind. Wir hoffen, dass im Fall von Mario Acuña bei der anstehenden Haftprüfung die Untersuchungshaft der Beschuldigten aufrecht erhalten wird. Sie sind eine Gefahr für die Gesellschaft, sie haben im Verfahren nachweislich gelogen und die Ermittlungen behindert. Im Moment sind sie zumindest vom Polizeidienst suspendiert.

Wie viele der verhafteten Demonstrant*innen sitzen derzeit in Untersuchungshaft?
Es gab bis vor einiger Zeit um die 2500 politische Gefangene. Die Anzahl ist nun zurückgegangen, gegenwärtig sitzen noch etwa 70 politische Gefangene in Untersuchungshaft. Von den Gefangenen, die CODEPU vertritt, sind im Moment noch zwei inhaftiert. Wir haben vielfach eine Aufhebung der Untersuchungshaft beantragt. Doch obwohl keinerlei Beweise gegen sie vorliegen, sitzen sie weiterhin im Gefängnis. Das sind keine Einzelfälle: Viele Beschuldigte werden trotz fehlender Beweise nicht aus der Untersuchungshaft entlassen.

Auf politischer Ebene wird derzeit über ein Amnestiegesetz für die politischen Gefangenen debattiert. Wie steht CODEPU dazu?
Wir unterstützen die Forderungen nach einer Amnestie. In einer Stellungnahme haben wir den verfassungsgebenden Konvent dazu aufgefordert, die Problematik der politischen Gefangenschaft zu behandeln. Das Parlament hat eine Abstimmung über den Gesetzesentwurf für eine Amnestie bislang immer wieder verzögert. Formell handelt es sich bei dem Gesetzesentwurf um eine Begnadigung. Es sollen jedoch sowohl bereits Verurteilte wie auch Beschuldigte einbezogen werden, es handelt sich also letztlich um eine Amnestie. Vor einigen Tagen haben Angehörige der politischen Gefangenen einen Hungerstreik begonnen, der so lange aufrechterhalten werden soll, bis das Parlament darüber abstimmt. Ursprünglich gab es weitreichende Unterstützung im Parlament. Jetzt sieht es so aus, als würde eine Abstimmung bis nach den Wahlen hinausgezögert, das wäre kein gutes Zeichen.

Was bedeutet das für die politischen Gefangenen?
Die Gefangenen leiden körperlich und psychisch unter den schlechten Haftbedingungen, die internationalen Standards zuwiderlaufen. Es ist ein Wunder, dass es unter diesen Umständen noch zu keinen Corona-Erkrankungen unter ihnen kam. Viele der Gefängnisse in Chile werden von privaten Unternehmen verwaltet, die Mindeststandards nicht einhalten. Wir haben beim Rechnungshof eine Beschwerde eingereicht, damit der Staat regulierend eingreift und menschenwürdige Haftbedingungen garantiert.

Im vergangenen Juli waren Sie als Vertreterin von CODEPU Teil der internationalen Beobachtungsmission SOS Colombia, die während der sozialen Proteste in Kolumbien begangenen Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und darüber einen Bericht verfasst hat. Wie waren Ihre Erfahrungen in Kolumbien?
Vor SOS Colombia haben andere Beobachter*innen Kolumbien besucht: Eine Delegation der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) sowie eine argentinische und eine katalanische Delegation. Sie besuchten einzelne Regionen und waren nur wenige Tage im Land. Unsere Delegation bestand aus 41 Mitgliedern aus 14 Ländern und war vom 3. bis 23. Juli in elf Regionen Kolumbiens unterwegs. Dort konnten wir an geschützten Orten etwa 180 Zeug*innen befragen.

Während der drei bis vier vorangegangenen Monate waren etwa 7.000 Menschen Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden. 8.500 wurden festgenommen, mehr als 800 Menschen sind verschwunden oder ihr Aufenthaltsort war zeitweilig nicht bekannt. Wenn dieses Ausmaß an Staatsterrorismus anhält, kann das zu hunderttausenden von Opfern führen.

Sowohl in Kolumbien als auch in Chile wurden die Proteste von staatlicher Seite als „Krieg“ bezeichnet und von internen Feinden gesprochen. Welche Unterschiede und Parallelen gibt es bei der Repression gegen die sozialen Proteste in beiden Ländern?
Bei den Menschenrechtsverletzungen in Chile und Kolumbien gibt es ähnliche Verhaltensmuster der Sicherheitskräfte. Es ist beispielsweise kein Zufall, dass es in Kolumbien, Chile und auch in Ecuador zahlreiche Augenverletzungen gab. In Chile gab es in den beiden vergangen Jahren 500 Opfer von Augenverletzungen. In Kolumbien waren es in drei Monaten bereits 114 Opfer. Auch in Ecuador wurden während der sozialen Proteste mehr als 80 Menschen an den Augen verletzt.

Ich denke, es gibt eine Politik des Staatsterrorismus, die darauf abzielt, die Demonstrierenden zu bestrafen, um die Proteste einzudämmen. In Zeiten der Diktatur sollten die Proteste ganz unterbunden werden. Heute geht es darum, die Zahl der Protestierenden zu verringern, indem ihnen Schmerzen zugefügt werden, indem sie verängstigt werden. Durch jede*n verletzte*n Demonstrierende*n wird Angst geschürt und weniger Menschen beteiligen sich am Protest.

Gibt es auch strukturelle Gemeinsamkeiten?
Chile und Kolumbien erhalten ihre Waffen von denselben Firmen und es sind Sicherheitskräfte aus diesen beiden Ländern, die Schulungen für Polizeikräfte in der gesamten Region durchführen. In beiden Ländern gab es bisher keine Polizeireform. In Chile agiert heute dieselbe Polizei wie zu Zeiten der Pinochet-Diktatur. Die ESMAD (Aufstandsbekämpfungseinheit der kolumbianischen Polizei, Anm. der Red.) wird auf der Grundlage eines Diskurses des „inneren Feindes“ für die Aufstandsbekämpfung instruiert.

Beide Organisationen werden nicht dafür ausgebildet, friedliche soziale Proteste zu begleiten. Ich denke, der Ursprung dieser Haltung liegt in der Escuela de las Américas (Schulungszentrum der USA für lateinamerikanische Polizeikräfte während der lateinamerikanischen Diktaturen, Anm. d. Red.) und dass diese Kooperation in den 1990er Jahren vertieft wurde.

Waren an den Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien und Chile extralegale Gruppen beteiligt, wie Paramilitärs oder andere bewaffnete Einheiten?
Ja, es gibt neben der Nationalpolizei und der ESMAD eine Reihe weiterer extralegaler Gruppen, die in Koordination mit Mitgliedern der Polizei Aktivist*innen einschüchtern und bedrohen. Das gibt es auch in Chile, zum Beispiel die paramilitärische Gruppe APRA, eine faschistische Gruppe, die vor allem in Wallmapu – den Mapuche-Territorien – aktiv ist. Die Aktivitäten solcher Gruppen haben sich dem Beginn der Revolte verstärkt, sie versuchen, Selbstjustiz zu üben, bleiben meist straflos und werden von Polizeikreisen gedeckt.

In Kolumbien sind solche extralegalen Gruppen noch weiter verbreitet. Letztlich agiert die Regierung dort gegen die Bürger*innen und die Institutionen funktionieren schlechter als in Chile. Beispielsweise gibt es in Kolumbien im Bezug auf gewaltsames Verschwindenlassen ein Warn- und Suchsystem. Dieses hat jedoch während der Proteste bei mehr als 800 Fällen von Verschwundenen vollständig versagt. Auch die Staatsanwaltschaften wurden nicht aktiv. Was die Institutionen angeht, sind wir in Chile einen Schritt weiter.

Es heißt, dass sich viele neue soziale Akteur*innen an den Protesten beteiligen. Welche Menschen gehen in Chile und Kolumbien auf die Straße?
Es gibt eine Reihe von neuen sozialen Akteur*innen in diesen Protestbewegungen, die nicht alle gleichermaßen von staatlicher Gewalt betroffen sind. Zu den wichtigsten Akteur*innen zählen in beiden Ländern die Aktivist*innen der primera línea, die besonderer Gewalt und Verfolgung ausgesetzt waren und sind. Unter den Opfern von Menschenrechtsverletzungen in beiden Ländern gab es viele Schüler*innen und Studierende, auch viele politisierte Fußballfans. Die Repression richtete sich gegen queere Menschen, gegen Migrant*innen, gegen medizinische Versorgungsposten auf den Demonstrationen. Besonders stigmatisiert und kriminalisiert wurden auch unabhängige Journalist*innen, die Übergriffe dokumentierten. Ihre Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen war oft nützlich für Strafanzeigen und Ermittlungen. Hier in Chile gab es fünf Fotograf*innen beziehungsweise Kamaraleute, die ein Auge verloren haben.

Der Abschlussbericht von SOS Colombia enthält eine Reihe von Empfehlungen. Welche würden Sie hervorheben?
Zu den besonders dringlichen Empfehlungen gehört die Demilitarisierung der Polizei. Sie sollte nicht mehr dem Verteidigungsministerium unterstehen. Außerdem sollten reale Verhandlungen zwischen dem kolumbianischen Staat und den an den Protesten beteiligten Gruppen geführt werden. Es gab bislang etwa elf Dialogrunden, die ergebnislos beendet wurden. Ebenfalls dringlich sind ein besserer Zugang zur Justiz, eine umfassende Entschädigung der Opfer sowie Garantien, dass sich das Vorgehen nicht wiederholt. Es sollte eine Untersuchungskommission zur Straflosigkeit von Akteur*innen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, gegründet werden. Ausländische Investor*innen sollten zur Bedingung machen, dass die staatliche Gewalt endet und die Arbeitsgesetze eingehalten werden. Und als internationale Gemeinschaft sollten wir die Menschenrechtsverletzungen sichtbar machen, um Druck auf die kolumbianische Regierung auszuüben.

„WIR WERDEN WEITER AUF DIE STRASSE GEHEN“

Mit Helm und Schild Die Protestierenden versuchen, sich gegen die Polizeigewalt zu schützen (Foto: Antonio Cascio – @antonio.photografree

Juan, du bist seit Anfang an beim Generalstreik dabei. Was waren deine Beweggründe, dich bei den Protesten zu engagieren?
Wir waren an der Universität von Cali schon vier Tage vor den landesweiten Protesten im unbefristeten Streik, um Unireformen und einen Dialog mit dem Rektor und der Stadtregierung zu fordern. Ab dem 28. April begann dann der landesweite Generalstreik gegen die Steuerreformen. Als die Regierung die Reform ankündigte, merkte ich: Verdammt, die Erhöhungen betreffen mich ganz persönlich, obwohl ich nicht so viel Geld habe. Die Regierung will einen Kredit beim Internationalen Währungsfonds beantragen und braucht dafür die Einnahmen aus der Steuerreform als Rückzahlungssicherheit. Das gleiche Prinzip gilt auch bei der Gesundheits-, Arbeits- oder Rentenreform: Jetzt, wo kein Geld mehr da ist, wird das Volk zur Kasse gebeten. Die Reformen treffen besonders die Menschen, die durch die Pandemie eh schon in eine soziale Notlage geraten sind und das ist ein weiterer Grund für mich, zu demonstrieren.

Was sind nun die Forderungen der Streikenden gegenüber der Regierung?
Es gibt eine sehr breite Mobilisierung mit unterschiedlichsten Menschen. Im Streik haben sich einzelne Gremien herausgebildet und jedes Gremium hat seine eigenen Bedürfnisse und historischen Unterdrückungserfahrungen. Die Liste an Forderungen ist also sehr lang und divers. Alle Gremien vereint jedoch die Forderung nach der Einhaltung unserer Grundrechte: Das Recht auf Leben, das nicht respektiert wird. Demokratie, weil Kolumbien nicht wirklich eine ist. Ein Gesundheitssystem, das würdevoll und gerecht ist und die Menschen nicht vor dem Krankenhaustor sterben lässt. Ein echter Zugang zu Bildung und Studienplätzen auch für Jugendliche mit wenig Einkommen. Demonstrationsfreiheit, denn es ist klar geworden, dass wir noch nicht einmal das Recht haben, unsere Stimme zu erheben, sondern stattdessen mit Schüssen zum Schweigen gebracht werden sollen. Nicht nur die Polizei schoss auf die Demonstrationen, sondern auch zivile Leute, die sich ciudadanos de bien (dt. „die guten Bürger“, Anm. d. Red.) nennen. Das sind privilegierte Menschen aus den Reichenvierteln, die die indigene Protestbewegung hier in Cali beschossen.

Die Bilder und Berichte über die Gewalt waren schockierend. Was sind eure Strategien, um der Repression zu begegnen?
Der wichtigste Schutz gegen die Polizeigewalt ist, sich das Gesicht zu verdecken und unerkannt zu bleiben. Das gilt nicht nur in der ersten Reihe der Proteste. Die Polizei filmt uns mit Drohnen oder Hubschraubern und verfolgt dann gezielt einzelne Leute; das haben viele von meinen Mitstreiter*innen erlebt. Gegen die Angriffe mit Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschossen – die angeblich nicht tödlich sind, aber wenn du sie an den Kopf bekommst, sind sie tödlich – versuchen wir uns mit Blechschilden und Steinen zu verteidigen. Das ist unsere Rüstung. Unsere Stärke ist der Wille, einen echten Wandel im Land zu bewirken.

Ein wichtiger Teil der Proteste sind sogenannte Dialoggruppen, in denen die Bevölkerung über den Streik aufgeklärt werden soll. Wie kam es zu der Idee?
Nachdem die Nachricht kam, dass die Steuerreform fallen gelassen wurde, fragten viele Leute, warum wir weiter protestieren. Über die Dialoggruppen erklärten wir, dass die Reform in Wirklichkeit nur vorerst zurückgezogen wurde, um nach ein paar Änderungen wieder verabschiedet zu werden. Die Gruppen sind auch ein Mittel gegen die Stigmatisierung der Proteste: Zuerst behauptete die Regierung, dass der Präsident­schafts­kandidat Gustavo Petro die jungen Leute zu Protest und Vandalismus anstachele, was nicht stimmt. Außerdem sagt die Regierung, dass Dissidentengruppen der FARC und die Guerilla ELN ihre Hände bei den Protesten im Spiel hätten. Auch das ist eine Lüge. Seit wir protestieren, bin ich fast jeden Tag auf der Straße gewesen und habe nie etwas gesehen, das nur ansatzweise mit der Guerilla zu tun hat. Deswegen haben wir angefangen, die Menschen über uns aufzuklären.

Es gibt vermehrt Berichte darüber, dass die Regierung die Proteste infiltriert. Von was für Erfahrungen kannst du berichten?
Einige von uns haben von der Polizei Geld angeboten bekommen, um zu randalieren oder gezielt Geschäfte anzuzünden. Das macht die Polizei, damit sie einen Vorwand hat, um gegen uns vorzugehen. Das einzige abgebrannte Gebäude hier im Umkreis ist ein Lager, das von der ESMAD (Aufstandsbekämpfungseinheit der Polizei, Anm. d. Red.) angezündet wurde. Als es brannte, sind wir alle zusammen dorthin gegangen, um den Leuten klarzumachen, dass wir nichts damit zu tun haben und gar nicht vor Ort waren. Diese Sachen haben uns gezeigt, wie die Desinformation zunimmt. Schon im vorherigen Generalstreik im November 2019 wurde Chaos gesät und die Jugendlichen wurden als Vandalen und Guerilleros bezeichnet, sodass die gewöhnlichen Leute aufhörten, zu protestieren. So wurden wir damals zum Schweigen gebracht.

Wie wollt ihr dieses Mal verhindern, dass das wieder passiert?
Neben den Dialoggruppen haben wir auch Angebote für Kinder und Jugendliche geschaffen. Die abgebrannten Polizeiposten haben wir repariert und in ihnen Bibliotheken und Gemeinschaftsräume für Familien errichtet. In ganz Cali gibt es Kunstinterventionen wie die Band Resistencia Brass, die die verschiedenen Streikpunkte ablaufen, um mit Musik die Streikenden zu motivieren. Am Streikposten Puerto Resistencia (Hafen des Widerstands, Anm. d. Red.) gibt es mittlerweile eine Gruppe von Müttern, die mit ihren Schilden an erster Front stehen und die Bevölkerung vor der Polizei schützen. Leider wurde auch gegen sie sehr hart vorgegangen. Aber es formieren sich immer mehr solcher Gruppen, die helfen und unterstützen. Eine der Gruppen, die die Demonstrationen mit am stärksten unterstützt, sind die Ultras unterschiedlicher Fußballclubs. Die hassen sich normalerweise, doch jetzt sieht man sie mit ihren Trikots Arm in Arm demonstrieren und gemeinsam kämpfen. Es ist magisch zu sehen, wie sich das Volk eint und langsam diesen urbanen Krieg zwischen verschiedenen Sektoren überwindet.

Wie stehen die Perspektiven für einen Dialog mit der Regierung?
Die bisherigen Dialoge waren eine Lüge und haben nichts bewirkt. Als der Präsident zum Verhandeln in ein Stadion einlud, kamen alle jungen Leute der primera línea (erste Reihe, Anm. d. Red.), aber der Präsident meinte es nicht ernst. Es kann nicht sein, dass sie junge Leute in diesem Stadion festhalten und ablenken, während draußen Leute getötet werden und sie die Anwesenden im Nachhinein bis zu ihren Häusern verfolgen, um sie festzunehmen. Solange unser Recht auf Leben nicht respektiert wird, werden wir weiter auf der Straße sein.

Also hat die Regierung nicht den Willen, auf die Jugendlichen zuzugehen, um zu verhandeln?
Nein, auf keinen Fall. Stattdessen tauchen Jugendliche, die von der Polizei festgenommen wurden, als Leichen im Río Cauca wieder auf und wir sind wieder in Zeiten, in denen Menschen gefoltert werden und gewaltsam verschwinden. Da sehe ich die angebliche Bereitschaft der Regierung zu verhandeln, nicht.

