DIE WIEDERAUFERSTEHUNG EINER LEGENDE


Foto: Berlinale

Gekleidet in einem langen, schwarz-rot gemusterten Poncho steht Chavela Vargas, ruhig und aufrecht, im Scheinwerferlicht einer kleinen Bühne. Neben ihr ein Gitarrist, der mit gehauchten Bewegungen langsam die Melodie eines Boleros erahnen lässt. Chavelas charaktervolle, in Rauch und Tequilla gereifte Stimme erklingt zunächst sanft und zart, fast zerbrechlich, wächst jedoch stetig an, wird scheinbar unaufhaltsam lauter, bis sie schließlich leidenschaftlich explodiert, in einem kaum auszuhaltenden Schmerz, wie der hemmungslose Schrei eines Betrunkenen im Vollrausch. In eigenwilligen Harmonien, singt Chavela gnadenlos nostalgisch über Liebe, Schmerz und Einsamkeit. Ein Leidensweg eingefangen von altem Videomaterial, Bildern und Interviews, womit Chaterine Gund und Daresha Kyi ein liebevolles, bewegendes und intimes Porträt gelungen ist, das für 90 Minuten Chavela wieder zum Leben erweckt.

Geboren ist Isabela Vargas Lizano 1919 in San Joaquín de las Flores, Costa Rica. Dort beginnt der Dokumentarfilm. Die Einsamkeit begleitete sie seit ihre Kindheit, berichtet Chavela hier selbst, in einem vor über 20 Jahren gedrehten und bis dato unveröffentlichten Interview. Wegen ihrer maskulinen Art und Kleidung wurde sie schon in jungen Jahren vom familiären Leben und von der Kirche ausgegrenzt. Nach der Trennung ihrer Eltern, lebte sie eine Weile bei einer Tante, bis sie mit vierzehn Jahren allein nach Mexiko Stadt zog.

Auch in Mexiko stieß Chavela Vargas wegen ihres Erscheinungsbildes auf Missfallen. Sie brach als stark rauchende, trinkende, mit Hose, Hemd und strenger Frisur auftretende Ranchera-Sängerin alle Tabus der männlich dominierten und streng katholischen Gesellschaft Mexikos der 1940er Jahre. Dennoch fand sie schnell Anschluss an die mexikanischen Kulturszene und machte Bekanntschaften, wie den mexikanischen Schriftsteller Juan Rulfo und schauspielerte sogar im Film La Soldadera vom Regisseur José Bolaños. Sie ging regelmäßig in die Cantina El Tenapa, feierte und musizierte mit José Alfredo Jiménez, einem der berühmteste Ranchera Sänger Mexikos, und lernte die Maler*innen Diego Rivera und Frida Kahlo kennen. José Alfredo Jiménez wurde zu einem engen Freund und Kollegen, dessen schmachtende Texte sie später selber sang. Leidenschaftliche Begierde und Liebeserklärungen an Frauen, diesmal von einer Frau. Mit Kahlo hatte Chavela eine kurze, liebevolle Liaison.

Chavela Vargas hatte viele Leben, viele Versionen ihres Selbst. Erinnert wird sie häufig als „die männlichste aller Rancheras Sängerinnen“, als offen lesbisch lebende Frau, die aber nie ihre Homosexualität aussprach, mit vielen Affären: Anfangs besonders gerne mit den, oft mäuschenhaften Ehefrauen von Politikern und berühmten Persönlichkeiten.

In den 60er Jahren war sie zu einer begehrten Sängerin in Cantinas und Bars geworden, blieb jedoch mit ihren ungewöhnlichen Interpretationen der mexikanischen und lateinamerikanischen Folklore eine Randfigur, die mit ihrer provozierenden Art, aber vor allem mit Tequila, sich den weiteren Karriereweg versperrte.

Mit etwa 50 Jahren verschwand Chavela Vargas aus der Öffentlichkeit. Lebte von der Wohltätigkeit ihrer Freunde und gab sich vollends dem Alkohol hin, bis sie die junge Anwältin Alicia Pérez Duarte traf. Pérez Duarte klärte nicht nur Chavelas Rechte an ihren Liedern -denn von dem Erlös aus dem Verkauf ihrer Platten hatte Chavela all die Jahre kaum etwas gesehen-, sie eroberte auch Chavelas Herz. Aus dieser, im Film sehr eindrucksvoll beschriebenen, ersten Begegnung entstand eine lange intensive Beziehung.

