Brasilien | Nummer 589/590 - Juli/August 2023

„Das große Thema ist der Schutz der Indigenen“

Interview mit Menschenrechtsaktivisten und -pädagogen Paulo César Carbonari

Die Amtszeit Jair Bolsonaros hat die Lage der Menschenrechte in Brasilien deutlich verschlechtert. Inzwischen ist die Regierung Lula ein halbes Jahr im Amt – Zeit für eine erste Zwischenbilanz. LN sprachen mit dem Aktivisten Paulo Carbonari von der Nationalen Menschenrechtsbewegung MNDH über die Situation der Menschenrechte und deren Verteidiger*innen.

Von Julia Ganter
Menschenrechtsverletzungen durch Polizeigewalt Gedenkakt in Rio de Janeiro für den Verschwundenen Amarildo Dias de Souza (Foto: Tomaz Silva, Agencia Publica)

Wie steht es aktuell um die Menschenrechte in Brasilien?

Wir befinden uns in einer Phase des Wiederaufbaus, auch in Bezug auf die Menschenrechte. In der Regierungszeit von Bolsonaro wurden zwar keine spezifischen Normen, Programme oder Projekte im Bereich der Menschenrechte außer Kraft gesetzt. Es gab aber einen Prozess der Umkehrung von Menschenrechten und der inneren Zersetzung von Institutionen und politischen Maßnahmen.

Können Sie ein Beispiel geben?

Bolsonaro hat den Nationalen Plan zur Menschenrechtsbildung von 2006 nicht abgeschafft, aber er hat auch nichts getan, um ihn umzusetzen. Die einzige Maßnahme, die in seiner Amtszeit ergriffen wurde, war ein 20-stündiger Online-Kurs zu Menschenrechten. Tausende von Menschen haben daran teilgenommen, aber es war ein Kurs, in dem man Paragraphen liest und dann überprüft wird, ob man sie verstanden hat. Anders gesagt: Es war ein sehr begrenztes Programm zur Menschenrechtserziehung.

Wie hat sich die Amtszeit Bolsonaros auf die Situation der Menschenrechte ausgewirkt?

Erstens gab es eine Schwächung relevanter Institutionen, die schon zuvor nicht besonders stabil waren. Brasiliens Geschichte in Sachen Menschenrechte beginnt praktisch erst mit der Verfassung von 1988. Die erste Regierung Lula hat selbst mehrere Jahre gebraucht, um ein Ministerium für Menschenrechte einzurichten, zuvor gab es unter der Regierung Fernando Henrique Cardoso lediglich ein Sekretariat. Zweitens wurde eine konservative Version der Menschenrechte, die die Rechte bereits seit der Diktatur verbreitet, durch den Diskurs von Hass und Intoleranz während seiner Regierungszeit gestärkt. Brasilien hat eine sehr konservative, rassistische, LGBTQ-feindliche Tradition. Das ist unsere historische Ausgangslage, und Bolsonaro hat sie mit seinen Reden als „Kapitän des Busches“ nur noch verstärkt. In einer Rede sagte er, seine Regierung sei für Menschenrechte, aber nur diejenigen sollten Zugang haben, die Menschenrechte auch verdienen. Damit zerstörte er buchstäblich eines der Grundprinzipien der Menschenrechte, nämlich ihre Universalität. Aus einer aktuellen Studie geht hervor, dass es während der Amtszeit der Regierung Bolsonaro 1.171 Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger gab, darunter 169 Morde. Es ist wichtig zu wissen, dass die meisten dieser Fälle im Norden und Nordosten Brasiliens stattfanden. Und mehr als 30 Prozent der Betroffenen sind indigen. Das ist besonders relevant, weil Menschenrechtsarbeit ohne Verteidiger nicht voran geht.

In den von Ihnen koordinierten Projekten Sementes de proteção – Saat der Verteidigung – und Defendendo Vidas – Leben verteidigen – werden Menschenrechtsverteidiger*innen geschützt. Wie funktioniert das?

Die beiden Projekte arbeiten im Wesentlichen mit dem Prinzip der proteção popular, dem Schutz der Basis. Wir sind der Meinung, dass lokale Organisationen eine grundlegende Rolle beim Schutz von Menschenrechtsverteidigern spielen. Diese sollten nur in Ausnahmefällen aus ihrem Umfeld genommen werden, um sie zu schützen. Die proteção popular erfolgt in drei sich ergänzenden Dimensionen. Erstens über Selbstschutz, das sind die Maßnahmen, die ein Verteidiger in seinem persönlichen Bereich ergreifen muss, um sich keinem Risiko auszusetzen. Zweitens über gegenseitigen Schutz, sowohl zwischen Einzelpersonen als auch zwischen Organisationen. Wenn also ein Verteidiger aus der Bewegung der Landlosen (MST) bedroht ist, wird die Bewegung der von Staudämmen betroffenen Menschen (MAB) der MST helfen, sie zu schützen. Auch weil es bald einen Verteidiger aus der MAB geben könnte, der Schutz benötigt. Drittens über solidarischen Schutz, mit breiter Unterstützung durch nationale und internationale Netzwerke. Diese helfen dabei, Bedrohungen öffentlichkeitswirksam zu verbreiten und Unterstützung zu mobilisieren. Dafür braucht es tiefgreifende und dauerhafte Aufklärung und eine Schulung der Bevölkerung sowie Erfahrungsaustausch.