Und wie glaubst du, wird es jetzt weitergehen?
Der internationale Druck auf die Regierung ist bereits jetzt sehr stark, und der Internationale Gerichtshof in Den Haag und Menschenrechtsorganisationen verschiedener Länder werden ihn noch erhöhen, wenn die Regierung uns weiter unterdrückt. Die Regierung wird ernsthafte Dialoge mit uns führen müssen. Aber das geht nur mit einer grundlegenden Reform des politischen Systems, der Polizei und des Militärs. Wir werden so lange weiterkämpfen, bis ein Wandel stattfindet. Wir fordern außerdem, dass eine rechtliche Möglichkeit geschaffen wird, den Präsidenten auch wieder abzuwählen. Denn es ist nicht gerecht, dass der Präsident immer noch im Amt ist, obwohl mehr als die Hälfte der Bevölkerung ihn nicht mehr will. Ich hoffe, dass wir in Zukunft mehr Macht haben werden, darüber zu entscheiden, wie und von wem wir regiert und wie wir behandelt werden.

Nachtrag: Juan Quintero wurde in den Tagen nach dem Interview festgenommen und von der Polizei misshandelt. Mittlerweile ist er, dank der Unterstützung eines Anwaltskollektivs, wieder frei.

KONKURRENZLOS

Wer zur Zeit des Diktators Somoza (bis 1979) das herrschende politische System Nicaraguas benennen wollte, sprach von einem „Land im Familienbesitz“. Heute ist es die Familie Ortega-Murillo, die gleichsam auf ein solches System zusteuert. Dem ehemaligen Revolutionär Daniel Ortega, der weiß, dass Diktaturen fallen können, hat die massive Protestwelle vom April 2018 gezeigt, dass auch seine Macht zerbrechlich ist. Um dem Risiko seiner Absetzung durch den Willen der Wähler*innen am 7. November 2021 zuvor zu kommen, hat er mit einer überwältigenden Parlamentsmehrheit der FSLN (Sandinistische Nationale Befreiungsfront) einen institutionellen und gesetzlichen Rahmen geschaffen, der geeignet ist, Kandidat*innen, die für politischen Wandel stehen, von den Wahlen fernzuhalten und das Recht der Bürger*innen, frei und geheim zu wählen, zu behindern.

Das Jahr 2021 begann mit der Verabschiedung einer Verfassungsreform und einer ganzen Reihe repressiver Gesetze: darunter das Gesetz über Cyber-Kriminalität, das Gesetz zur Einstufung von Bürger*innen als „ausländische Agenten“, das Gesetz „zur Verteidigung der Rechte des Volkes auf Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung für den Frieden”. All diesen Gesetzen ist gemeinsam, dass Personen, die mit ihnen in Konflikt geraten, nicht mehr für ein öffentliches Amt kandidieren oder diese ausüben dürfen (siehe LN 558, LN 560). Für die aktivistischen Gegner*innen der Regierung ist es kaum zu vermeiden, für eines der zahlreichen „Vergehen” beschuldigt zu werden.

Bei einer von der Opposition geforderten umfassenden Wahlrechtsreform müsste der Oberste Wahlrat völlig neu strukturiert werden, um seine Unabhängigkeit und Transparenz sicherzustellen. Gleiches gilt neben anderen Maßnahmen für die Aktualisierung des Wähler*innenverzeichnisses und die Zulassung nationaler und internationaler Wahlbeobachtung.

Ortega besetzt Obersten Wahlrat mit Richter*innen aus den eigenen Reihen

Stattdessen besetzte Ortega kurz vor Eröffnung der Wahlperiode am 6. Mai den Obersten Wahlrat (CSE) mit loyalen Richter*innen aus den eigenen Reihen und führte Wahlgesetzreformen ein, die die Empfehlungen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ignorieren und für die Parteien noch größere Einschränkungen bedeuten.

Am 17. Mai entzog der CSE der Konservativen Partei (PC) ihren legalen Status und am 18. Mai der Partei der Demokratischen Wiederherstellung (PRD). Im Fall der PRD, die Teil der Nationalen Koalition (NC) ist, einer der beiden rivalisierenden Oppositionsblöcke, die versuchen, Daniel Ortega bei den Wahlen im November zu besiegen, ging die Annullierung des Rechtsstatus auf Betreiben einer Gruppe evangelikaler Pastoren zurück. Diese machten gegenüber dem CSE geltend, dass sich die Partei von den Grundsätzen der Bibel abgewandt habe. Zum Vorgehen der Evangelikalen schreibt der Journalist Onofre Guevara López in der Internetzeitung Confidencial: „Ihre ‚Werte‘ haben nur in ihrem politischen Diskurs einen ‚religiösen Anflug‘, denn indem sie von sich behaupten ‚für das Leben‘ zu sein, beschuldigen sie (…) die feministischen Organisationen ‚gegen das Leben‘ zu sein und beziehen sich dabei auf deren Kampf für die therapeutische Abtreibung, um das Leben von Müttern zu retten.“

Mit der Unterstützung durch die Evangelikalen ist Ortega seinem Ziel näher gekommen, die in dem Einheitsbündnis UNAB zusammengeschlossenen zivilgesellschaftlichen Organisationen dem Wahlprozess fernzuhalten. Ebenjenen, denen er zutraut, dass sie seinen Verbleib an der Macht gefährden könnten. Insbesondere die Frauenbewegung hat sich mit ihren Forderungen nach Legalisierung der Abtreibung, ihrem Kampf gegen Feminizide und für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen zu einer Erzfeindin der Regierung Ortega-Murillo gemacht.

Als einzige oppositionelle Partei konnte sich die konservative Partei Bürger für die Freiheit (CxL) beim CSE registrieren lassen. Die CxL gehört der oppositionellen Plattform Bürgerallianz für die Freiheit an, in der die politische Rechte ebenso wie Vertreter*innen des Großkapitals zusammenkommen. Erst nach langem Hin und Her hat sich die Bürgerallianz am 27. Mai bereit erklärt, die CxL für Kandidat*innen zu öffnen, die der Nationalen Koalition angehören und nun wegen des Verlustes des Rechtsstatus der PRD ohne Partei dastehen. Vom 31. Mai bis 3. Juni konnten deren Kandidat*innen ihren Antrag auf Registrierung bei der Bürgerallianz einreichen. Wer letztendlich als Präsidentschaftskandidat*in der CxL gegen Ortega antreten wird, soll in einem fragwürdigen internen Auswahlverfahren ermittelt werden.

Zum Risiko einer eventuellen Aufhebung des legalen Status auch der CxL als Vergeltung für ihre Öffnungsstrategie, sagte deren Parteivorsitzende Kitty Monterrey in einem Interview mit Esta Semana: „Wir werden nicht, aus Angst vor Ortega, aufhören zu tun, was wir tun müssen. Sobald sie uns als eine Opposition sehen, die um die Plattform der Bürgerallianz vereint ist, können sie sich jeden Vorwand suchen, um uns aus dem Spiel zu werfen.“

Am Deichbau arbeitet indes auch das System

Nach Meinung des politischen Analysten Oscar René Vargas ist das primäre Interesse der Bürgerallianz darauf ausgerichtet, eine zweite Protestwelle um jeden Preis zu verhindern. „Sie spekulieren darauf, dass es für sie umso besser wird, je schlechter die Dinge laufen; sie denken, dass sie der beste Deich sind, um einen neuen sozialen Tsunami zu vermeiden, der die gesamte nationale politische Szene umwälzen würde.”

Am Deichbau arbeitet indes auch das System. In den letzten Wochen erlebte Nicaragua eine weitere Verschärfung der Unterdrückung: Auf die Repression gegen die PRD, folgten am 20. Mai der Einbruch von Bereitschaftspolizisten*innen in die Räume des YouTube-Kanals von Esta Semana und der Internetzeitung Confidencial, wobei sämtliche Arbeitsgeräte beschlagnahmt wurden. Es wurden Hausarreste gegen bislang vier Oppositionelle verhängt, so wurde etwa die parteiunabhängige Präsidentschaftskandidatin Cristiana Chamorro wegen des Vorwurfs der Geldwäsche im Zusammenhang mit einer von ihr geleiteten Stiftung festgesetzt. Gegen Dutzende Journalist*innen laufen Ermittlungen; seit Monaten werden Kandidat*innen und Aktivist*innen insbesondere der Nationalen Koalition polizeilich überwacht und willkürlich daran gehindert ihre Häuser zu verlassen, was eine echte Wahlkampagne unmöglich macht.

In den letzten Wochen erlebte Nicaragua eine weitere Verschärfung der Unterdrückung

Alles deutet darauf hin, dass Ortega nicht nur seine Gegner*innen dem Wahlprozess fernhalten will, sondern auch die unentschlossenen Wähler*innen durch Demoralisierung zur Stimmenthaltung bewegt werden sollen. Nach Vargas ist die Hypothese des unbestimmten Verbleibs von Ortega-Murillo an der Macht jedoch falsch. Angesichts der enormen sozio-ökonomischen, politischen und gesundheitlichen Krise plädiert er dafür, den Widerstand neu anzufachen, das Feld des Protests zu erweitern und die Unzufriedenheit zu mobilisieren, denn die Menschen bräuchten die Gewissheit und die Hoffnung, dass der Sturz der Diktatur möglich sei.

„WIR SIND MÜDE VON SO VIELEN UNGERECHTIGKEITEN!“

Kolumbien bleibt widerständig, verdammt! Foto: Andrés Gómez Tarazona via Flickr CC BY-NC 2.0

„Wenn ein Volk mitten in einer Pandemie auf die Straße geht und demonstriert, ist die Regierung gefährlicher als das Virus“, war eines der vielen Mottos des Streiks, der am 28. April mit einer symbolträchtigen Aktion begann: Um sechs Uhr morgens stürzten indigene Aktivist*innen die Statue des spanischen Eroberers Sebastián de Belalcázar. Die Wut der Streikenden entzündete sich vor allem an einer geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer auf die Preise der öffentlichen Energie- und Wasserversorgung sowie der Produkte des täglichen Bedarfs, wie Mehl, Salz, Zucker, Eier und Benzin. Dies hätte dazu geführt, dass sich große Teile der Bevölkerung mindestens eine der täglichen Mahlzeiten nicht mehr hätten leisten können. Darüber hinaus sollten ab 2022 monatliche Einkommen von mehr als 2,4 Millionen Pesos (umgerechnet etwa 630 US-Dollar) besteuert werden. „Die Wirtschaft ist in der Krise und trotzdem will die Regierung den Menschen der Mittel- und Unterschicht mehr Steuern aufbürden. Natürlich sind wir besorgt und entrüstet“, erklärt Ferney Darío Jaramillo, Gewerkschafter und Mitarbeiter der Escuela Nacional Sindical die Gründe für die Proteste. „Aber wir müssen auch auf die Straße gehen, um bessere Maßnahmen gegen die Auswirkungen der Pandemie zu fordern. Die Regierung hat den am meisten Benachteiligten nur 50 Dollar im Monat gegeben und die Subventionen für die Unternehmen waren nicht ausreichend, um die Beschäftigung zu erhalten. Es gibt etwa 3,6 Millionen Arbeitslose.“

Noch mehr Steuern in der Krise

Doch die Menschen gehen nicht nur wegen der neoliberalen Reformen der Regierung von Iván Duque auf die Straße. Sie protestieren auch gegen die Massaker und Morde an sozialen Aktivist*innen und Gewerkschafter*innen, die in der Pandemie noch zugenommen haben. „Wir haben eine Pandemie, die schlecht gemanagt wurde, die mehr als 70.000 Tote verschuldet hat. Außerdem wurden in weniger als zwei Jahren mehr als 200 Aktivist*innen umgebracht“, sagte Diego Agudelo García, Gewerkschafter der Föderation der Erzieher*innen (FECODE) aus Pereira. Seit Jahresbeginn zählt die Organisation INDEPAZ landesweit 35 Massaker, die von unterschiedlichen, teils schwer zu identifizierenden, bewaffneten Gruppen verübt wurden. In den ersten vier Monaten des Jahres sind laut INDEPAZ 57 Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen für Indigenen-, Umwelt- und Bauernrechte sowie 22 ehemalige FARC-Kämpfer*innen getötet worden.

Täglich neue Meldungen von Polizeigewalt

„Wir sind müde von so vielen Ungerechtigkeiten. All die friedlichen Demonstrationen haben nie eine Veränderung bewirkt, also müssen wir jetzt alles niederbrennen. Wir haben alles Recht dazu, denn diese Regierung ist mittelmäßig und absurd, gierig und schmutzig,“ so bringt Mariana, eine Künstlerin aus Medellín, ihre Wut und Verzweiflung zum Ausdruck. Die aktuellen Forderungen der Streikenden schließen sich an die des landesweiten Streiks vom 21. November 2019 an, der unter anderem durch die Weihnachts- und Neujahrsfeiern unterbrochen wurde. Gründe waren schon damals die neoliberalen Reformen, die Korruption und die Kriminalisierung der sozialen Proteste. Einer der traurigen Höhepunkte im Jahr 2020 war der Mord an dem 18-jährigen Dilan Cruz durch die ESMAD, die Aufstandsbekämpfungseinheit der Polizei, am 23. November.

Indigene Aktivist*innen stürzten die Statue des spanischen Eroberers Sebastián de Belalcázar in Cali, Foto: Sebastián Díaz

Auch im Vorfeld des aktuellen Streiks wurde vor der Infiltration der Proteste durch Einheiten der Polizei gewarnt, die sich immer wieder als Randalierende ausgeben, um den Streik zu diskreditieren. So kam es in den Städten Medellín und Bogotá vereinzelt zu Zerstörungen von Bankautomaten. Obwohl die Proteste anfangs friedlich verliefen, verhängten die Bürgermeister*innen von Bogotá und Medellín, Claudia López und Daniel Quintero, eine nächtliche Ausgangssperre. Die Proteste setzten sich jedoch über die nächsten Tage fort, ebenso wie die Gewalt, die von den Staatsorganen ausging. Verlässliche Zahlen sind unter den gegebenen Umständen nur schwer zu erheben. Die unabhängige Organisation Temblores zählt bis zum 6. Mai 934 willkürliche Verhaftungen und elf sexuelle Übergriffe auf Frauen seitens der Polizei. 471 Verschwundene meldetet die unabhängige Menschenrechtsplattform CCEEU nach einer Woche des Protests. Unter den Hashtags #SOSColombia und #NosEstanMatando werden in den sozialen Netzwerken jeden Tag Videos geteilt, die zeigen, wie Polizei und ESMAD wahllos auf Demonstrierende schießen, wobei nicht nur Tränengas, sondern auch scharfe Munition eingesetzt wird.

Temblores schätzt die Zahl der Todesopfer durch Polizeigewalt bis zum 6. Mai auf 37. Besonders betroffen ist die Stadt Cali, hier gingen Polizei und Militär gezielt gegen die Bevölkerung der ärmeren Stadtviertel vor. Berichtet wurde auch von Störungen des Internets, was nicht nur die Kommunikation der Streikenden erschwerte, sondern auch die Veröffentlichung von Bildern der Polizeigewalt. Während dennoch täglich die Meldungen von Polizeigewalt zunehmen, bemüht die Regierung das alte Narrativ des Terrorismus, um die Proteste zu diskreditieren. „Kolumbien steht vor einer terroristischen Bedrohung, kriminelle Organisationen stecken hinter den Gewalttaten, die den friedlichen Protest trüben. Es handelt sich um vorsätzliche Taten, organisiert und finanziert von Dissidentengruppen der FARC und ELN“, verkündete der Verteidigungsminister Diego Molano. Der ehemalige Präsident Álvaro Uribe Vélez twitterte sogar, man solle die Armee gegen die Randalierer einsetzen, was eine Welle der Empörung in den sozialen Netzwerken auslöste und dafür sorgte, dass der Twitter-Account von Uribe kurzzeitig gesperrt wurde.

Immerhin zog Präsident Duque am 2. Mai die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer zurück und einen Tag später trat Finanzminister Alberto Carasquilla zurück. Die Proteste gehen trotzdem weiter. Sie richten sich jetzt vor allem gegen die Gesundheitsreform, die eine weitere Privatisierung des Gesundheitssystems bedeuten würde. Derweil schreitet auch die Militarisierung voran. So wurde der Bürgermeister von Cali abgesetzt und durch den Armeegeneral Eduardo Zapateiro ersetzt. Nun wächst die Angst, dass die Situation erneut in einen bürgerkriegsartigen Zustand umschlagen könnte.

ORTEGA BEREITET SEINEN WAHLSIEG VOR

Oppositionelle in Haft Angehörige fordern bereits seit 2018 die Freilassung politischer Gefangener (Foto: Jorge Mejía Peralta, CC BY 2.0)

Das neue „Gesetz zur Verteidigung der Rechte des Volkes auf Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung für den Frieden“ passierte Ende Dezember 2020 das Parlament. Es ist das vorerst letzte von insgesamt vier Gesetzen seit September 2020, die die Bürger*innenrechte beschneiden, politische Betätigung kriminalisieren und die Arbeit der noch im Land tätigen Nichtregierungsorganisationen extrem erschweren (siehe LN 558). Im Januar 2021 wurde auch die Einführung einer lebenslangen Freiheitsstrafe gegenüber der geltenden Höchststrafe von 30 Jahren mit der nötigen Mehrheit der regierenden FSLN (Sandinis­tische Nationale Befreiungsfront) verabschiedet. Mit den neuen Gesetzen will sich die Regierung bei den Wahlen im November erneut die Macht sichern. Nach 14 Jahren wäre es die vierte Amtszeit des sich nach wie vor mit dem Nimbus des Revolutionärs umgebenden 75-jährigen Staatschefs Daniel Ortega.

Personen, denen nach dem neusten Gesetz eine Verurteilung wegen „Vaterlandsverrat” droht, wäre eine Kandidatur für öffentliche Ämter untersagt. Darunter sind im Wesentlichen als terroristisch eingestufte Handlungen gefasst, wie „einen Staatsstreich anführen oder finanzieren“ oder „die verfassungsmäßige Ordnung angreifen“. Schuldig macht sich etwa, wer zu „ausländischer Einmischung in die inneren Angelegenheiten” auffordert, „zu militärischer Intervention” aufruft und sich „mit finanzieller Unterstützung ausländischer Mächte” organisiert. Vom Wahlprozess ausgeschlossen werden können auch Kandidat*innen, die „wirtschaftliche, kommerzielle und finanzielle Blockaden vorschlagen oder die Verhängung von Sanktionen fordern, gutheißen und begrüßen”. De facto kann Ortega mit den neuen Gesetzen gegen alle vorgehen, die in kritischer Position zur Regierung stehen, sei es von links oder von rechts.