In ihrem Beitrag gewährt die Anwältin besonders bezeichnende und intime Einblicke in das Leben der Künstlerin. Die fortlaufend schlimmer werdenden Alkoholexzesse und ihre Brutalität, bis zu dem Moment der Kehrtwende – an die kaum noch jemand geglaubt hatte – und Chavelas musikalische Wiederauferstehung.

Denn nachdem ihre Beziehung im Tequila-Fluss ertrunken war, gelang Chavela „die Heilung“ der Trunksucht, wie sie darüber selber spricht. Mit der Hilfe von Bewunderer*innen, einer Reihe berühmter Musiker*innen und Regisseur*innen gelang ihr mit 70 Jahren das Comeback. 20 weitere Jahre triumphierte Chavela daraufhin wieder auf der Bühne und brachte es zu Weltruhm. Schließlich, im alter von 80 Jahren, sprach sie zum ersten Mal ihre Homosexualität öffentlich aus.

Mit ihren herzzerreißenden Interpretationen von Songs wie „La Llorona“, „La Macorina“, „Piensa en Mi“, ihrer tiefen rauen Stimme, wie ein Abbild ihrer persönlichen Geschichte, ist Chavela Vargas lebend zur Legende der lateinamerikanischen Musik und Heldin der Frauenbewegung Mexikos geworden. Eine Frau, die verliebt in Lieben und Singen war, dem Leben im Moment. Sie starb 2012 mit 93 Jahren in ihrer Wahlheimat Mexiko Stadt, als wahrhaft große Künstlerin.


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PERFORMANCE DER BILDER

Cuatreros ist zunächst einmal eine echte Herausforderung für die Sinne. Die argentinische Regisseurin Albertina Carri stellt die Augen und Ohren ihres Publikums nämlich auf eine echte Belastungsprobe. Mal blicken die Zuschauer auf drei, mal auf fünf kleine Bildschirme auf der ansonsten schwarzen Leinwand. Seltener wird eines der bewegten Vierecke so herangezoomt, dass es die gesamte Bildfläche einnimmt, und – wie eigentlich vom Kino gewohnt und erwartet – als audiovisuelle Einheit rezipiert werden kann. In diesen Momenten verstummt auch die Stimme der Regisseurin aus dem Off, die sonst die einzige Konstante in der rasch wechselnden, fragmentierten Bilder- und Figurenvielfalt bildet.    „Die Vervielfachung der Bildschirme soll kein ästhetisches, sondern vielmehr ein ethisches Mittel sein, bei dem verschiedene Diskurse und Möglichkeiten nebeneinanderstehen, um eine Geschichte zu bilden“, erklärt Albertina Carri die ungewöhnliche kinematografische Erzählweise.

Velázquez und seine cuatreros auf der Leinwand (Foto: Cuatreros | Rustlers)

Ausgangspunkt des Films ist die Figur und die Zeit des legendären cuatrero (Viehdiebs) Isidro Velázquez. Bevor die Polizei ihn 1967 erschoss, hatte er sie 6 Jahre lang an der Nase herumgeführt und zahlreiche erfolgreiche Raubzüge unter anderem gegen reiche Großgrundbesitzer durchgeführt. Dadurch war er in der nordargentinischen Provinz Chaco zu einem Robin-Hood-ähnlichen Volkshelden avanciert – nicht zuletzt, weil er Teile seiner Beute großzügig unter der einfachen Bevölkerung verteilt  haben soll. Da er der Polizei immer wieder entkam, schrieb man ihm gar übermenschliche Fähigkeiten zu. So wurde ihm beispielsweise nachgesagt, sich  in Luft auflösen oder in Tiere verwandeln zu können.  Bis heute legen Menschen Blumen am Ort seines Todes nieder, zahlreiche Filme und Musikstücke wurden Velázquez gewidmet.

Ein Jahr nach seinem Tod befasste sich auch Albertina Carris Vater, der Soziologe Roberto Carri, in seinem Buch „Prärevolutionäre Formen der Gewalt“ mit der politischen Motivation von Velázquez’ Banditentum, die ihn seiner Auffassung nach von anderen Gaunern unterschied. Doch beide Eltern der Regisseurin verschwanden während der Militärdiktatur, genauso wie ein Film, der auf dem Buch Roberto Carris basieren sollte und nie veröffentlicht wurde. Viel später machte sich Albertina auf die Suche nach diesem Erbe. Die kollektive Bedeutung von Isidro Velázquez, die Erinnerungen an ihren Vater und die Recherchefahrten mit ihrer Frau und dem kleinen Sohn geraten in einen Erzählstrang. Aus sozialem Antrieb, der eigenen Biographie und Fiktion ist etwas entstanden, was die Regisseurin als „Roadmovie“, aber auch als „Performance“ beschreibt. Weder der legendäre Bandit noch der verschwundene Vater oder die Erzählerin selbst tauchen auf der Leinwand auf. Stattdessen lässt Carri mit Archivmaterial der 60er und 70er Jahre parallel zu ihrer Erzählung den Kontext dieser Zeit mit der entsprechenden Bildersprache auferstehen.