APIB, die Vereinigung der indigenen Völker, hat Jair Bolsonaro vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Anstiftung zum Völkermord und systematischer Aktionen gegen die indigenen Völker Brasiliens angeklagt. Was erwarten Sie von einem möglichen Prozess?

Bolsonaros Handlungen als Präsident, insbesondere in Bezug auf indigene Gemeinschaften, sind typisch für Vernichtungsaktionen. Was Bolsonaro während der Pandemie getan hat, war eine Kollaboration mit dem Virus, das heißt letztlich eine Kollaboration mit dem Tod. Er wurde von der APIB vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Völkermord angeklagt. Bolsonaro hat mehrere andere Strafverfahren am Hals, aber diese Klage hat die größten Erfolgschancen. Ich denke, dass es für ihn schwierig wird, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Teilweise ist das ja auch schon passiert. Das Oberste Wahlgericht hat ihn verurteilt, sodass er zukünftig nicht mehr wählbar sein wird. Wir hoffen, dass die verschiedenen Klagen, die auch bei anderen Gerichten anhängig sind, dazu führen werden, dass er sich vollständig verantworten muss.

Wie wird sich die Amtsübernahme durch Präsident Lula zukünftig auf die Menschenrechtslage in Brasilien auswirken?

Sein Sieg ist ein wichtiger politischer Sieg, aber er geht mit zwei riesigen Herausforderungen einher. Erstens, die Überwindung all dieser Hinterlassenschaften von Bolsonaro. Zweitens die Tatsache, dass er keine Mehrheit im Kongress hat, was die Regierung zur Geisel permanenter Verhandlungen macht. Ein Beispiel dafür war die Strukturierung der Ministerien der neuen Regierung.

Was ist Lulas wichtigste Aufgabe mit Blick auf die Menschenrechtslage?

Die wichtigste politische und pädagogische Aufgabe besteht darin dem Bolsonaro-Faschismus, der in der Gesellschaft immer noch sehr stark ist, entgegenzutreten. Und zwar mit Regierungsmaßnahmen, aber auch mit zivilgesellschaftlichen Aktionen. Es geht darum, die Demokratie und die Beteiligung der Bevölkerung zu stärken. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Stärkung sozialer Bewegungen und der Arbeit von Menschenrechtsverteidigern. Es ist die soziale und gesellschaftliche Auseinandersetzung, die die Agenda der Menschenrechte voranbringen wird, auch innerhalb der Regierung, die mit anderen Bereichen der Gesellschaft im Streit liegt.

Wenden wir uns einem sehr aktuellen Thema zu, nämlich der Grenzziehung indigener Territorien. Warum ist dieses Thema unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte so wichtig?

Das wichtigste Menschenrechtsthema in Brasilien ist heute der Schutz der indigenen Völker. Der bolsonarismo hat sie zum Hauptfeindbild erklärt. Der Zugriff auf indigenes Land wäre ein Triumph gewesen, den die Regierung Bolsonaro nicht erreichen konnte, auf den die Rechte jetzt aber hinarbeitet. Das neue Gesetz des Marco Temporal legt fest, dass indigene Territorien nur dann als solche anerkannt werden können, wenn es am 5. Oktober 1988, dem Datum der Verkündung der brasilianischen Verfassung, von Indigenen bewohnt wurde. Aber nicht nur das, es erlaubt auch die wirtschaftliche Ausbeutung von indigenem Land, auch durch Nicht-Indigene. Im Grunde geht es der Agrarindustrie um die Freigabe indigener Territorien, um sie auf „legalisierte” Weise land- und forstwirtschaftlich auszubeuten, indem entweder ihre Anerkennung verhindert oder die wirtschaftliche Ausbeutung der bereits anerkannten Gebiete genehmigt wird. Positiv ist: Es gibt eine Mehrheit in der brasilianischen Gesellschaft, welche die indigenen Forderungen unterstützt und sogar die Position der neuen Regierung gegen den Marco Temporal teilt.

Sie sagten, die wichtigste Menschenrechtsfrage in Brasilien sei der Schutz der indigenen Völker. Welche sind die anderen großen Themen?