Ortega kann mit dem neuen Gesetz gegen alle Kritiker*innen vorgehen

Seit dem Aufflammen der sozialen Proteste im April 2018 hat die Regierung die Repression stetig verschärft. Politische Gefangene werden noch nach ihrer Haftentlassung durch Zivilpolizist*innen an ihren Wohnorten unablässig belagert und bedroht. Damit wird nicht nur der Druck auf sie aufrechterhalten, solche Maßnahmen sollen auch andere politische Gegner*innen von der Teilnahme am politischen Wettbewerb abschrecken. Betroffene aus allen Landesteilen sprechen davon, Gefangene im eigenen Haus zu sein, unter ständiger Beobachtung und Kontrolle zu stehen, von täglichen Hausdurchsuchungen und dergleichen Schikanen mehr. Bei all diesen Aktionen herrscht die pure Willkür, die das Leben ganzer Familien einem permanenten psychischen Stress aussetzt. Seit Mitte 2020 hat die Anwendung der Methode „Hausarrest gegen Gefängnis” landesweit stark zugenommen – gleichzeitig zum Beginn der Mobilisierung der Opposition, um sich auf die Wahlen vorzubereiten und zivilen Widerstand gegen die Repression zu organisieren.

Die Opposition hat seit dem Beginn der Proteste am 18. April 2018 drei aus Zivilgesellschaft und Parteien bestehende Organisationen gebildet: das zivilgesellschaftliche Einheitsbündnis (UNAB), die Bürger*innenallianz für Demokratie und Gerechtigkeit (ACDJ) und die im Februar 2020 gegründete Nationale Koalition (NC), die als Einheitsbündnis aller oppositionellen Kräfte der regierenden FSLN an den Wahlurnen Konkurrenz machen sollte (siehe LN 550). Doch schon zu lange wirkt die Opposition orientierungslos und macht hauptsächlich durch häufigen Wechsel von politischen Allianzen und Konstellationen, teils durch offene Bekundungen gegenseitigen Misstrauens und durch persönliche Ambitionen Einzelner von sich reden, was für weite Teile der Bevölkerung, für die sie eine wählbare Alternative darstellen soll, kaum noch nachvollziehbar ist. Hierzu stellt der Journalist und Herausgeber der Internetzeitung Confidencial Carlos F. Chamorro in einem Leitartikel desillusioniert fest: „Die Opposition hat es weder geschafft, das Machtvakuum zu füllen, noch stellt sie eine Hoffnung für die große Mehrheit dar, die vom täglichen Überlebensdrama erdrückt wird.“

Seit ihrem Bestehen ringt die Opposition um Einheit, in ihr konkurrieren divergierende Interessen von links bis weit rechts. Viele der politischen Streitigkeiten, die auf das Konto der rechten Kräfte gehen, sollen den Einfluss der Linken und sozialen Bewegungen, die mehrheitlich in der UNAB organisiert sind, schmälern. Mit weitreichenden Folgen für ein einheitliches Vorgehen: Die ACDJ hat die Nationale Koalition verlassen und geht mit der Partei Bürger für die Freiheit (CxL) zusammen, die vor allem Unterstützung aus der Privatwirtschaft hat und keiner der oppositionellen Organisationen angehört. Den anderen Flügel bilden die UNAB, die Bäuer*innenbewegung und die Nationale Koalition, die sich mit der Partei Demokratischer Wiederaufbau (PRD) zu einem Wahlbündnis zusammengeschlossen haben.

Zweifel an seinem Wahlsieg scheint Ortega nicht zu haben

Mit der Entscheidung, die Nationale Koalition zu verlassen und ein neues Bündnis einzugehen, zog die Führungsriege der ACDJ harsche Kritik eines Teils ihrer Mitglieder auf sich. In einem Brief erklären diese ihre Absicht, mit neu gewählten Delegierten im Bündnis zu verbleiben: „Die ACDJ gehört dem Volk von Nicaragua, denjenigen, die auf den Barrikaden und an den Straßensperren gelitten haben, denjenigen, die sich ohne Unterlass in allen Ecken Nicaraguas mobilisiert haben, den Gefallenen, den Opfern, den Gefangenen und ehemaligen politischen Gefangenen, denjenigen, die geflohen sind, um ihr Leben zu schützen, allen Nicaraguanern guten Willens, die nach Einheit und mehr Einheit rufen.”

Als nächste Zerreißprobe könnte sich die Forderung nach einer grundlegenden Wahlrechtsreform erweisen, die von allen zivilgesellschaft­lichen Kräften erhoben wird. Mit Ausnahme der CxL haben im September 2020 alle oppositionellen Kräfte hierzu einen „Nationalen Konsens über Wahlrechtsreformen“ unterzeichnet, der Forderungen für die Durchführung freier Wahlen stellt: Die endgültige Freilassung aller politischer Gefangenen, die vollständige Wiederher­stellung aller Bürger*innenrechte und verfassungs­­mäßigen Garantien sowie die sichere Rückkehr der Nicaraguaner*innen aus dem Exil. Von dieser Verpflichtung scheint die ADJC mit ihren neuen Verbündeten nun abrücken zu wollen. Die CxL-Präsidentin, Kitty Monterrey nannte die Vorschläge gar „ein Wunschzettel ans Christkind“, weil dafür keine Zeit mehr sei.

Seit den Protesten hat die Regierung die Repression verschärft

Zur Möglichkeit von Wahlen befragt, erklärte die politische Ex-Gefangene Amaya Coppens Zamora (siehe LN 545) im Interview mit Esta Semana im November 2020: „Wir können nicht ohne Vorbedingungen zu Wahlen gehen, während die Menschenrechte vieler Menschen weiterhin täglich verletzt werden − mit der Repression und ohne Bedingungen für die sichere Rückkehr von Tausenden im Exil.” Es seien Parteien wieder aufgetaucht, denen der April 2018 nichts bedeutete − politische Kadaver, die nicht hätten wieder auftauchen sollen. Für Coppens ist es an der Zeit, „auf das zu hören, was die Leute wollen. Es gibt viele Leute, die immer noch da sind, die nur auf den Moment warten, weil sie mit dem, was passiert, nicht einverstanden sind. […] Ich bin sicher, wenn wir die [verfassungsmäßigen] Garantien wiedererlangen, werden wir die Auferstehung [der Proteste] erleben.“ Damit das geschehe, glaubt Coppens, bedürfe es keines Aufrufs von oppositionellen Organisationen wie der ADJC oder der Nationalen Koalition. „Dieser Aufstand (2018) ist aus sich selbst heraus entstanden, aus Solidarität.“

Für den Soziologen Sergio Cabrales liegt bei Ausbleiben einer echten Wahlrechtsreform ein Wahlbetrug durchaus im Bereich des Möglichen, dennoch glaubt er, dass eine Stimmenthaltung ein schwerer Fehler und eine verpasste Gelegenheit wäre. Dieser Position hat sich die akademische Jugend der Nicaraguanischen Universitätsallianz (AUN) in der ACDJ angeschlossen, die nichts von einer Wahlenthaltung hält, sei es nun mit oder ohne Reformen.

Eine Gegenstimme zu dieser Position kommt von der Oppositionspolitikerin Violeta Granera aus dem Leitungsgremium der UNAB, derzufolge die Organisation daran arbeite, Druck auszuüben für die Durchsetzung einer Wahlrechtsreform und die Freiheit der politischen Gefangenen. Ohne diese Bedingungen solle die Opposition gar nicht erst zur Wahl antreten. Die gleiche Position vertritt José Pallais, ein Mitglied der Nationalen Koalition, demzufolge „die Opposition überdenken muss, ob sie teilnehmen wird oder nicht“, sollte es keine Reformen geben. In beiden Oppositionsblöcken haben derweil Vorwahlen für die Präsidentschaftskandidatur begonnen. Im Gespräch ist auch Cristiana Chamorro, Tochter der Ex-Präsidentin Violetta Barrios und des ermordeten Journalisten und Nationalhelden Pedro Joaquín Chamorro. Vorerst sieht es so aus, als würde jeder Block seine eigenen Kandidat*innen nominieren.

Zweifel an seinem Wahlsieg scheint Ortega nicht zu haben, wenn er sich heute schon Projekte für die Zukunft vornimmt: Während einer Veranstaltung zum Gedenken an den Dichter Rubén Darío im Januar 2021 kündigte er an, dass er nach den Wahlen zu einem großen nationalen Dialog aufrufen werde. Auch wenn seine Zustimmungswerte schwinden, kann er sich auf das engmaschige, über mehr als ein Jahrzehnt gesponnene Netz von Abhängigkeiten stützen, auf die Ängste vieler Staatsbediensteter und Parteikader, die im Falle eines Regierungswechsels ihre Existenzgrundlage verlören. Eine von Teilen der Opposition befürchtete geringe Wahlbeteiligung könnte sogar seine Wiederwahl wahrscheinlich machen.

„AUSLÄNDISCHE AGENTEN“ MIT MAULKORB

Mit den Stimmen der Mehrheitsfraktion der FSLN (Sandinistische Nationale Befreiungsfront) verabschiedete die nicaraguanische Nationalversammlung am 15. Oktober 2020 das „Gesetz zur Regulierung ausländischer Agenten“. Dieses verlangt, dass sich alle nicaraguanischen Personen, Organisationen oder Unternehmen, die in irgendeiner Weise mit ausländischen Geldern in Berührung kommen, in einer von der Regierung geführten Liste als „ausländische Agenten“ registrieren müssen. Wer dies nicht tut, riskiert harte Strafen.

Ein besonders repressives und undemokratisches Detail dieser Regelung ist, dass „ausländische Agenten“ keine öffentlichen Ämter bekleiden und nicht im öffentlichen Dienst arbeiten dürfen. So wird die Bevölkerung in zwei Gruppen gespalten: Die Anhänger*innen der Regierung mit vollen staatsbürgerlichen Rechten auf der einen Seite und möglicherweise regierungskritische Menschen, deren verfassungsmäßig garantierte Rechte massiv eingeschränkt werden, weil ihre Projekte aus dem Ausland unterstützt werden, auf der anderen.

Ab sofort dürfen Organisationen wie Brot für die Welt, die zum Beispiel Trinkwasserprojekte in ländlichen Gemeinden in Nicaragua unterstützen, keine finanziellen Transaktionen durchführen, bis sich alle Mitarbeiter*innen als „ausländische Agenten“ registriert haben. Sie dürfen keine Gehälter auszahlen, keine Materialien kaufen und keine Rechnungen bezahlen. Auch die Bank, bei der sie ihre Konten besitzen, muss sich als „ausländischer Agent“ registrieren lassen. Selbst die Angestellten der Bank, die die entsprechenden Konten betreuen und die Organisationen finanziell beraten, müssen sich in die Liste der „ausländischen Agenten“ eintragen. Außerdem werden alle aus dem Ausland unterstützten Projekte dazu verpflichtet, sämtliche Tätigkeiten und Finanzen den nicaraguanischen Behörden vierwöchentlich zur Genehmigung vorzulegen. Diese Vorschrift kann angesichts der völlig verbürokratisierten Staatsverwaltung Nicaraguas gar nicht erfüllt werden. Die nicaraguanische Menschenrechtskommission CENIDH erklärte, dass die Regierung durch dieses Gesetz eine „totalitäre Kontrolle“ über alle Staatsbürger*innen, über die Kommunikationsmedien sowie die Organisationen der Zivilgesellschaft ausüben werde.

Gemeinnützige Organisationen werden auf die gleiche Stufe mit der organisierten Kriminalität gestellt

Das „Gesetz zur Regulierung ausländischer Agenten“ ist in weiten Teilen die Kopie eines Gesetzes, das 2012 unter Putin in Russland in Kraft gesetzt wurde. Auch dieses sieht vor, dass sich alle Nichtregierungsorganisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen. Die Regierung Ortega rechtfertigt die Gesetzgebung damit, dass so die Einmischung ausländischer Institutionen oder Personen in die inneren Angelegenheiten Nicaraguas unterbunden werde: So werden ausländische Regierungen und Unternehmen, Geheimdienste, Terrorist*innen, Stiftungen, Aktivitäten der Geldwäsche und des Waffenhandels sowie gemeinnützige Solidaritätsorganisationen auf die gleiche Stufe gestellt. In der Praxis kann damit jede unabhängige Regung der Bevölkerung staatlich erfasst, kontrolliert und verhindert werden.

Im Sekretariat der Internationalen Nichtregierungsorganisationen (SONGI) sind 32 Organisationen zusammengeschlossen, die sich seit mehr als 30 Jahren solidarisch für die Entwicklung Nicaraguas einsetzen. Diese Organisationen haben in den vergangenen Jahren Solidaritätsprojekte mit jährlich etwa 25,5 Millionen Dollar unterstützt, die rund 550.000 Menschen – bis in die entlegensten Winkel des Landes hinein – zugute gekommen sind. SONGI drückt in einem offenen Brief an die Regierung Nicaraguas seine Befürchtung aus, dass das Gesetz „diese solidarischen Aktivitäten paralysieren könnte“, weil es unmöglich sei, alle vorgesehenen Vorschriften in die Praxis umzusetzen. Ohne diplomatische Floskeln heißt dies, dass dieses Gesetz einen Frontalangriff auf alle gemeinnützigen Projekte darstellt, die von internationalen Nichtregierungsorganisationen unterstützt werden.

Die Gesetze stellen eine allumfassende Bedrohung für jegliche Äußerung oder Aktivität der Bevölkerung dar

Bereits zuvor, am 24. September, hatte Ortega den Präsidentenerlass zur „Cyber-Sicherheit“ verkündet, der die Verbreitung unerwünschter Äußerungen über das Internet verbieten soll. Dieser Erlass verpflichtet das dafür zuständige Außenministerium und die Telekommunikationsbehörde TELCOR, hierzu einen Gesetzesentwurf zu erarbeiten. Am 28. September brachten die Abgeordneten der FSLN eine entsprechende Initiative ins Parlament ein, welche die Verbreitung regierungskritischer Meinungen, Nachrichten oder Karikaturen über Facebook, E-Mail, Twitter, Instagram, WhatsApp, Nachrichtenportale, private Internetseiten oder sonstige elektronische Medien unter Strafe stellt. Das von Kritiker*innen als Knebelgesetz bezeichnete Gesetz wurde am 27. Oktober mit der sandinistischen Parlamentsmehrheit verabschiedet.

Schon am 15. September hatte Ortega den Obersten Gerichtshof Nicaraguas dazu aufgefordert, durch eine Verfassungsänderung ein „Gesetz gegen den Hass“ vorzubereiten, das die bisherige Höchststrafe von 30 Jahren auf lebenslange Haft ausdehnt. Als Begründung dient die brutale Vergewaltigung und Ermordung von zwei zehn und zwölf Jahre alten Mädchen. Aber es scheint, dass Ortega die neue Höchststrafe vor allem auf die politische Opposition anwenden will. In seiner Rede zum Unabhängigkeitstag am 15. September bezeichnete er die Opposition als „Kriminelle“, „Terroristen“ und „Söhne des Teufels“, die mit „dauerhafter Haft“ für „ihre Hassverbrechen bestraft“ werden müssten.

Alle drei Gesetze stellen allein wegen der Fülle der durch sie erfassten Vergehen und Verbrechen eine allumfassende Bedrohung für jegliche Äußerung oder Aktivität der gesamten Bevölkerung dar. Laut Menschenrechtsorganisationen erleichtern sie durch ihre schwammigen Formulierungen staatliche Willkür und sollen der bereits praktizierten Repression eine legale Basis verleihen. Angesichts der für November 2021 vorgesehenen Wahlen solle der internationalen Öffentlichkeit vorgegaukelt werden, dass in Nicaragua ein Rechtsstaat herrsche. In ihrem Kern haben die Gesetze jedoch das Ziel, die oppositionellen Kräfte einzuschüchtern, sie zur Selbstzensur zu zwingen und sich durch die Registrierung als „ausländische Agenten“ selbst zu kriminalisieren. Die angekündigten Strafen sind sehr ernste Drohungen, die von Geldstrafen über Konfiskationen von Privateigentum bis zu lebenslanger Haft reichen.

DIFFAMIERUNG UND GESCHÖNTE ZAHLEN

Vizepräsidentin Murillo „Eine einzigartige Strategie” (Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl)

Nicaragua durchlebt mit der exponentiellen Wachstumskurve der Pandemie eine vom Präsidenten Daniel Ortega und der Vizepräsidentin Rosario Murillo verschuldete Tragödie: Von Beginn an leugnete das Präsidentenpaar die Pandemie, ignorierte die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), förderte die Ansteckung und diffamierte die Kampagne #QuedateEnCasa (Bleib‘ zu Hause) als Putschversuch der Protestbewegung von 2018. Das Gesundheitsministerium MINSA veröffentlicht regelmäßig geschönte Zahlen, die den Eindruck erwecken sollen, dass die Lage unter Kontrolle sei.

Ende Mai präsentierte die Regierung der Öffentlichkeit ein sogenanntes Weißbuch mit dem Titel „Eine einzigartige Strategie”. Neben unplausiblen Zahlen lässt der Text eine bemerkenswerte Realitätsferne erkennen. Die Weigerung, eine landesweite Quarantäne zu verhängen, wird mit dem schwedischen Sonderweg als Alternative zum totalen Lockdown begründet: „Nicaragua und Schweden stellen Alternativen zum völligen Lockdown in einem Entwicklungsland und einem entwickelten Land dar.” Nicaragua strebe ein Gleichgewicht zwischen öffentlicher Gesundheit und gesunder Wirtschaft an. In Schweden hat diese Strategie zu mehr als 5.000 Toten geführt, in Nicaragua führt sie zu einem Massensterben.

Am 1. Juni haben 34 Ärzteverbände die Nicaraguaner*innen in einem dramatischen Appell dazu aufgerufen, sich angesichts der „unaufhaltsamen” Zunahme der Covid-19-Fälle landesweit dringend in freiwillige Quarantäne zu begeben, um „die Auswirkungen der Krankheit zu verringern, indem Ansteckung, Übertragung und Todesfälle in der Bevölkerung reduziert werden”. Die Ärzt*innen warnen, dass der „exponentielle Anstieg” der Covid-19-Fälle zum „Zusammenbruch” des öffentlichen und privaten Gesundheitssystems geführt habe. Das bedeutet unter anderem: überfüllte Krankenhäuser, Bettenmangel, Medikamentenmangel und Engpässe bei dem so wichtigen Sauerstoff und bei Beatmungsgeräten.

Einzige Reaktion des Regimes: Am 8. Juni wurden 14 erfahrene Spezialist*innen aus dem öffentlichen Gesundheitssystem entlassen. Die Entlassungen verletzen nicht nur die Rechte der Arbeitnehmer*innen, sondern schränken auch die Fähigkeit erheblich ein, Tausende von Nicaraguaner*innen medizinisch zu versorgen. Bis Ende Juni waren bereits 32 Ärzt*innen entlassen worden.

In Nacht- und Nebelaktionen finden Beerdigungen statt

Auf die Zuspitzung reagierten fast 100 Intellektuelle aus Lateinamerika, den USA und Europa mit einem offenen Brief an Präsident Daniel Ortega und Vizepräsidentin Rosario Murillo. Darin forderten sie die sofortige Wiedereinstellung der entlassenen Ärzt*innen. „Ihr Land weist (…) die höchste Sterberate bei Ärzten und Krankenschwestern in Mittelamerika auf. Selbst mit diesem hohen Risiko erfüllen sie trotz unzureichender Bedingungen weiterhin ihren Dienst. Dass sie (die Ärzte, Anm. d. Red.) ungerechtfertigt Entlassungsbriefe erhalten anstatt Danksagungen, verpflichtet uns, unsere Stimme in Solidarität mit ihnen und der Bevölkerung von Nicaragua zu erheben.”

Seit dem Ausbruch der Pandemie Mitte März hat die Repression gegen Ärzt*innen und Krankenhauspersonal, die an der Vorgehensweise der Regierung Kritik übten, stetig an Schärfe zugenommen. Von Beginn an haben sie das Fehlen präventiver Maßnahmen sowohl zum Schutz der Bevölkerung als auch zu ihrer eigenen Sicherheit in den Kliniken und Gesundheitszentren angeprangert. Außerdem kritisierten sie, dass sie gezwungen wurden, die Opfer von Covid-19 als Todesfälle anderer Ursachen zu dokumentieren, um die offiziellen Zahlen niedrig zu halten. Mit dem Verbot, Masken und Schutzkleidung zu tragen − angeblich um keine Panik zu verbreiten − nahm das Gesundheitsministerium willentlich in Kauf, dass sich Patient*innen und Gesundheitspersonal infizierten (siehe LN 551). Mit verheerenden Folgen: Nach Informationen der unabhängigen Bürgerbeobachtungsstelle sind bis zum 8. Juli in weniger als sechzig Tagen 94 Beschäftigte des Gesundheitswesens an vermuteten Covid-19-Symptomen gestorben – darunter 40 Ärzt*innen, 22 Krankenschwestern sowie Verwaltungsangestellte, Labormitarbeiter*innen und Personen des klinischen Hilfspersonals.

Aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr, aber auch aus Gründen der Geheimhaltung des tatsächlichen Ausmaßes der Verbreitung des Virus, zwingt das Gesundheitsministerium Familienangehörige zu sogenannten Expressbestattungen. Betroffene berichten, dass diese Beerdigungen, bei denen kaum Familienmitglieder anwesend sind, teils nachts stattfinden. Die Särge werden zugenagelt, manchen Familien wurde auch nur die Urne übergeben, sodass es Fälle gab, in denen die Familien die Identität der Verstorbenen, die sie beerdigen sollten, angezweifelt haben.

Als Folge solcher Zustände trauen sich die Leute nicht mehr in die Krankenhäuser. „Die Menschen verändern ihr Verhalten: Anstatt sich vor den Toren zu opfern, anstatt in einem Raum mit vielen Menschen zu sein, um sich mit Covid-19 zu infizieren, haben sie beschlossen, zu Hause zu bleiben, um sich um die leichten und mittelschweren Fälle zu kümmern”, beschreibt der Epidemiologe Álvaro Ramírez die Situation im Onlinemedium Confidencial.

Von Repressalien und Entlassung bedroht sind auch Lehrer*innen und Universitätsprofessor*innen, die die Aufrechterhaltung von Lehrveranstaltungen und des Unterrichts kritisieren. Am 23. April 2020 entließ die Nationale Autonome Universität von Nicaragua (UNAN) vier Wissenschaftler*innen des Forschungszentrums für Gesundheitsstudien (CIES), das der Universität angegliedert ist, einschließlich seines Direktors, Dr. Miguel Angel Orozco, der den ignoranten Umgang des Regimes mit der Pandemie in Interviews kritisiert hatte. Arbeitsplatzverlust droht auch Lehrer*innen an den staatlichen Schulen, sollten sie sich weigern, den Unterricht fortzuführen, obwohl der Schulbesuch auf derzeit zehn Prozent geschrumpft ist. Nach Angaben der unabhängigen Lehrendengewerkschaft Unidad Sindical Magisterial (USM) waren bis Ende Juni 32 Lehrer*innen an den Symptomen von Covid-19 gestorben.

Die Vereinigung AVA bezichtigt *Ortega der „biologischen Kriegsführung” gegen politische Gefangene

Die schutzloseste und verwundbarste Gruppe sind die Menschen im Strafvollzug. Am 13. Mai wurden 2.815 Männer und Frauen aus den Gefängnissen Modelo und La Esperanza in Managua und anderen übers Land verteilten Gefängnissen entlassen – offiziell, um ihnen die Gelegenheit zu geben, den Muttertag am 30. Mai mit ihren Familien zu feiern. Die Forderung internationaler Menschenrechtsorganisationen nach Freilassung der politischen Gefangenen verhallt dagegen ungehört. Aktuell sitzen 97 politische Gefangene in verschiedenen Gefängnissen des Landes ein.

Aufgrund des Mangels an sanitären Einrichtungen, sauberem Trinkwasser und der herrschenden Überfüllung in den Haftanstalten sind sie der Ansteckungsgefahr mit dem Virus dauerhaft ausgesetzt. Nach Auskunft von Familienangehörigen zeigten Mitte Juni schon mehr als die Hälfte von ihnen Symptome einer Covid-19-Infektion. *Zudem beklagen Betroffene, dass das für die politischen Gefangenen zuständige Wachpersonal die Masken, das Alkoholgel und andere Materialien, welche ihnen von ihren Familien zum Schutz vor Covid-19 mitgebracht werden, nicht aushändigt. Die Vereinigung der April-Opfer (AVA) beschuldigt in diesem Zusammenhang den Präsidenten gar der „biologischen Kriegsführung” gegen Bürger*innen, die seit 2018 gegen das Regime protestieren. Und sie sind mit dieser Meinung nicht allein.

Nach Einschätzung von Dora María Téllez, während der Revolutionsjahre Gesundheitsministerin (1985 bis 1990), hat die Covid-19-Krise die Macht der Ortega-Diktatur geschwächt. Deren Anhängerschaft stehe unter Schock, da es unter ihnen viele Kranke und Tote gebe. Einem Bericht von Confidencial von Mitte Juni zufolge seien bis dato mindestens 60 hohe Staatsfunktionär*innen, Berater*innen, Abgeordnete, Bürgermeister*innen, Polizist*innen, Ex-Militärs und politische Sekretär*innen der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben.

Ob diese Entwicklungen zum Vorteil der parlamentarischen Opposition ausschlagen könnten, ist angesichts des negativen Images, das deren Parteien in der Bevölkerung haben, derzeit unwahrscheinlich. Die Nationale Koalition (CN), ein Zusammenschluss von sieben Parteien und Bewegungen, weist nur vier Monate nach ihrer Gründung im Februar 2020 tiefe Risse auf (siehe LN 550). Angetreten als politische Vertretung aller oppositionellen Strömungen gelingt es ihr nicht, aus der breiten Ablehnung des Regimes politisches Kapital zu schlagen: Die Ergebnisse einer am 17. Juni 2020 veröffentlichten Umfrage des regionalen Meinungsforschungsinstituts CID Gallup, in der zwischen dem 15. Mai und 8. Juni 1.800 nach dem Zufallsprinzip ausgesuchte Personen befragt wurden, müssten die CN alarmieren. Auf die Frage „Wenn Sie heute wählen müssten, welche Partei würden Sie wählen?” antworteten 23 Prozent der Befragten, sie würden der FSLN ihre Stimme geben. Die beiden aus der Protestbewegung hervorgegangenen Organisationen Unidad Nacional Azul y Blanco (UNAB) kämen auf 10 Prozent, die Alianza Civica (ACJD) auf 5 Prozent. Die übrigen in der CN vertretenen Parteien lagen noch darunter. Ein Jahr vor den Wahlen im November 2021 entschieden sich 41 Prozent der Befragten für überhaupt keine Partei.

Nelly Roque, eine ehemalige politische Gefangene, bringt das Dilemma auf den Punkt, wenn sie die Opposition dafür kritisiert, inmitten zweier Krisen den Wahlen Priorität einzuräumen. Denn das zeige schließlich ihr Desinteresse an den Forderungen der nicaraguanischen Bevölkerung.

KUGELSICHERE WESTEN HELFEN NICHT

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SAMUEL ARREGOCES
ist einer von vielen wichtigen sozialen Aktivist­*innen (líderes sociales) in Kolumbien, die bedroht werden. Er organisiert im Bundesstaat La Guajira den Widerstand der Wayuu und Afro-Gemeinden gegen die Vertreibung und Umweltzerstörung durch den Kohleabbau in der Mine von El Cerrejón. Samuel Arregoces‘ Dorf Tabaco wurde 2005 gewaltsam von der Betreiberfirma der Mine und dem kolumbia­nischen Staat vertrieben. Seitdem unterstützt er andere Gemeinden im Kampf gegen die Mine und für das Wasser im trockenen La Guajira. (Foto: Daniel Céspedes)


Seit vielen Jahren werden Sie wegen Ihres politischen Engagements bedroht. Wann fing das an?
Das erste Mal wurde ich 2011 bedroht, als wir eine Demonstration zum Gedenken an die gewaltsame Vertreibung des Dorfes Tabaco für den Ausbau der Kohlemine El Cerrejón vor damals zehn, inzwischen 19 Jahren, abhielten. Ich erhielt einen Anruf, in dem es hieß: „Vergessen Sie nicht, dass Sie eine Familie haben”. In der Zeit danach gingen die Drohungen per Telefon weiter, gleichzeitig bekam ich zum ersten Mal seltsame Textnachrichten. Im Jahr 2016 wurden die Drohungen noch intensiver, am 14. Februar bei der Vertreibung der Gemeinde Roche rief mich jemand an, um mir zu sagen, dass ich getötet werden sollte. In diesem Jahr reichte ich auch die erste öffentliche Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ein, doch die Bedrohungen gingen weiter. Ich wurde schon mehrfach von einem Auto verfolgt, teilweise bis zu mir nach Hause und eines Tages beobachtete meine Schwester, wie ein Mann, der mich verfolgt hatte, sich unserem Haus näherte. Als er sah, dass sie ihn gesehen hatte, rannte er weg.

Wie haben Sie auf diese Bedrohungen reagiert? Welche Möglichkeiten gab und gibt es?
Ich traf Vorsichtsmaßnahmen: Ich kam immer früh nach Hause und verließ es nur, wenn ich zu wichtigen Versammlungen musste. Wegen der fehlenden Reaktion der Staatsanwaltschaft suchte ich Hilfe beim Volksbildungszentrum und der Organisation Somos Defensores. Diese Organisation prüfte meinen Fall und riet mir, La Guajira zu verlassen und wenn möglich sogar Kolumbien. Aber für mich war es schon sehr schwierig, unseren Bundesstaat zu verlassen und unvorstellbar, das Land zu verlassen. Ich habe drei Monate außerhalb von La Guajira verbracht. Am Schwierigsten war für mich, dass ich mein Land wie ein Krimineller auf der Flucht verlassen musste, während die wahren Verbrecher hier bleiben durften. Dazu kam, dass es für mich sehr schwierig war, woanders Arbeit zu finden.

Gab es in Ihrem Fall Unterstützung durch staatliche Institutionen?
Im Mai 2018 wandte ich mich an die Nationale Einheit für den Schutz von Opfern von Bedrohungen (UNP). Ich füllte ein Formular aus und sie beantworteten meinen Antrag erst im November, also ein halbes Jahr später. Sie schrieben mir, dass ich nicht in Gefahr sei, weil ich ein gewöhnlicher Bürger sei. An diesem Tag fühlte ich mich sehr schlecht, weil sie leugneten, dass ich ein líder social bin. Deswegen legte ich gegen diese Entscheidung Berufung ein. Im März 2019 führten sie eine erneute Risikostudie durch und antworteten mir im August, dass ich außerordentlich gefährdet sei und, dass sie dementsprechend Sicherheitsmaßnahmen für mich treffen würden. Diese bestanden aus drei Dingen: Einem Alarmknopf, einer kugelsichere Weste und einem Mobiltelefon. Das half gar nichts, im Gegenteil: In einer kugelsicheren Weste bist du viel auffälliger und die Leute in deinem Umfeld werden unruhig. Ich habe gegen diese Entscheidung also erneut Berufung eingelegt. Weil kurz darauf jemand versuchte, in mein Haus einzudringen und schon die Gitterstäbe vor meinem Fenster verbogen hatte, überprüften sie meine Situation nochmal, aber ich habe bis heute immer noch keine Antwort erhalten.

Was macht das mit einem, ständig mit der Angst zu leben?
Es ist nicht leicht, mit diesen Bedrohungen zu leben, denn sie verändern dein Leben. Es ist traumatisch, jeden Tag mit dem Gedanken zu leben, man könnte getötet oder ein Familienmitglied verletzt werden. Wir haben uns mit der Familie zusammengesetzt und entschieden, uns zu verschulden, um uns ein Auto zu kaufen, das in dieser Situation eigentlich nicht das richtige Auto ist. Jemand aus meiner Familie hat sich bereit erklärt, immer mit mir zu fahren. Wir haben aber keine Waffe, um uns zu verteidigen. Es ist nicht der beste Sicherheitsmechanismus, aber es ist das Beste, was ich umsetzen konnte. Jedes Mal, wenn wir das Haus verlassen, wissen wir nicht, ob wir zurückkommen. In Angst zu leben ist schwierig, aber es kommt eine Zeit, in der du dich entscheiden musst und ich bin sicher, dass wir es sind, die etwas verändern und weiterkämpfen müssen. Die Regierung wird das Land nicht verändern. So viele von uns mussten ihr Leben deswegen lassen; in diesem neoliberalen, extraktivistischen Staat sind wir militärische Ziele. Ein sozialer Aktivist zu sein, gilt hier als ein Verbrechen.

Wissen Sie denn, woher die Bedrohungen kommen?
Ich bin mir nicht sicher, woher die Drohungen kommen, aber ich bin mir sicher, dass Samuel Arregoces mit niemandem ein Problem hat, außer mit dem Bergbauunternehmen El Cerrejón und dem kolumbianischen Staat. Viele Führungspersönlichkeiten, die dasselbe tun wie ich, sind getötet worden. Dazu kommt, dass die Bedrohungen immer dann kommen, wenn wir gerade in entscheidenden Verhandlungen mit El Cerrejón sind – das ist systematisch. Dabei sind die Drohungen gegen Frauen jeweils noch aggressiver. Sie richten sich gegen ihre Töchter und machen sich deren Verwundbarkeit zu Nutze. Dazu kommt, dass wir líderes sociales kaum Arbeit finden. Die Arbeitgeber denken, wir sind Gewerkschafter, die später jedes Unternehmen in Schwierigkeiten bringen. Das ist auch eine Art der Verfolgung. Ein líder social zu sein bedeutet auch, ständig Angst zu haben, dass man kein Essen mit nach Hause bringen kann, weil man nicht arbeiten kann.

Die Regierung unter Präsident Iván Duque ergreift bisher keine sichtbaren Maßnahmen gegen die selektiven Tötungen und Bedrohungen. Was verlangen Sie von Kolumbiens aktueller Regierung?
Meine Forderungen sind sehr klar: Die nationale Regierung muss die Kontinuität unserer Arbeit als líderes sociales garantieren, es ist das Wertvollste, was wir haben. Darüber hinaus sollten sie uns daran beteiligen, wenn es darum geht, Sicherheitsvorkehrungen zu entwickeln. Jetzt ist es zum Beispiel so, dass, wenn Bedrohte Schutz erhalten, es in der Regel fremde Bodyguards sind. Die kommen nun in dein Haus, kennen aber deine Familie, deine Sitten und Traditionen nicht.

Welche Verantwortung trägt ein Land wie Deutschland, dass die Kohle von El Cerrejón importiert, für die Gewalt gegen líderes sociales in La Guajira?
Deutschland trägt dazu bei, indem es Kohle aus La Guajira kauft, die mit Blut, mit Drohungen, mit Entwurzelung von Menschen und mit ihrer Trauer befleckt ist. Um diese Kohle zu kaufen, sollten sie in Deutschland Menschenrechtsstandards in den Gebieten fordern, aus denen sie gefördert wird. Viele, die in Deutschland leben, tun das mit ihren Privilegien und mit ihrer Entwicklung, wie sie es nennen. Aber sie bringen die Glühbirnen auf Kosten unseres Hungers zum Leuchten. Sie sollten sich ihre Hand auf ihr Herz legen und sich nach einer anderen Form von Energieproduktion umsehen.

„DAS SCHWEIGEN IST FATAL“

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SANDRA PALESTRO CONTRERAS
ist Soziologin, feministische Aktivistin und seit zehn Jahren Teil der nationalen Koordination des Chilenischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen (Red Chilena contra la Violencia hacia las Mujeres) (Foto: Alea Rentmeister)


Warum zielt die Bestrafung des Patriarchats für die politische Partizipation von Frauen* auf ihre Sexualität ab?
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass du so deine Intimität verlierst. Selbst brutale Schläge vergehen mit der Zeit, verwischen in der Erinnerung. Aber die sexuelle Aggression bleibt ein Leben lang in der Erinnerung. Das liegt wohl daran, dass die Sexualität etwas sehr Intimes ist, etwas, worüber wir die Kontrolle haben möchten, von dem wir wollen, dass es nur uns gehört und nur wir darüber entscheiden.

Die Männer wissen, dass die sexualisierte Gewalt die stärkste Aggression ist, die wir Frauen erleben können und deshalb setzen sie sie als Waffe bei Verhaftungen, in Kriegen und in bewaffneten Konflikten ein. Auch, um eine Botschaft an die Männer der Gruppe, zu der die Frauen gehören, zu senden: In Kriegen und Konflikten werden Frauen wie Beute behandelt.