Gewalt ist ein großes Problem. Es gibt eine sehr hohe Sterblichkeitsrate bei armen, Schwarzen und am Rande der Gesellschaft lebenden Jugendlichen sowie eine hohe Gewaltrate gegenüber Frauen. Weitere Probleme sind Folter und Masseninhaftierungen. Wenn die Mehrheit der Ermordeten jugendlich, Schwarz und arm ist, so haben 70 Prozent der Inhaftierten das gleiche Profil. Es gibt also auch eine starke rassistische Komponente der Gewalt. Ich würde sagen, dass das in der Gesellschaft eher verwässert wahrgenommen wird, im Gegensatz zur Situation der Indigenen. Ein Thema wurde in der Vergangenheit nicht als Menschenrechtsthema eingestuft, ist aber aufgrund seiner Dynamik und der Verpflichtungen, die Lula eingegangen ist, zu einem geworden: Umwelt und Klima. Ein großer Teil der organisierten Zivilgesellschaft sagt, dass der Schutz des Regenwaldes eine Aufgabe ist, die mit der Bevölkerung, die im Wald lebt und sich um ihn kümmert, zusammen gedacht werden muss.. Ein wichtiges Kapitel für die Menschenrechte ist auch die Stärkung der Demokratie, der direkten Beteiligung der Bürger. Wir sagen oft, dass Menschenrechte nicht durch Stellvertretung oder Repräsentation, sondern durch direkte Beteiligung verwirklicht werden.

Eine Studie von UN Women hat gezeigt, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Brasilien nicht besonders bekannt ist. Wie kann das geändert werden?

Die Herausforderung der Menschenrechtserziehung ist groß. Jedes Kind in der Grundschule muss mit Menschenrechten in Berührung kommen, genauso wie jeder zukünftige Lehrer an der pädagogischen Fakultät Menschenrechtsunterricht haben muss, weil es ein grundlegender Teil seiner Berufsausbildung ist, aber auch ein grundlegender Teil seiner Arbeit. Das gilt für Ärzte, es gilt für Ingenieure, es gilt für alle Bereiche. Es ist von grundlegender Bedeutung, denn wir werden dem bolsonarismo und den Hassreden nicht ohne einen konsequenten Gegenpol begegnen können. Die Menschen müssen auf eine Reihe von Werten zurückgreifen, die ihren Alltag bestimmen, und die Menschenrechte können das bieten.

Über das EU-Mercosur Abkommen wird seit 20 Jahren verhandelt. Ist es mit Blick auf die Menschenrechte aktuell die schlechteste oder die beste Version des Abkommens?

Das Abkommen hat zwar Fortschritte gemacht, bleibt aber immer noch weit hinter dem zurück, was ein Abkommen im 21. Jahrhundert enthalten sollte, insbesondere im Bereich der Menschenrechte. Konkret sieht das Abkommen keine dauerhaften und formalisierten Räume für die direkte Beteiligung der verschiedenen betroffenen Akteure vor. Es ist nicht hinnehmbar, dass nur Wirtschaftsakteure die Gesprächspartner sind und der Staat als deren Gütesiegel dient. Ein weiterer Aspekt, bei dem es noch hapert, sind die Formen der Rechenschaftspflicht bei Verstößen. Sie sind schwach oder gar nicht vorhanden. Es gibt keine Instanz, bei der zum Beispiel die indigene Bevölkerung der Krenak im Landesinneren von Minas Gerais ein deutsches Unternehmen, das ihre Menschenrechte verletzt, anzeigen kann und wo diese Anzeige dann auch fair bearbeitet wird.

Was sollte getan werden, um das EU-Mercosur Abkommen zu verbessern?

Mein größter Wunsch ist, dass jedes Abkommen Menschen und Rechte über Geschäfte und Dinge stellt. Wir verpassen die Gelegenheit, uns auf eine Position zu einigen, die mit Menschenrechten im 21. Jahrhundert zusammengeht. Es gibt ein Konzeptionsproblem bei diesem Abkommen: Wäre zuerst auf Menschen und deren Rechte geschaut worden, anstatt auf Dinge und Geschäfte, wäre die Ausgangslage schon einmal eine ganz andere. Wir müssen eine neue Art des Wirtschaftens einführen, bei der das Recht nicht erst nach seiner Verletzung erfunden wird. Wir müssen damit aufhören, die Menschenrechte auf den Trümmern ihrer Missachtung zu suchen, die oft durch die Handlungen von Unternehmen verursacht werden, die heute einflussreicher sind als die meisten Staaten.

Paulo César Carbonari ist Doktor der Philosophie und Menschenrechtsaktivist. Er ist Mitglied der nationalen Koordination der Nationalen Bewegung für Menschenrechte (MNDH), Koordinator des Projekts Sementes de Protecão und des brasilianischen Netzwerks für Menschenrechtsbildung (ReBEDH), der brasilianischen Vereinigung für Menschenrechtsforschung und -weiterbildung (ANDhEP), Sozialpädagoge bei der Gesellschaft für Menschenrechte von Maranhão (SMDH) und beim Zentrum für Volksbildung und Beratung (CEAP).

Foto: Julia Ganter

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