Sie wurden während der Pinochet-Diktatur inhaftiert und haben politische sexualisierte Gewalt erfahren. Wie haben Sie es geschafft, aus der Position des Opfers herauszukommen und eine Kämpferin zu bleiben?
Das war sehr schwierig. Ich wurde im Oktober 1973, fast direkt nach dem Putsch, für einen Monat lang im Nationalstadion gefangen gehalten. Das war brutal. Mein Leben teilt sich in ein Vorher und ein Nachher, ich kann mich davon nicht mehr erholen. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mich wieder aufzubauen. 14 Jahre lang habe ich niemandem erzählt, was passiert ist.

Dann bin ich zum Psychiater gegangen, weil ich körperliche Symptome hatte: Etwas drückte auf meinen Kopf, ich litt unter Schlaflosigkeit. Ich war drei Jahre lang in Therapie und als es mir endlich gelang, das freizugeben, was mein Gehirn mir nicht zeigen wollte, habe ich die Überlebensphase begonnen.

Den Aktivismus haben Sie dennoch nie aufgegeben…
Während der 14 Jahre habe ich habe mich bis zur Erschöpfung in den Aktivismus gestürzt. Ich war zehn Jahre im Exil, 1983 kam ich zurück nach Chile. Ich habe mich mit allem in die Proteste gegen die Diktatur eingebracht und mich nicht um mich gekümmert. Erst später habe ich gemerkt, dass mir mein Aktivismus dazu diente, nicht darüber nachzudenken, was ich erlebt hatte. Ich habe auch verstanden, dass sie mich, wenn ich nicht mit dem Aktivismus weitermachen würde, tatsächlich besiegen würden.

Deshalb habe ich trotz allem, trotz der Angst, weiter in Chile gekämpft. Erst 30 Jahre nach dem Putsch, als ich im Abschlussbericht der Wahrheitskommission Valech die Zeugenaussagen der Frauen gelesen habe, habe ich verstanden: Das ist uns allen passiert. Das Ungeheure daran war das jahrelange Schweigen der Frauen darüber.

Woher kommt dieses Schweigen?
Frauen erzählen nicht. Freundinnen von mir, die auch während der Diktatur inhaftiert waren, haben bis heute nie erzählt, was sie erlebt haben. Ich denke, das hat viel mit der Sozialisierung von Frauen und der androzentrischen Kultur zu tun. Wir stellen uns selbst immer hinten an. Als ich den Valech-Bericht gelesen habe, habe ich das deutlich gespürt:

Viele von uns dachten, dass das, was uns passiert war, weniger wichtig war als die gewaltsam Verschwundenen und Hingerichteten. Wir haben also nie über die Folter und die sexualisierte Gewalt gesprochen, weil es noch Schlimmeres gab.

Frauen werden zum Muttersein sozialisiert, zur Fürsorge für die anderen. Ihnen wird ansozialisiert, dafür zu sorgen, dass die eigenen Kinder oder die Nichten und Neffen nicht erfahren, dass es diese Grausamkeiten gibt. Das ist Teil der patriarchalen Kultur. Aber wenn Frauen nicht reden und die Gewalt nicht thematisieren, dann tut sich nichts, dann bleibt sie verborgen.

Es ist so schwer darüber zu reden, es zu sagen. Aber das Schweigen ist in jeder Hinsicht fatal. Wir müssen reden, wir müssen aussprechen, was mit uns geschieht. Wir müssen keine Schuld oder Scham empfinden, nicht wir sind dafür verantwortlich, sondern andere.

Halten Sie es für wichtig, die Erinnerung an politische sexualisierte Gewalt während der Diktatur mit dem Kampf gegen die heutige zu verbinden?
Ich glaube, es ist besser, die politische sexualisierte Gewalt als ein Kontinuum zu denken. Denn es gibt eine Tendenz, zu vergleichen und dann zu sagen, dass wir uns jetzt auch in einer Diktatur befinden. Ich glaube aber, dass sich die Gesellschaft seit der Diktatur bis heute sehr verändert hat. Die Diktatur dauerte 17 Jahre und hat nichts respektiert, es gab nicht eine funktionierende Institution. Es gab keinerlei Volksvertretung, selbst Klagen wurden vom Obersten Gerichtshof abgewiesen, niemand hat uns verteidigt.

Jetzt haben wir die Möglichkeit, uns zu äußern, anzuklagen, zu fordern, es gibt das Nationale Institut für Menschenrechte, es gibt internationale Beobachter. Durch die Technik gibt es heute die Möglichkeit, zu filmen und Beweise zu liefern. Ich glaube, die Aggressionen sind nicht miteinander vergleichbar, aber sie haben den gleichen Inhalt: Sie sollen Frauen eintrichtern, dass ihnen der öffentliche Raum, der Raum für Protest und Anklage, nicht zusteht. Dass ihr Raum im Haus ist, wo sie sich um die Kinder kümmern sollen.

Sie sind sind Teil des Chilenischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen. Wie bekämpfen das Netzwerk und andere feministische Organisationen diese Form der Gewalt?
Wir können die Gewalt nicht verhindern, weil es nicht in unserer Hand liegt, die Polizei zu beeinflussen. Aber wir können den Frauen sagen, wie sie sich verteidigen, wie sie sich schützen und wie sie sich selbst bestärken können. In den letzten Jahrzehnten hat der Feminismus in Chile einen enormen Aufschwung erlebt. Zuletzt haben die feministischen Uni-Besetzungen 2018 und das Ausmaß der Demonstrationen und Streiks am 8. März 2019 ganz Chile überrascht. Und was man bei den jetzigen Protesten am häufigsten sieht, sind die grünen Tücher der Feministinnen und Mapuche-Flaggen.

Es macht sich ein Wandel in der Gesellschaft bemerkbar: Frauen nehmen jetzt als Frauen Teil, sie sind Feministinnen, sie demonstrieren und wissen, wofür sie dabei kämpfen. Das ist ein Wandel, den vor allem wir Feministinnen über Jahre hinweg bewirkt haben. Wir können zwar nicht direkt auf die Institutionen einwirken, aber wir beeinflussen die Gesellschaft und die Kultur.

Die Regierung reagiert auf die aktuellen Proteste wieder mit Repression und Menschenrechtsverletzungen. Wie gehen Sie damit um?
Die ersten Tage der Proteste, als die Regierung das Militär auf die Straßen schickte, waren ein Schock für mich. Ich hatte eine schreckliche Angst um die jungen Leute, die die Erfahrung der Diktatur nicht gemacht haben und waghalsiger sind. Sie blieben trotz der Sperrstunde draußen und ich hatte Angst, dass die Militärs sie töten würden.

Diese Tage waren sehr hart. Die Systematik der politischen sexualisierten Gewalt und der Augenverstümmelungen. Das alles wieder? Mir kam die Grausamkeit in den Sinn, die ich damals im Stadion erlebt habe: eine unverständliche und unbekannte Grausamkeit. Wir waren damals sehr jung, ich war 22 Jahre alt. Eine solche Grausamkeit kannten wir nicht. Ich habe über all die Jahre der Demokratie nachgedacht, in denen versucht wurde, die Parole „nie wieder“ zu verbreiten.

Und jetzt: wieder diese Grausamkeit, wieder diese Gewalt. Das macht mich ein bisschen hoffnungslos. Es ist, als ob die Geschichte sich im Kreis drehen würde. Es dient mir aber auch dazu, den Kampf fortzusetzen, nachzudenken und aufgrund meiner eigenen Erfahrungen darüber zu sprechen.

Welchen Einfluss hat die politische sexualisierte Gewalt auf die aktuellen Proteste?
Mich besorgt, dass wir Demonstrant*innen durch die politische sexualisierte Gewalt oder die Verstümmelung von Menschen eine immer defensivere Haltung einnehmen. Der Fokus hat sich verschoben, es geht jetzt nicht mehr um unsere sozialpolitischen Forderungen – wie ein besseres Renten- und Gesundheitssystem, eine nicht-sexistische Erziehung und so weiter – sondern vor allem um Menschenrechte, um Strafanzeigen und Anklagen. Wir verlieren also.

Wir waren Kämpferinnen gegen ein schikanierendes System und werden nun durch die Repression zu Opfern, das ist sehr beunruhigend. Das ist ein Konflikt, in dem die Regierung an Boden gewinnt. Ich denke, die Menschen, die gestorben sind oder verstümmelt wurden, müssen uns dazu motivieren, weiter für die Anliegen zu kämpfen, die die Protestbewegung ausgelöst haben.

NOCH LANGE NICHT VORBEI

Nicht lang gefackelt Die verfassungsgebende Versammlung wird mit Nachdruck gefordert Foto: Diego Reyes Vielma

Wie jeden Freitag versammeln sich die Menschen auch am 17. Januar wieder am von ihnen umbenannten „Platz der Würde“ im Zentrum von Santiago. Diesmal aber, am Tag vor dem vierteljährigen Bestehen der Proteste, füllt sich der Platz schneller als in den vorangegangenen Wochen. Unter tosendem Jubel zieht die reparierte, riesige schwarze Pappfigur des Hundes Matapacos, langjähriges Symbol der Proteste gegen das neoliberale System in Chile, durch die Menge zurück auf ihren ursprünglichen Platz – eine Woche zuvor hatten Unbekannte die Figur dort wieder einmal beschädigt. Tausende Demonstrierende verfolgen Livemusik – ein Rage Against The Machine-Protestcover der Band Arauco Rock – und die Tanzperformance des feministischen Kollektivs Capuchas Salvajes. Nachrichten über Demonstrationen in anderen Städten des Landes wie Concepción und Antofagasta machen die Runde. „Ich bin zur Demo gekommen, weil ich all das, was im Land passiert, unterstützen möchte“, erzählt die gerade einmal 12-jährige Matilde.

Seit drei Monaten versammeln sich jüngere wie ältere Menschen zu Demonstrationen, klopfen auf ihre Töpfe, tanzen, machen Musik, rufen und schwenken ihre Forderungen nach tiefgreifendem Wandel auf riesigen Transparenten durch die Städte. Ihre Forderungen sind seit dem sogenannten estallido social, dem „gesellschaftlichen Knall“ Mitte Oktober (siehe LN 546) präsent. Jeden Freitag gibt es Demonstrationen in Santiago. Jeden Freitag ist auch die primera línea („erste Reihe“) da, schützt die Demonstration so gut wie möglich vor der Repression der Carabineros und setzt sich dabei Wasserwerfern, (Tränen-) Gas, Gummigeschossen, Tritten und Schlägen aus.

Während sich die Proteste seit einigen Wochen vor allem in Santiago abspielten, sorgten die Schüler*innen Anfang des Jahres für ein neues landesweites Anfachen der Proteste: In 160 Schulen boykottierten sie die Zulassungstests für die Universitäten (kurz PSU), besetzten Schulen, blockierten die Eingänge mit Demonstrationen, verbreiteten Fotos der Prüfungspapiere über soziale Netzwerke oder stellten ihre Klassenzimmer während der Prüfungen auf den Kopf. Am 6. und 7. Januar hätten 300.000 Schüler*innen die Tests ablegen sollen. Diese sind umstritten, weil sie, so die Begründung der Koordinierenden Versammlung der Sekundarschüler*innen (ACES), die bestehenden Ungerechtigkeiten des chilenischen Bildungssystems noch verschärfen: Wessen Familie Geld hat und sich die entsprechende Schulbildung leisten kann, besteht und kann studieren; wer dagegen eine öffentliche Schule besucht, meist nicht. ACES ruft auch für die Wiederholungstermine der PSU Ende Januar zu Demonstrationen auf und fordert von der Regierung die Entwicklung einer Ersatzlösung, die sich den Dynamiken des privatisierten Bildungssystems entgegenstellt. Solche Forderungen werden von Regierungsseite bislang mit Anklagen gegen die Schüler*innen beantwortet. Myrna Villegas, Anwältin und Professorin für Strafrecht an der Universidad de Chile, zeigt sich insbesondere über die „Kriminalisierung von Jugendlichen, die die Durchführung der PSU unterbrochen oder blockiert haben, durch die Anwendung des Gesetzes über die Sicherheit des Staates“ besorgt – ein Gesetz, dessen Strafmaße in Zeiten der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet maßgeblich verschärft worden sind.

Foto: John Englart via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Foto: John Englart via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Die Polizei hatte sich im Umgang mit den teils noch minderjährigen Schüler*innen ähnlich brutal gezeigt wie mit dem Rest der Protestierenden im Land. Auch den Demonstrationen an den Schulen trat sie mit Schlagstöcken, Tränengaskartuschen und Wasserwerfern entgegen. In den Tagen der PSU erregte außerdem ein Video landesweit Aufmerksamkeit. Es zeigt, wie ein Schüler bei einer Demonstration in Santiagos Stadtteil Pudahuel von einer Polizeistreife überfahren wird. Das Chilenische Menschenrechtsinstitut (INDH) stellte eine Strafanzeige gegen Angehörige des 55. Polizeikommissariats. In Pudahuel protestierten auch noch Tage später Anwohner*innen, die Carabineros antworteten mit dem übermäßigen Einsatz von Tränen- und weiteren Gasen in Wohnvierteln. „Die Gassen hier sind so eng, dass das Gas nicht abzieht. […] Ich habe einen 28-jährigen Nachbarn, der ständig mit Sauerstoff versorgt werden muss und sein ganzes Leben schon darunter leidet. Er und seine Mutter haben sehr gelitten und hatten Angst, zu ersticken. Eine andere Nachbarin hat ein dreimonatiges Baby zu Hause. Sie musste für einige Zeit in einen anderen Stadtteil ziehen, weil man hier nicht mehr atmen kann“, schildert die Anwohnerin Anaís Labarca (22) die Situation gegenüber der Zeitung El Desconcierto.

Das Maß der Gewalt, das die Carabineros zur Unterdrückung der Proteste anwenden, hat auch trotz internationaler Aufmerksamkeit und Kritik von Menschenrechtsorganisationen (siehe LN 547) nicht abgenommen. Ende Dezember bewiesen Untersuchungen der Berufsvereinigungen der Ärzt*innen und pharmazeutischen Chemiker*innen sowie der Bewegung Gesundheit im Widerstand (MSR) Ätznatron sowie unzulässige Mengen von Pfefferspray im gelb gefärbten Wasser eines Wasserwerfers.Dani Paredes, 35-jähriger Einzelhändler aus Santiago, drückte es gegenüber der Zeitung El Comercio so aus: „Dieser Tage ist die Repression furchtbar. Die Menge an Chemikalien, die sie benutzen, um uns zu schaden ist enorm.“ 253 Menschen seien laut einer Veröffentlichung des Chilenischen Menschenrechtsinstituts (INDH) zwischen Mitte Oktober und Mitte Januar allein durch Tränengas verletzt worden, hinzu kommen Verletzungen durch weitere Gase (siehe LN 547) sowie die Chemikalien in den Wasserwerfern.

Das INDH berichtet außerdem von mehr als 2.000 Menschen, die von Geschossen der Carabineros getroffen worden sind. Die Dunkelziffer mag allerdings deutlich höher liegen, denn manche Demonstrierende haben jegliches Vertrauen in die Institutionen und somit auch in die Krankenhäuser verloren. Über 400 Personen haben durch die sogenannten Gummigeschosse Verletzungen an den Augen erlitten. In 1.445 Fällen berichtet das Institut von Menschenrechtsverletzungen in Polizeirevieren, darunter fast 200 Fälle sexualisierter Gewalt, über 400 Fälle von Folter und über 800 von exzessiver Gewaltanwendung gegenüber Gefangengenommenen. In 1.080 Fällen hat das Menschenrechtsinstitut rechtliche Schritte eingeleitet und Anzeige erstattet: die meisten wegen Folter und exzessiven Gewalteinsatzes, aber auch 17 wegen versuchten Mordes und fünf wegen Mordes. Bei solchen Zahlen ist es kaum verwunderlich, wenn Menschen aus Angst zu Hause bleiben und die Demonstrationen nicht mehr die gleiche Kraft haben wie Mitte Oktober.

Foto: Diego Reyes Vielma

Foto: Diego Reyes Vielma

Demonstrierende beobachten immer wieder heftige Fälle von Polizeigewalt: Zahlreiche Videos dokumentieren, wie ein jugendlicher Demonstrant am 21. Dezember auf der Plaza de la Dignidad aus voller Fahrt zwischen zwei zorrillos, den gepanzerten Fahrzeugen der Carabineros, eingequetscht wurde. Einige Stunden zuvor hatte der Bürgermeister von Santiago, Felipe Guevara von der rechtskonservativen Partei Renovación Nacional, ein Nulltoleranzvorgehen gegen ungenehmigte Demonstrationen angekündigt. „Nur durch ein Wunder ist er noch am Leben! Diese Barbarei […] muss aufhören!“, twitterte Marta Cortez, die Mutter des Jugendlichen, der einen Beckenbruch erlitt. Neben internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte haben auch mehrere europäische Abgeordnete inzwischen die Gewalt der Carabineros kritisiert. In einer mündlichen Anfrage an die Bundesregierung kritisiert die Abgeordnete der Linksfraktion Heike Hänsel insbesondere die Zusammenarbeit der deutschen Polizei mit den Carabineros: Seit Dezember sind deutsche Polizist*innen auf Anfrage der chilenischen Regierung zu Aus- und Fortbildungszwecken in Chile.

Obwohl internationale wie landesweite Medien die Proteste und das Ausmaß der Repression im Allgemeinen herunterspielen, schwindet die Unzufriedenheit der Menschen nicht. Laut Umfragen von Pulso Ciudadano befürworten nur 4,6 Prozent der Bevölkerung die Arbeit der Regierung. Im jüngsten Bericht des Zentrums für Öffentliche Studien (CEP), eine von chilenischen Medien vielzitierte Institution, kommt die Regierung Piñera auf gerade einmal sechs Prozent Zustimmung – ein historisches Tief seit der Rückkehr zur Demokratie. Außerdem fühlen sich immer weniger Menschen überhaupt von den politischen Parteien repräsentiert: Nur noch ein Siebtel der Befragten gab an, sich mit einer Partei identifizieren zu können.

Die Versammlungsfreiheit wird durch neue Gesetze eingeschränkt

Die Unzufriedenheit mag auch an den jüngsten Gesetzesvorhaben der Regierung liegen. Am 13. Januar hat sie mit Unterstützung der Oppositionsparteien Partido por la Democracia, der christdemokratischen DC sowie der sozialistischen PS das sogenannte Anti-Plünderungs- und Barrikadengesetz verabschiedet, welches Gefängnisstrafen von bis zu eineinhalb Jahren für Blockaden des Straßenverkehrs, Barrikadenbau, das Werfen von Steinen und weiteren Vergehen sowie Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren für Plünderungen vorsieht. Jan Jarab vom UN-Hochkommissariat für Menschenrechte kritisierte, das Gesetz mache die allgemein geltende Versammlungsfreiheit „zu einem Privileg“ und verstoße deswegen nicht nur gegen die chilenische Verfassung, sondern auch gegen internationales Recht.

Präsident Piñera verfolgt mit derartigen Vorstößen weiterhin den Diskurs von Recht, Ordnung und sozialem Frieden, versucht, die Protestierenden gegeneinander auszuspielen und mit scheinbaren Zugeständnissen wie den jüngst angekündigten Gesundheits- und Rentenreformen zu beschwichtigen.Durch eine angekündigte Reform der staatlichen Gesundheitskasse Fonasa sollen die für eine Reihe von Diagnosen garantierten maximalen Wartezeiten nun für alle Behandlungen gelten, zudem sollen die Preise für Medikamente sinken. Die Finanzierung der Reform und damit die Ernsthaftigkeit der Vorschläge sind aber unklar, zudem soll das System der privaten Krankenversicherungen nicht angetastet werden.
Auf dem Gebiet der Rentenpolitik soll es einen strukturellen Wandel geben, angekündigt sind Anhebungen der Renten für Männer um 20 Prozent, die der Frauen um 32 Prozent. Gleichzeitig sollen die Rentenbeiträge für Arbeitnehmer*innen um sechs Prozent steigen, die fortan von einer neu geschaffenen Institution verwaltet werden und je zur Hälfte an die Beitragszahlenden und einen kollektiven Rentenfond gehen sollen. Damit würde das bisherige, von der Protestbewegung kritisierte AFP-Modell zumindest angerührt, die parlamentarische Opposition bezweifelt jedoch eine grundsätzliche Veränderung des Rentensystems durch die Reform.

Dass es der Protestbewegung aber genau um diese grundsätzlichen Veränderungen geht, hat Mitte Dezember die Bürger*innenbefragung bewiesen: Zweieinhalb Millionen Menschen hatten abgestimmt, 92 Prozent von ihnen sprachen sich dabei deutlich für eine neue Verfassung aus. Fast drei Viertel stimmten außerdem für eine verfassungsgebende Versammlung bestehend aus eigens dafür gewählten Bürger*innen.

Auf parlamentarischer Ebene hat das Abgeordnetenhaus Mitte Januar wesentliche Aspekte des verfassungsgebenden Prozesses wie die Geschlechterparität, Listen für Unabhängige sowie für Indigene reservierte Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung beschlossen. Am 21. Januar wurden diese Aspekte auch vom Senat angenommen – einstimmig. Wie die Geschlechterparität und die Mitbestimmung von Unabhängigen sowie Indigenen erreicht werden kann, wird im Detail aber erst in den kommenden Wochen zwischen den Kammern ausgehandelt werden. Darüber dürfte es in den Parteien zum Teil sehr unterschiedliche Vorstellungen geben.

Viele Befürchtungen der Protestbewegung haben sich also bestätigt: Während ihre Versammlungsfreiheit durch neue Gesetze immer weiter eingeschränkt wird und sich wegen der massiven Polizeigewalt immer weniger Menschen überhaupt auf die Straße trauen, werden ihre Forderungen von der Regierung – wenn überhaupt – nur symbolpolitisch behandelt. Nach drei Monaten des Protests und der brutalen Repression verlieren mehr und mehr Menschen das Vertrauen in die politischen Parteien, die der Regierung ebenso wie die der Opposition. Dass echter Wandel nur durch eine neue Verfassung zu erreichen ist, darin ist sich der Großteil der Menschen in Chile einig. Die langsamen Fortschritte der Politik in der Aushandlung des verfassungsgebenden Prozesses machen nur wenig Hoffnung, zeigen aber vor allem, dass die Protestierenden weiter ausharren und ihren Forderungen nach einem grundlegenden Wandel Ausdruck verleihen müssen. Nicht nur bis zum Referendum am 26. April, das der aktuellen CEP-Umfrage zufolge eine große Mehrheitvon 67 Prozent für eine neue Verfassung ergeben wird, sondern gerade auch, wenn aller Voraussicht nach im Oktober die Verfassungsversammlung zusammentritt und für alle Beschlüsse eine 2/3-Mehrheit nötig sein wird, was den rechten Parteien Möglichkeiten zur Blockade eröffnet.

PIÑERA RÜSTET AUF


(Foto: Germán Andrés Rojo Arce)

„Nie wieder“, zitierte Präsident Sebastián Piñera am Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember den ehemaligen Präsidenten Patricio Aylwin nach Diktaturende 1990: „Nie wieder Angriffe auf die menschliche Würde, nie wieder Hass und Gewalt unter Chilenen!“. Diese mahnenden Worte müssten auch 30 Jahre später präsent sein, so Piñera vor versammelter Presse. Derweil ergab sich auf der durch die Demonstrierenden performativ umbenannten Plaza de la Dignidad (Platz der Würde, ehemals Plaza Italia), dem zentralen Versammlungsort der Proteste, ein völlig anderes Bild: Carabineros schossen mit Tränengaskartuschen auf die Köpfe der Protestierenden und verletzten dabei mindestens zwei Menschen lebensgefährlich, darunter ein 15-jähriges Mädchen.

Mindestens 350 Menschen wurden am Auge verletzt

Seit dem Beginn der Proteste Mitte Oktober sind die Menschenrechtsverletzungen durch Militär und Polizei allgegenwärtig. Dass es sich dabei um ein systematisches Vorgehen handelt, bescheinigen diverse Menschenrechtsorganisationen: „Die Absicht der chilenischen Sicherheitskräfte ist klar: diejenigen zu verletzen, die demonstrieren, um Proteste zu verhindern, bis hin zur Anwendung von Folter und sexueller Gewalt gegen Demonstranten“, sagte Erika Guevara Rosas von Amnesty International auf einer Pressekonferenz. Auch die UN-Beobachtungskommission sowie Human Rights Watch konstatieren in ihren Berichten schwere Menschenrechtsverletzungen, einschließlich schwerwiegender Misshandlungen wie brutale Schläge, sexueller Missbrauch und einzelne Fälle von Scheinhinrichtungen, sowie einen wahllosen und unsachgemäßen Einsatz von Anti-Riot-Waffen in unzähligen Fällen. General Enrique Bassaletti, Oberkommandierender der Carabineros des östlichen Abschnitts der Hauptstadtregion, rechtfertigte dies mit einer historisch aufschlussreichen Diagnose: „Die chilenische Gesellschaft ist an Krebs erkrankt. Und während einer Chemotherapie werden gute und schlechte Zellen getötet.“ Dieses Statement erinnert an Ex-Diktator Pinochet, der seinerzeit davon sprach, das „marxistische Krebsgeschwür“ auszurotten.

Die politische Elite versucht die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verteidigen

Im Zuge dieser „staatlich angeordneten Chemotherapie“ wurden mindestens 350 Menschen durch gezielte Schüsse mit sogenannten Gummigeschossen, die laut einer Studie der Universität Chile vor allem Mineralien und Schwermetalle wie Blei enthalten, am Auge verletzt. Mehr als 20 von ihnen haben ein oder beide Augen verloren. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission berichtet Anfang Dezember von 26 Toten (mindestens fünf durch Schüsse der Sicherheitskräfte), mehr als 20.000 Festnahmen und mindestens 11.000 Verletzten. Dennoch betont Piñera in seinen Fernsehansprachen und bei internationalen Auftritten immer wieder, dass das Vorgehen der Sicherheitskräfte allein dem Kampf gegen Gewalt und Zerstörung diene und bei der Wiederherstellung von Recht und Ordnung selbstverständlich die Menschenrechte sowie alle entsprechenden Protokolle respektiert würden. Das allerdings scheint sogar die chilenische Staatsanwaltschaft anders zu sehen: Sie ermittelt wegen Menschenrechtsverletzungen in 2.670 Fällen.

nstatt auf die legitimen Forderungen der Bürger*innen nach tiefgreifenden Veränderungen zu reagieren, versucht die politische Elite des Landes, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verteidigen, die die Mehrheit der Bevölkerung heute eindeutig ablehnt. Dafür scheinen viele Mittel recht: Zuletzt häuften sich Berichte von Hautausschlägen und Verätzungen nach dem Kontakt mit Wasser aus den Wasserwerfern. Dies wird vom Berufsverband der Ärzt*innen, dem Colegio Médico, auf Chemikalien im Wasser zurückgeführt. Die Mediziner*innen berichten außerdem vom Einsatz verbotener Gase. Demnach versprühen spezielle Fahrzeuge der Polizei ein grünes Gas, das Leberfunktionsstörungen verursacht und ein gelbes Gas, das zu 27 Prozent aus Arsen besteht und tödlich sein kann. Im Einsatz sind zudem Bomben aus gemahlenen Glassplittern, die eine Wundheilung verhindern und spezielle Granaten, die Demonstrierende beeinträchtigen sollen, indem sie sie blenden und das Gehör schädigen.

Die Regierung räumt Verfehlungen einzelner Polizist*innen ein, will von systematischen Verbrechen jedoch nichts wissen. Stattdessen lobt Piñera den mutigen Einsatz der Carabineros, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, erhöhte ihr Gehalt und verlieh ihnen Orden. Außerdem stockte er das Polizeikontingent um fast 5.000 zusätzliche Polizist*innen auf, die er aus Pensionären und Auszubildenden rekrutierte. Zudem kündigte er ein Gesetz an, mit dem das Militär in Zukunft „für den Schutz kritischer Infrastruktur“ eingesetzt werden kann, ohne dass dafür die Verhängung eines Ausnahmezustandes notwendig ist. Im Klartext bedeutet dies, dass das Militär in Zukunft nahezu beliebig gegen die sozialen Proteste eingesetzt werden kann.

(Foto: Germán Andrés Rojo Arce)

Der Diskurs von Sicherheit, Ordnung und Wahrung der Menschenrechte wird auf den Straßen täglich ad absurdum geführt. Aber auch auf legislativer Ebene wird deutlich, welchen Kurs die Regierung – und ein Großteil der parlamentarischen Opposition – wirklich eingeschlagen haben. Es wurden bereits mehre Gesetzesinitiativen eingebracht, die ganz eindeutig darauf zielen, den Repressionsapparat auszubauen – und die von Rechts wie Links Unterstützung erfahren haben. So zum Beispiel das „Anti-Plünderungs-Gesetz“. Mit Plünderungen hat dieses allerdings wenig zu tun, vielmehr geht es um die Kriminalisierung bestimmter Protestformen. Vorgesehen sind etwa Haftstrafen zwischen 541 Tagen und fünf Jahren für das Werfen von Steinen und anderen Objekten, für das Aufstellen von Barrikaden oder für die „Unterbrechung bestimmter strategischer Dienstleistungen“, wie Transport, Elektrizität, Kommunikation oder medizinische Versorgung. Streiks, zum Beispiel im Gesundheitswesen, könnten demnach als Verbrechen betrachtet und mit entsprechenden Haftstrafen belegt werden. Ebenso wie das Besetzen von Metro-Stationen – wie Mitte Oktober, als die Schüler*innen gegen die Fahrpreiserhöhung protestierten und damit die Großproteste im ganzen Land erst auslösten – oder landwirtschaftlichen Flächen, was sich gegen die Mapuche richtet. Für solche kollektiven Aktionen von Gruppen „von zwei oder mehr Personen“, sieht der Gesetzentwurf automatisch die Höchststraße von fünf Jahren für die Teilnehmenden vor, sofern diese Gruppe die strafbare Handlung „wiederholt begeht und es sich nicht um eine illegale Vereinigung handelt“.

Das Interesse an der Beibehaltung des Status Quo ist parteiübergreifend groß. 127 Abgeordnete votierten für das „Anti-Plünderungs-Gesetz“, 13 enthielten sich und nur sieben stimmten dagegen. Auch die linken Abgeordneten des Parteienbündnisses Frente Amplio, Gabriel Boric und Giorgio Jackson, votierten bei der Abstimmung im Abgeordnetenhaus für das Gesetz. Nach massiver Kritik räumten sie ein, dass dies ein Fehler gewesen sei: Sie hätten gehofft, dadurch größeren Einfluss auf den endgültigen Gesetzestext zu gewinnen.

Die primera línea, ausgestattet mit Helmen, Gasmasken, Steinen und bunten Schildern, hält die Polizei auf Abstand zu den großen Demonstrationen

Ebenfalls im Gesetzgebungsverfahren befindet sich das „Anti-Vermummungs-Gesetz“. Darin vorgesehen sind sofortige Festnahmen und 541 Tage bis drei Jahre Haft für Personen, die bei „Störung der öffentlichen Ordnung“ ihr Gesicht verbergen. Der Senat, in dem die Mitte-Links-Parteien der Opposition die Mehrheit haben, stimmte Ende November für den Gesetzesvorschlag. In großen Teilen der Protestbewegung genießen die encapuchados, die Vermummten, hingegen viel Anerkennung und Unterstützung. Die primera línea – der erste Block – besteht aus meist jungen Menschen aller sozialer Schichten, die ausgestattet mit Helmen, Gasmasken, Steinen und bunten Schildern in die Auseinandersetzung mit der Polizei gehen. Für sie und viele Demonstrant*innen ist das kein Verbrechen, sondern vielmehr eine Aufgabe: Die Polizei möglichst auf Abstand zu den großen Demonstrationen zu halten, damit diese vor Repression geschützt sind und überhaupt stattfinden können.

Der mittlerweile entlassene Innenminister Andrés Chadwick wurde Mitte Dezember wegen Menschenrechtsverbrechen zur Verantwortung gezogen. Der Kongress stimmte der Verfassungsbeschwerde zu, die die Opposition gegen Chadwick eingelegt hatte. Er darf nun fünf Jahre lang kein politisches Amt mehr bekleiden. Die Verfassungsbeschwerde gegen Präsident Piñera wurde vom Abgeordnetenhaus hingegen mit knapper Mehrheit abgelehnt. Klar ist jedoch, dass Piñera kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Die Zustimmungswerte liegen laut der Umfrage Pulso Ciudadano derzeit bei 4,6 Prozent. Sein Rücktritt ist eine zentrale Forderung der Protestbewegung, doch es sieht nicht so aus, als würde er ihr nachkommen. Stattdessen klammert er sich an die Macht – mit Repression gegen seine Gegner*innen, Symbolpolitik, Geschenken an sein Klientel, z.B. an Unternehmen, die durch die Proteste wirtschaftliche Einbußen erfahren haben, und seinem wahrscheinlich cleversten Schachzug: dem Abkommen mit der Opposition zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung.

Das Abkommen zur Bildung eines Verfassungskonvents könnte ein trojanisches Pferd sein

Mitte November einigte sich die Regierung mit den Oppositionsparteien – mit Ausnahme der Kommunistischen Partei und einiger kleiner linker Parteien – auf die Bildung eines Verfassungskonvents. Eine neue Verfassung gehört zu den Hauptforderungen der Protestbewegung, denn die aktuell gültige Magna Charta stammt aus Diktaturzeiten und ist das Fundament des neoliberalen Modells, dessen Auswirkungen die maßgeblichen Gründe für den Protest sind. Laut dem Abkommen soll die Bevölkerung bei einem positiven Ausgang einer für April geplanten Volksabstimmung im Oktober einen Verfassungskonvent wählen, der innerhalb maximal eines Jahres eine neue Verfassung erarbeiten soll.


(Foto: Diego Reyes Vielma)

Was zunächst von vielen als Erfolg der Protestbewegung interpretiert wurde, könnte sich als trojanisches Pferd entpuppen. Denn das zwischen den etablierten Parteien hinter verschlossenen Türen ausgehandelte Abkommen birgt einige Risiken. In dem Plebiszit im April soll darüber entschieden werden, wie der Verfassungskonvent zusammengesetzt sein soll: entweder zu 100 Prozent aus gewählten Delegierten oder zu 50 Prozent aus Abgeordneten im Amt. Nur die erste Option entspräche dem Charakter einer verfassungsgebenden Versammlung, wie sie die Bevölkerung fordert. Offenbar erhoffen sich die Parteien jedoch, das Ruder noch herumdrehen zu können. Sollte der Verfassungskonvent am Ende tatsächlich zur Hälfte aus amtierenden Politiker*innen bestehen, ist die Abkehr vom aktuellen System unwahrscheinlich – daran haben die Parteien kein Interesse, denn sie gehören zum kleinen Teil der chilenischen Gesellschaft, der davon profitiert. Selbst bei 100 Prozent gewählten Delegierten werden vermutlich Parteipolitiker*innen die Versammlung dominieren, denn das Wahlrecht erschwert die Teilnahme unabhängiger Kandidat*innen. Eine Dominanz von Parteipolitiker*innen könnte jegliche Veränderung im Keim ersticken, denn das Abkommen legt fest, dass alle Artikel der neuen Verfassung von einer Zweidrittelmehrheit im Verfassungskonvent angenommen werden müssen – damit haben sich die Parteien de facto ein Vetorecht eingeräumt.

Im Abkommen über den Prozess zu einer neuen Verfassung ist weder Geschlechterparität vorgesehen, noch die Beteiligung der indigenen Völker

Doch das Abkommen hat noch weitere Defizite, vor allem in Fragen der Repräsentation. Es ist weder eine Geschlechterparität vorgesehen, noch die Beteiligung der indigenen Völker. Dabei sind sowohl die feministische Bewegung, als auch die Mapuche-Bewegung zentrale Akteure der Proteste. Die Mapuche-Flagge ist auf den Demonstrationen mindestens so präsent wie die chilenische, und viele Chilen*innen solidarisieren sich mit den Forderungen nach Land und verfassungsmäßiger Anerkennung als Volk. Damit sich dies auch in der neuen Verfassung niederschlägt, fordert die Mapuche-Bewegung eine anteilige Repräsentation in der verfassungsgebenden Versammlung. Davon ist in dem Abkommen keine Rede. „Die große Mehrheit der politischen Klasse will nicht, dass unsere Völker Teil der neuen Verfassung sind. Für Gerechtigkeit und Repräsentation brauchen wir aber einen plurinationalen Staat, der auch unsere territorialen Rechte garantiert“, so Teresa Boroa, Repräsentantin der Mapuche-Gemeinde in Boyeco, gegenüber LN. Die Mapuche-Gemeinden im Süden des Landes kämpfen seit vielen Jahren um Land und Anerkennung und kritisieren ebenso lange die sozialen und ökologischen Auswirkungen des neoliberalen Wirtschaftssystems. Die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung erfährt seit einigen Wochen, was es bedeutet, gegen das herrschende System zu protestieren – in den Mapuche-Gemeinden war Polizeigewalt und juristische Verfolgung immer präsent.
Auch die feministische Bewegung hat in den letzten Wochen eindrückliche Bilder produziert, die in den sozialen Medien um die Welt gingen. Tausende Frauen nahmen gemeinsam an den Performances des Kollektivs LasTesis teil, die auf die patriarchale Gewalt durch den Staat aufmerksam machen. Die Performance „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) wird seitdem von Frauen in verschiedensten Ländern adaptiert, unter anderem in der Türkei, Kolumbien, den USA, Kenia, Spanien, Deutschland, Frankreich und Mexiko. In Chile fügen sich die Feminist*innen ebenso in die Proteste ein wie Mapuche und Umweltaktivist*innen. „Der Feminismus schließt sich diesen Forderungen vollständig an“, sagte Paula von LasTesis im Interview mit LN. „Es ist ein Irrtum, die Forderungen nach höheren Renten, einem öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem davon zu trennen. Der Feminismus fordert einen Wandel eben dieser Bereiche der Reproduktion des täglichen Lebens“, so die Aktivistin.

Dass es bei den Protesten um einen grundsätzlichen Wandel der chilenischen Gesellschaft geht, will die Regierung nicht akzeptieren. Auf die sozialen Forderungen antwortet sie und das Parlament mit Symbolpolitik, z.B. mit minimalen Erhöhungen von Mindestlohn und -rente, Einmalzahlungen an einkommensschwache Haushalte, oder der Senkung der Bezüge für die Abgeordneten. „Die Regierung versucht die Proteste auf materielle Themen zu reduzieren und weigert sich zu verstehen, dass die Menschen in den Versammlungen und Räten nicht nur über Gehälter sprechen, sondern auch über die Umwelt und die Entprivatisierung der Wasserversorgung. Sie sprechen von Parität, sie sprechen von Feminismus, sie sprechen von indigenen Völkern, von Pluralität“, meint auch Lucio Cuenca, Vorsitzender der Lateinamerikanischen Beobachtungsstelle für Umweltkonflikte (OLCA) gegenüber LN.

Am 15. Dezember sollen von fast allen Kommunen Befragungen zur neuen Verfassung durchgeführt werden. Anders als bei dem in Hinterzimmern ausgehandelten Abkommen, ist eine breite Beteiligung über die lokalen Bürger*innenkomitees geplant, die sich im Zuge der Proteste landesweit gebildet haben. Dort sollen auch Fragen zu den strittigen Punkten, wie der Beteiligung von Indigenen und Unabhängigen, gestellt werden. Die Ergebnisse lagen zum Redaktionsschluss noch nicht vor. Inwiefern diese vom Verfassungskonvent überhaupt in irgendeiner Weise berücksichtigt werden, ist jedoch noch völlig unklar.

Die Präsidentschaft von Piñera endet erst im März 2022. Bis zum Verfassungs-Plebiszit im April wird es also darauf ankommen, die Proteste und Forderungen aufrecht zu erhalten. In den letzten zwei Monaten ist das der chilenischen Bevölkerung gelungen – trotz der Versuche der Regierung, die Bewegung durch massive Repression und Symbolpolitik zu schwächen. Ob Chile 2021 eine Verfassung erhält, die mit der Ungleichheit und schlechten Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung aufräumt, bleibt indes unsicher. Vor allem, weil unklar ist, zu welchen Maßnahmen die Regierung noch bereit sein wird, wenn es darum geht, die Proteste mit Gewalt zu zerschlagen. Das aktuelle Gebaren der Sicherheitskräfte und die geplanten Repressionsgesetze verheißen diesbezüglich nichts Gutes.

„DIE WAHLEN SIND EINE FALLE“

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Adriana Guzmán Arroyo
ist Aymara, lesbisch und Feministin. Sie gehört der Organisation Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Anti­patriar­chaler Feminismus) an, die sich in Folge des Massakers im Gas-Krieg 2003 gebildet hat. Die Organisation verortet sich in den Protestbewegungen der Straße und kämpft gegen geschlechterbasierte Gewalt und für die Verteidigung indigener Territorien. (Foto: privat)


Wie würden Sie die aktuelle Situation in Bolivien beschreiben?
Wir erleben in Bolivien einen rassistischen Staatsstreich und Putsch gegen die sozialen Organisationen. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es sich um einen Putsch handelt, weil wir andernfalls eine Regierung akzeptieren würden, die sich als demokratisch ausgibt, sich aber mittels Massakern, Kugeln, illegalen Festnahmen und Prozessen durchsetzt, die zu politischen Gefangenen führen. Die De-facto-Regierung hat erzwungen, dass die Geschäfte wieder öffnen und die Kinder wieder zur Schule gehen, um zu zeigen, dass Normalität herrscht. Gemeinsam mit den von ihr kontrollierten Medien hat die De-facto-Regierung eine Kampagne gestartet, in der die sozialen Organisationen, vor allem die Frauen und Indigenen, als diejenigen dargestellt werden, die Konflikte und Chaos wollen. Das stimmt nicht. Wir wollen Gerechtigkeit. Es gibt keine Normalität, nicht nachdem mindestens 34 Menschen ermordet wurden und Straffreiheit herrscht.

Welche Formen der Repression gibt es derzeit durch die De-facto-Regierung?
Das Militär hat sich nicht vollständig zurückgezogen. In bestimmten Stadtvierteln und Gemeinden führen Polizisten viele Kontrollen durch. Polizisten in Zivil, die Mitgliedern von sozialen Organisationen die ganze Zeit folgen, die uns fotografieren, die beobachten, mit wem wir in der Öffentlichkeit sprechen. Sogar heute noch, am 9. Dezember, können sie dich anhalten, dein Handy durchsuchen und dich in eine Gefängniszelle stecken. Viele politische Anführerinnen und Anführer wurden unter erfundenen Vorwänden festgenommen. Wir leben in permanenter Angst und müssen uns ständig überlegen, worüber wir im Bus oder auf der Straße sprechen. Das betrifft sowohl indigene Frauen als auch Männer, aber besonders indigene Frauen.

Inwiefern sind indigene Frauen besonders betroffen?
Nur einen Monat nach dem Putsch haben wir als Frauen bereits viel verloren. Die Angriffe, die Gewalt, die Erniedrigung von indigenen Frauen, die pollera [Anm. der Redaktion: Rock der Aymara- und Quechua-Frauen] tragen. Aufgrund eines neuen Dekrets darf im Außenministerium zum Beispiel niemand mehr in pollera oder mit aguayo [Anm. der Redaktion: Umschlag- und Tragetuch aus gewebter Wolle] arbeiten, alle müssen Anzug und Krawatte tragen.

Die Frauen, die sich gegen Faschismus und Rassismus stellen, wurden dafür bestraft. Vor allem Aymara-Frauen, sowohl in der Stadt als auch in den indigenen Gemeinden. Wir können nicht mehr ohne Angst durch die Straßen laufen wie vor zwei Monaten, weil sich der Rassismus verschärft hat. Vor dem Putsch hat auch Rassismus existiert, aber er war nicht straffrei. Da es einen plurinationalen Staat gab, konnten sie dir nicht einfach sagen „scheiß India“ oder „geh studieren, bevor du mit mir sprichst“. Heute können sie dich voller Abscheu anschauen und den Sitzplatz wechseln. Heute können sie dich überall misshandeln und demütigen. Viele Menschen, die den Putsch nicht direkt unterstützen, nutzen den Moment, um ihren zuvor unterdrückten Rassismus herauszulassen. Heute Morgen ging ich zur Bank und hatte dort einen Streit, weil sie mir sagten, dass ich mit meinen umgebundenen Tragetüchern nicht in der Bank sein darf. Sie fragten mich, warum ich nicht lernen würde, wie man zur Bank geht? Schon jetzt hat sich unser Leben grundlegend geändert.

Welche Rolle spielt die Justiz in dieser Situation?
In dieser Zeit des Putsches mit bewaffneten Gruppen und illegalen Verhaftungen gibt es kein Gesetz. Sie, der Putsch, sind das Gesetz. Du hast niemanden, bei dem du dich beschweren kannst. Wenn ich zum Beispiel verfolgt werde, wen soll ich dann anzeigen und wo? Die Polizei, die tötet? Das Militär? Bei der Justiz, die zu Unrecht Menschen ins Gefängnis bringt? Zwei unserer Genossinnen sind im Gefängnis und werden wegen Terrorismus verfolgt. Eine von ihnen hat mit einer wiphala, der Flagge der indigenen Völker, an einem Protestmarsch teilgenommen, die andere ist ohne Anlass auf der Straße verhaftet worden.

Diese Justiz hat zum Beispiel die Mitglieder des Wahlgerichtshofes inhaftiert, obwohl noch keine Untersuchung einen Wahlbetrug nachgewiesen hat. Die Präsidentin des Wahlgerichts, María Eugenia Choque, eine indigene Aymara, die die pollera trägt, wurde verhaftet, gefoltert und im Fernsehen in Handschellen vorgeführt, so als ob sie eine große Kriminelle wäre, und ohne Recht auf Verteidigung direkt ins Gefängnis gebracht. Andererseits wurden Anfang Dezember zwei verurteilte Frauenmörder freigelassen, ein weiterer steht kurz davor. Zwölf Vergewaltiger sind straffrei geblieben. Da es kein Gesetz gibt, sind die Richter nun vermutlich korrupt. Schon vorher war die Gerechtigkeit für uns Frauen eine schwierige Sache, aber jetzt ist es schlimmer. Wenn du eine Anzeige machst, wirst du verhaftet.

Die De-facto-Regierung hat Neuwahlen versprochen …
Ich und meine Organisation denken, dass die Wahlen eine Falle sind. Entweder die Wahlen werden gar nicht stattfinden oder sie werden unter den Bedingungen realisiert werden, die die De-facto-Regierung diktiert. Momentan gibt es keine Demonstrationen und keine Straßenblockaden mehr. Das hat die De-facto-Regierung erreicht, indem sie eine Vereinbarung mit dem Gewerkschaftsdachverband COB und verschiedenen sozialen Organisationen zur Befriedung des Landes abgeschlossen und Neuwahlen versprochen hat. In dieser Vereinbarung steht, dass die Anführer der Proteste nicht verfolgt werden, aber die Regierung hält sich nicht an ihr Wort.

Wie ist angesichts dessen die Strategie der sozialen Organisationen hinsichtlich der Wahlen?
Manche meinen, dass wir gar nicht an den Wahlen teilnehmen sollten. Andere denken, dass die Partei der Bewegung zum Sozialismus (MAS, Partei des aus dem Amt geputschten Präsidenten Evo Morales, Anm. d. Red.) verschwinden sollte, aber die meisten planen sie wieder als politisches Instrument zu nutzen, denn letztendlich ist es die einzige Möglichkeit, um an den Wahlen teilzunehmen.

Im ersten Moment nach dem Putsch herrschte ein allgemeiner Terror, in dem sich unsere politischen Anführerinnen und Anführer versteckt haben. Nun sind wir in einem zweiten Moment, in dem wir verstehen, dass es uns lähmt, wenn wir uns von der Angst fressen lassen. Also streiten wir auch wieder auf den Straßen. Derzeit gibt es zwei Dimensionen des Kampfes. Zum einen Versammlungen und Diskussionen zwischen den verschiedenen Organisationen, um den Widerstand vorzubereiten. Zum anderen müssen auch die Wahlen vorbereitet und Kandidaten gesucht werden. Für uns als antipatriarchale gemeinschaftliche Feministinnen ist wichtig, dass ein Mann und eine Frau gemeinsam antreten. Wir glauben, dass Bündnisse mit der Mittelschicht nicht mehr funktionieren. Als Evo und Álvaro García Linares (ehemaliger Vizepräsident, Anm. der Red.) Kandidaten waren, repräsentierte Álvaro García die Mittelschicht. Aber die Mittelschicht ist rassistisch und erträgt nicht, dass wir nicht mehr ihre Angestellten sind. Deshalb sind sie auf die Straße gegangen und haben gesagt, dass Evo ein Diktator ist.

Als Wahlen angekündigt wurden, haben die Protestierenden die Blockaden aufgegeben. Sie haben gesagt, dass Sie die Wahlen für eine Falle halten. Wird darüber nachgedacht, wieder zu mobilisieren?
Es war ein Fehler die Blockaden aufzugeben, aber es gab auch einen sehr starken Druck und außerdem fehlende Einigkeit. Es ist nicht wie 2003 während des Gaskrieges, den wir auf der Straße durchstehen konnten. Die Organisationen sind jetzt geschwächter. Wären wir auf der Straße geblieben, wären wir allerdings gestärkt worden, denke ich. Es gibt zwei kritische Momente, die sicher zu einer erneuten Mobilisierung führen werden, weil sie nicht durch Dialog gelöst werden können: Erstens wenn sie versuchen, der MAS unter dem Vorwand von Betrug und Unregelmäßigkeiten die Zulassung als politische Partei zu entziehen – denn das ist einer der Pläne der De-facto-Regierung. Und dann am Tag nach den Wahlen, falls sie durch Stimmen oder Betrug gewinnen.

Dazu kommt noch die wachsende Empörung und Wut über die Toten, über die Straffreiheit und über die Erniedrigung durch die Gewährung einer Entschädigung von 7.000 Dollar pro Toten seitens der Regierung, wenn die Familien unterschreiben, dass sie niemals eine juristische Untersuchung anstrengen werden.

Wer sind die Gruppen im Widerstand? Sind sie sich einig in ihren Forderungen?
Es gibt verschiedene Organisationen im Widerstand gegen den Putsch: Die Kleinbauernvereinigung, indigene Organisationen, Arbeiterorganisationen und Frauenorganisationen. Natürlich gibt es Uneinigkeit. Das hängt auch damit zusammen, dass wir mehr als 13 Jahre Teil des Staates gewesen sind, in denen es große Machtkämpfe und sehr viel Konkurrenz gab, etwa um Ministerämter. Viele Anführerinnen und Anführer repräsentieren die Basis nicht mehr. Aber es gibt Gemeinsamkeiten, zum Beispiel dass die Massaker nicht hingenommen werden und die Verantwortlichen für die Toten nicht straffrei bleiben dürfen. Wir von Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Antipatriarchaler Feminismus) gehören zum Beispiel nicht zur MAS. Aber wir kämpfen gegen den Staatsstreich, gegen den Faschismus, gegen den Fundamentalismus, gegen die Zwang zur Bibel.

Gleichzeitig müssen wir auch Selbstkritik üben. Uns Feministinnen ist es wichtig, die patriarchalen Pakte von Evos Regierungszeit überwinden zu helfen. Wir haben es nicht geschafft, den Staat zu kontrollieren, die extraktivistische Politik zu beenden, den Kampf gegen Gewalt gegenüber Frauen zur Priorität zu machen. Wir haben es auch nicht geschafft, den Bergbau zu verstaatlichen, denn transnationale US-Unternehmen nehmen sich weiterhin das gesamte Erz des Landes. Ich erzähle das, weil es eine reduzierte Sichtweise des Feminismus gibt, der strukturelle Aspekte ausklammert.

Können Sie das näher ausführen?
Der Feminismus verwechselt oft die Konzepte des Patriarchats und des Machismus. Das hat auch mit der Theorie zu tun, die vor allem in Europa entwickelt wurde, wo zum Beispiel von machistischer Gewalt gesprochen wird. Luis Fernando Camacho etwa, der den Staatsstreich anführt und die reichsten Unternehmer des Landes, die Großgrundbesitzer, vertritt: Menschen wie er haben Kapital und Land, in ihrer täglichen Praxis leben sie von der Ausbeutung von Frauen in ihren Territorien, in ihren Ländern, in ihren Unternehmen, in ihren Fabriken. Sie fördern die Kultur der Gewalt der Bosse; sie vermeiden es Steuern zu zahlen, machen im Bergbau Geschäfte, haben Holzfirmen, fördern den Faschismus. So jemand ist ein Patriarch, auch wenn er wie etwa Camacho in seinen Äußerungen Frauen gegenüber sehr respektvoll ist. Evo Morales ist dagegen bekanntermaßen ein Macho: Er macht Witze über Frauen und glaubt, dass wir Frauen uns doppelt oder dreifach anstrengen müssen, um zu beweisen, dass wir fähig sind. Das ist schlimm für einen Präsidenten, aber dennoch stellt ihn das nicht auf die gleiche Stufe wie die Putschisten. Letztlich ist das Patriarchat etwas Strukturelles, das mit dem Kapitalismus in Verbindung steht, während der Machismus ein Verhalten ist.

Kann der Putsch auch eine Gelegenheit bieten, um Kritiken an Evo Morales‘ Regierung, die aus der indigenen Basis kommen, umzusetzen?
Durch den Putsch haben sich die Organisationen im Kampf, im Widerstand gegen die Unterdrückung auf der Straße getroffen. Dadurch haben wir unsere Zersplitterung erkannt. Es war auch ein Moment der Autonomie, denn nicht alle Protestierenden unterstützten Evo. Wir haben versäumt, die Führungsperson zu wechseln, auch wenn Evo ein wichtiges Symbol in diesem Prozess ist, als indigener Präsident, der von der Straße, aus der Gewerkschaft kommt. Viele haben gesagt, es geht hier nicht nur um Evo, sondern darum, unsere Organisationen wiederaufzubauen, uns wieder zu vereinen mit dem Ziel, den Staatsstreich rückgängig zu machen.

Was können wir von hier aus tun, um Sie zu unterstützen? Was erwarten Sie von Aktivist*innen und den Regierungen in Europa?
Den Putschisten ist es egal, wenn wir im Land protestieren und wenn sie uns töten. Aber die De-facto-Regierung besteht aus Geschäftsleuten, die Rohstoffe durch transnationale Unternehmen aus Europa und den USA ausbeuten lassen wollen. Der internationale Druck tangiert sie. Es ist nötig, dass ihr in Europa und USA gegen diese Unternehmen kämpft, die hier durch Bergbau und Wasserkraftwerke die Wälder zerstören. Mehr noch als uns hier zu unterstützen, brauchen wir, dass ihr dort kämpft, damit diese Unternehmen nicht mehr herkommen. Es ist wichtig, dass der Putsch und die Verbrechen auf internationaler Ebene verurteilt werden und dass die Gewerkschaften, sozialen Organisationen, politischen Parteien, Regierungen, das EU-Parlament und der US-Kongress die De-facto-Regierung als solche betrachten und nicht als demokratisch gewählte. Dieser Druck ist wichtig.

ES IST NOCH NICHT VORBEI

La marcha más grande de Chile Zur größten Demo Chiles kamen auf Santiagos Plaza Italia 1,5 Millionen Menschen zusammen (Fotos: Diego Reyes Vielma)

Wieder einmal waren es die Schüler*innen, die den Unmut der Gesellschaft auf die Straße brachten. Doch dieses Mal ging es nicht um die seit Jahren unerfüllte Forderung nach kostenloser Bildung, sondern um die jüngste Erhöhung der U-Bahn-Fahrpreise um 30 Pesos (umgerechnet etwa vier Cent). Die Schüler*innen nahmen diese zum Anlass, in organisierten Aktionen über die Drehkreuze zu springen, andere Fahrgäste zum Mitmachen zu animieren und U-Bahn-Stationen in der ganzen Stadt zu besetzen. „Evadir, no pagar – otra forma de luchar“ hallte es aus den Stationen: „Umgehen, nicht bezahlen – eine andere Art zu kämpfen.“
Die Regierung reagierte mit Repression, schickte die Polizei und ließ Schüler*innen verhaften. Angesichts der brutalen Gewalt, mit der die Polizei dabei vorging, schlossen sich viele Fahrgäste den Protesten an. Das U-Bahn-­­­­­Unternehmen schloss daraufhin nach und nach alle Stationen in der Stadt und legte damit den öffentlichen Nahverkehr lahm. Doch die Wut der Menschen, die nun irgendwo in der 6-Millionen-Metropole gestrandet waren, richtete sich nicht gegen die Schüler*innen. Überall durchbrachen Menschenmassen stattdessen die Absperrungen an den Eingängen der U-Bahn-Stationen und beteiligten sich an den Besetzungen. Am 18. Oktober eskalierte die Situation, 25 U-Bahn-Stationen gingen in Flammen auf. Auch an anderen Orten der Stadt formierten sich Proteste, Barrikaden wurden errichtet, Busse und Gebäude in Brand gesetzt, Supermärkte geplündert – nicht immer von den Protestierenden, wie sich herausstellte. Diverse Videos zeigen, wie Polizist*innen Brände legen, oder Plasmafernseher in Polizeiautos laden. Die Staatsanwaltschaft bestätigte erst kürzlich, dass viele der Feuer in U-Bahn-Stationen in für die Protestierenden unzugänglichen Bereichen ausgebrochen waren, was die Vermutung stärkt, dass sie absichtlich gelegt wurden, um die Proteste zu diffamieren.

Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre

Es mag verwunderlich klingen, dass eine Erhöhung um vier Cent eine dermaßen breite Protestbewegung in Gang setzt, doch für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung ist die Grenze des Ertragbaren damit endgültig überschritten. Etwa ein Viertel der chilenischen Erwerbstätigen verdient nicht mehr als den monatlichen Mindestlohn von umgerechnet etwa 360 Euro für eine 45-Stunden-Woche. Diese Menschen müssen schon jetzt ganze 20 Prozent ihres Einkommens für Transportkosten aufwenden. Zwei Drittel der Erwerbstätigen verdient weniger als umgerechnet 600 Euro monatlich, auch da machen vier Cent pro Fahrt einen realen Unterschied. Doch es geht um mehr: „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre“, wird die demonstrierende Bevölkerung nicht müde zu betonen.
30 Jahre sind vergangen seit dem Ende der Militärdiktatur von Augusto Pinochet. 30 Jahre, in denen es keine demokratisch gewählte Regierung, ob links oder rechts, vermochte, am von Pinochet installierten neoliberalen System zu rütteln. Nun haben die meisten Chilen*innen genug. Genug von einer Gesellschaft, in der das reichste Prozent über 30 Prozent des Vermögens verfügt, während die Hälfte der Bevölkerung gerade einmal zwei Prozent unter sich aufteilt. Genug von einem Bildungssystem, in dem Studieren für die meisten Verschuldung bedeutet. Genug von einem Gesundheitssystem, in dem sich nur Reiche eine gute Behandlung leisten können. Genug von einem Rentensystem, das Menschen nach Jahrzehnten harter Arbeit mit 200 Euro dastehen lässt, die nicht einmal für Medikamente reichen. Und genug von einer politischen Elite, die auf die Forderungen nach Reformen immer nur mit kosmetischen Veränderungen reagiert, weil sie zum obersten Prozent gehört, das von dieser Ausbeutung profitiert.

Chile Despertó Chile ist aufgewacht – und wie. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei sind teils heftig

Auch dieses Mal reagierte der rechtskonservative Präsident Sebastián Piñera statt mit substanziellen Zugeständnissen mit Diffamierung und Gewalt. Am 19. Oktober verkündete er den Ausnahmezustand, verhängte eine nächtliche Ausgangsperre und schickte das Militär auf die Straßen – Zustände wie zuletzt während der Militärdiktatur. Bei Menschen, die diese Zeit miterlebt haben, weckten die Bilder von Soldat*innen und Panzern im Zentrum Santiagos dunkle Erinnerungen. Dennoch wurden die Proteste im Laufe der folgenden Tage immer größer und breiteten sich wie ein Lauffeuer über das ganze Land aus. Als die Regierung ankündigte, die Fahrpreiserhöhung zurückzunehmen, war es für solche Angebote bereits zu spät.
Piñera verkündete, man befinde sich „im Krieg gegen einen mächtigen, unerbittlichen Feind, der nichts und niemanden respektiert und bereit ist, Gewalt und Kriminalität ohne Grenzen anzuwenden.“ Militär und Polizei verstanden das offenbar als Aufforderung. Videos im Netz zeigen die Brutalität, mit der sie während des Ausnahmezustandes im ganzen Land versuchten, die Proteste zu zerschlagen: Wahllos um sich schießende, prügelnde und folternde Soldat*innen und Polizist*innen, illegale Festnahmen von Anführer*innen der Studieren­den­bewegung, der exzessive Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern gegen friedliche Demos.

Mehrere Tote durch Militär und Polizei


Mindestens 150 Personen haben durch Gummigeschosse ein Auge verloren. Das Fazit des Nationalen Menschenrechtsinstituts (INDH) nach drei Wochen: 1.915 in Krankenhäusern behandelte Verletzte, 5.565 Festnahmen, 171 Anzeigen wegen Folter, 52 wegen sexualisierter Gewalt, fünf wegen Mordes. Insgesamt sind im Zuge der Proteste mindestens 23 Menschen ums Leben gekommen. Die Regierung bestätigte mindestens fünf durch Soldat*innen ode Polizist*innen getötete Personen, zwei weitere Menschen starben in Polizeigewahrsam. Von den meisten anderen Todes­opfern heißt es von offizieller Seite, sie wären bei Bränden im Zuge von Supermarktplünderungen ums Leben gekommen, mindestens eine der Leichen wies jedoch Schuss­verletzungen auf.

Die Regierung verbreitet Verschwörungstheorien

In den ersten Tagen der Proteste konzentrierte sich die Regierung darauf, die Proteste als kriminelle und von Venezuela orchestrierte Aktionen zu diffamieren. Die Hauptziele der anfänglichen Proteste, so Innenminister Andrés Chadwick, Cousin des Präsidenten und Pinochet-Anhänger der ersten Stunde, sei es gewesen, „zuerst unseren Nahverkehr zu zerstören und dann der Nahrungsmittelversorgung zu schaden.“ Die Bevölkerung ließ sich von solchen Verschwörungstheorien jedoch nicht beeindrucken – die Bilder von der plündernden und brandstiftenden Polizei sowie der brutalen Gewalt gegen friedliche Proteste hatten sich längst verbreitet. Auf den Vorwurf, für Tote und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein, reagierte Chadwick mit Zurückweisung: „Ich habe keinerlei politische Verantwortung für diese Situation“, sagte er gegenüber dem Fernsehkanal Mega.
Wer die Proteste in den ersten Tagen medial verfolgen wollte, merkte schnell, dass auch das chilenische Mediensystem Teil des neoliberalen Apparats ist, gegen den die Menschen protestieren. Die großen Fernsehsender Chilevisión, Mega und Canal 13 berichteten vor allem über die gewalttätige Seite der Proteste – brennende U-Bahn-Stationen, Plünderungen und angebliche Schlangen vor den Supermärkten. Über die Großdemonstrationen im ganzen Land berichteten sie, wenn überhaupt, nur mit deutlicher Zeitverzögerung. Keine große Über­raschung, denn die Berichterstattung wird zu weiten Teilen von einigen Medienkonzernen im Besitz superreicher Familien kontrolliert – genau jener superreicher Familien, gegen die derzeit protestiert wird. Der TV-Sender Canal 13 etwa gehört zu 100 Prozent dem Milliardär Andrónico Luksic, dessen Familie mit Forst- und Kupferunternehmen sowie Bankgeschäften ihr Geld gemacht hat. Die Tageszeitung La Tercera gehört dem Unternehmer Álvaro Saieh, viertreichster Chilene, Investmentbanker und von der Chicagoer Schule beeinflusster Wirtschaftswissenschaftler („Chicago Boy“). Und an dem TV-Sender Chilevisión, heute Teil von Time Warner, war Präsident Piñera – selbst Multimilliardär – bis zu seinem ersten Amtsantritt 2010 höchstpersönlich beteiligt. Auch der staatliche Fernsehsender TVN schloss sich der tendenziösen Berichterstattung an.

         Schlachtefeld Santiago Überall in der Stadt brennende Barrikaden…

Doch auch internationale Journalist*innen konnten ihrer Berichterstattung über die Proteste nicht ungehindert nachgehen. Verschiedene Medien berichteten von Polizeigewalt, Festnahmen und Schüssen auf Medienvertreter*innen. Die New York Times veröffentlichte jüngst ein Video, in dem zu sehen ist, wie ein Soldat einem Fotografen ins Bein schießt. Das argentinische Onlinemedium ANRed berichtete von drei Journalisten, die noch am Flughafen von chilenischen Sicherheitsbehörden aufgehalten und ohne rechtliche Begründung mehrere Stunden eingesperrt worden waren. La Izquierda Diario berichtet von zwei Journalistinnen, die sich vor Polizeibeamten in Arica ausziehen mussten. Das INDH hat in diesem Fall inzwischen Klage wegen Folter eingereicht.
Organisationen wie Reporter ohne Grenzen beobachten die Entwicklung mit Sorge. Umso wichtiger waren in den letzten Wochen die sozialen Medien, über welche sich Fotos und vor allem Videos von den Demonstrationen sekundenschnell und international verbreiteten. Auch die Gewalt von Polizei und Militär wurde auf Facebook und Twitter deutlich – anders als in den meisten nationalen und internationalen Medien. Die Tagesschau berichtete in Deutschland zwar von den Protesten, übernahm aber die Bilder und den Diskurs vom Vandalismus und ließ gleichzeitig unerwähnt, dass das Militär bereits Menschen erschossen hatte – obwohl dies bereits von der chilenischen Regierung bestätigt war. Die Echtheit vieler Videos im Netz ist schwer zu verifizieren, in ihrer Gesamtheit und eingeordnet in die sonstige Berichterstattung, geben sie doch ein recht eindeutiges Bild der Geschehnisse ab. Zahlreiche Videos dokumentieren die Gewalt der Carabineros und Militärs – etwa wie ein scheinbar lebloser Körper aus einem fahrenden Polizeitransporter geworfen wird, oder wie Militärs mit vorgehaltener Waffe nackte Menschen Kniebeugen machen lassen.
Doch auch die schöne Seite des Protests wird in den sozialen Medien sichtbar: Etwa die „Marcha más grande de Chile“, Chiles größte Demonstration aller Zeiten mit sechs Millionen Protestierenden im ganzen Land. Oder die nachbarschaftlichen cacerolazos während der Ausgangsperre: überall schallt am Abend das gemeinsame Schlagen von Töpfen und Pfannen aus den Häusern und Apartments der Städte. Das Teatro Municipal beschallte das nächtliche Santiago aus Protest gegen die Ausgangsperre und die Gewalt mit „El derecho de vivir en paz“ von Victor Jara. Das Lied hat sich mittlerweile zu einer Hymne der Proteste entwickelt, Videos zeigen den ergreifenden Moment, als es auf einer Demo von hunderttausenden Menschen gesungen wird.

¡Renuncia Piñera! – Piñera, tritt zurück!

Den Ausnahmezustand hat die Regierung nach neun Tagen aufgehoben. Mittlerweile sieht sie sich gezwungen, Zugeständnisse zu machen. Piñera kündigte eine „Neue Sozialagenda“ an und ersetzte Innenminister Chadwick sowie sieben weitere Kabinettsmitglieder. Doch weder diese Maßnahme noch die angekündigte Erhöhung des Mindestlohns von 360 auf 420 Euro, die Anhebung der Mindestrente von 130 auf 160 Euro, oder die Verbilligung von Medikamenten, konnten die Proteste stoppen. Das gleiche gilt für die Senkung der Abgeordnetenbezüge und eine Steuererhöhung für Monatseinkommen über 10.000 Euro.
Die Themen und Akteure der Proteste sind vielfältig, eine*n Anführer*in gibt es nicht – doch die beiden Hauptforderungen sind klar: Der Rücktritt Piñeras und eine neue Verfassung. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CADEM von Anfang November lag der Rückhalt für Piñera bei historisch schlechten 13 Prozent.
Derweil sprachen sich 87 Prozent der Befragten für eine neue Magna Charta aus – denn in der aktuell gültigen Verfassung aus Diktaturzeiten ist das neoliberale System festgeschrieben. 30 Jahre nach Diktaturende soll den Kontinuitäten aus dieser Zeit ein Ende gesetzt werden – wirtschaftlich und politisch-personell. Denn viele Mitglieder des regierenden rechten Parteienbündnisses Chile Vamos waren zum Teil schon damals, und sind es noch heute, Pinochet-Anhänger*innen. Die Abgeordnete Camila Flores von der Partei Nationale Erneuerung (RN) bekannte öffentlich, stolz darauf zu sein, pinochetista zu sein. Von der Regierung hieß es daraufhin lediglich, dies würde die Diversität des Bündnisses widerspiegeln.

…Wasserwerfer und Tränengasschwaden
Die Oppositionsparteien haben eine Verfassungsbeschwerde gegen Piñera eingelegt und fordern seinen Rücktritt. Doch auch an die Opposition hegen viele keine großen Erwartungen, insgesamt ist das Ansehen der politischen Elite schlecht. Der gemäßigten Linken hängen, wie auch der Rechten, Korruptionsskandale der letzten Jahre nach, außerdem stellte sie seit Diktaturende fast alle Regierungen und wird daher für die aktuelle Situation ebenso verantwortlich gemacht, wie das aktuell regierende rechte Lager. Und das vor wenigen Jahren als Hoffnungsträger gestartete und mit einer großen Parlamentsfraktion ausgestattete linke Parteienbündnis Frente Amplio hat durch interne Meinungsverschiedenheiten in der öffentlichen Wahrnehmung mittlerweile an Veränderungskraft eingebüßt. Dennoch sind es vor allem Abgeordnete des Frente Amplio und der Kommunistischen Partei, zum Teil ehemalige Anführer­*innen der Studierendenbewegung, wie Camila Vallejos und Gabriel Boric, die sich schnell mit den Protesten solidarisierten. Zumindest von der Regierung werden sie offenbar als parlamentarischer Arm der Bewegung betrachtet, den es zu bekämpfen gilt._ Eine Gruppe von Abgeordneten der rechten Regierungs­parteien hat deshalb nun gegen zwölf von ihnen Verfassungsbeschwerde eingereicht und versucht so, sie ihres Mandats zu entheben – mit der Begründung, die Abgeordneten hätten zur Unruhe und kriminellen Aktionen angestiftet.

Der verfassungs-gebende Prozess hat schon begonnen

Überall im Land nehmen die Menschen das Heft nun selber in die Hand und diskutieren in selbstorganisierten Räten die aktuellen Missstände und mögliche Wege hin zu einer neuen Verfassung. Favorisiert wird dabei der Weg über eine verfassungsgebende Versammlung. Rechtlich ist die Sache jedoch nicht so einfach. Verfassungsrechtler*innen sehen den nächsten Schritt in einem Plebiszit, der darüber entscheidet, ob eine solche verfassungsgebende Versammlung einberufen wird. Allerdings bräuchte es vorher eine Verfassungsänderung, um den Entscheid verbindlich zu machen. Abgeordnete der Opposition kündigten an, diesen Prozess in Gang setzen zu wollen. Wenn ein solches Plebiszit stattfindet und die Bevölkerung mehrheitlich für eine verfassungsgebende Versammlung votiert, muss jedoch weiterhin geklärt werden, wie diese ausgestaltet wird, um eine möglichst breite Beteiligung der Bevölkerung zu ermöglichen.
Bis jetzt zieht Piñera weder einen Rücktritt noch eine verfassunggebende Versammlung in Betracht. Unter dem Druck der Proteste akzeptiert die Regierung zwar nun das Ziel einer neuen Verfassung, ausarbeiten sollen sie aber Parlamentarier*innen nach einer Erfassung von Beschlüssen der Bürger*innenversammlungen. Die Bevölkerung soll nur am Ende in einem Plebiszit über die Annahme entscheiden dürfen.
Die Absage des für Chile prestigeträchtigen internationalen Klimagipfels COP25 sowie des Gipfels der Asiatisch-Pazifischen Wirtschafts­gemeinschaft APEC zeigt, dass die Regierung offenbar nicht mit einem schnellen Ende der Proteste rechnet und im Gegenteil fürchtete, ihm auch noch internationale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Zu Recht, denn auch Anfang November versammelten sich wieder Hunderttausende auf den Plätzen und forderten „Renuncia Piñera“ („Tritt zurück, Piñera“) und „Asamblea Constituyente ya!“(„Verfassungsgebende Versammlung jetzt!“). Nichts macht den Anschein, als würde sich die protestierende Bevölkerung mit weniger zufrieden geben. Sollte sie es schaffen, könnten die Proteste gegen die Fahrpreiserhöhungen der Anfang vom Ende der neoliberalen Ära in Chile gewesen sein.

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