Hören, Sehen, Einordnen, Bezüge imaginieren, und alles am besten gleichzeitig: Cuatreros geht an die Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit eines Publikums, das passive Berieselung gewohnt ist. Wegen ihrer Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit lassen die Bilder kaum Zeit zu erkennen, welche filmgeschichtlichen und zeithistorischen Kostbarkeiten aus Spielfilmen, Werbung, Zeichentricksendungen, Nachrichten und Interviews hier dargeboten werden. Geschweige denn, wie viel jeder einzelne Ausschnitt zu sagen hätte. Ob die Sprache dieser Bilder, Carris Beschreibung der Unmöglichkeit einen Film über Velázquez zu drehen, oder ihre sich davon abzweigenden Reflektionen die Hauptrolle spielen? Vergeblich wünscht man sich eine Taste zum Anhalten, Zurückspulen oder wenigstens zum Entschleunigen. Wehe denen, die der spanischen Originalsprache nicht mächtig und auf die englischen Untertitel angewiesen sind. Auf was soll sich das einzige Augenpaar, das wir besitzen, konzentrieren? So oder so können wir nicht alles zur Gänze wahrnehmen. Wir können auch nicht alles verstehen oder bewerten. In diesem Sinn gleicht der Film der Wirklichkeit.


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LYNCHMOB VON GOTTES GNADEN

1968 ereignete sich im Dorf San Miguel Canoa im mexikanischen Bundesstaat Puebla eines der bekanntesten Verbrechen der jüngeren mexikanischen Geschichte. Fünf junge Mitarbeiter der Universität Puebla, die für den nächsten Morgen eine Bergtour geplant hatten und deshalb die Nacht in Canoa verbrachten, wurden von einem wütenden Lynchmob der Dorfbewohner*innen angegriffen, der vom einflussreichen Pfarrer des Dorfes angestachelt und bewaffnet worden war. Drei der Universitätsmitarbeiter und der Mann, der ihnen Unterkunft gewährt hatte, wurden brutal ermordet, zwei konnte schwer verletzt entkommen. Für die Verbrechen wurden nur wenige Personen zur Rechenschaft gezogen, die Urheber des Massakers gingen völlig straffrei aus.

Fotos: IMCINE y STPC, 2002

Sieben Jahre später veröffentlichte der Regisseur Felipe Cazals einen Film über die Geschehnisse. Canoa (deutscher Titel: Hetzjagd durch Canoa), der ein großer kommerzieller und künstlerischer Erfolg wurde. Bei der Berlinale 1975 gewann der in dokumentarischem Stil gehaltene und in nicht chronologischer Abfolge erzählte Film einen silbernen Bären. Bis heute gilt er als einer der besten mexikanischen Filme aller Zeiten.

Cazals setzte mit dem Film ein Zeichen gegen religiöse Verblendung und Amtsmissbrauch weltlicher und geistlicher Würdenträger. San Miguel Canoa war 1968 trotz seiner Nähe zu Puebla ein fast komplett abgeschottetes Dorf, in dem die lokalen Autoritäten ungestört schalten und walten konnten. Vor allem der örtliche Pfarrer nutzte dies, indem er auf eigene Faust Steuern eintrieb und die Bevölkerung zur Arbeit verpflichtete, oft ohne oder nur mit sehr geringer Bezahlung.

Der Pfarrer Canoas: Hassprediger und personifiziertes Sinnbild für Amtsmissbrauch

Die zu Zeiten des Kalten Krieges allgegenwärtige Paranoia vor Kommunist*innen machte er sich zu eigen, um die Bevölkerung, die zum großen Teil aus Analphabet*innen bestand, gegen Einflüsse von außen aufzuhetzen. Nicht zuletzt, um den Bevölkerungswegzug zu stoppen, der durch seine immer höheren Tributforderungen eingesetzt hatte. Als die nichtsahnenden Mitarbeiter der Universität Puebla ins Dorf kamen, wurden sie fälschlicherweise bezichtigt, eine kommunistische Fahne an der Kirche gehisst zu haben. Die Bevölkerung wurde daraufhin von den Kirchenglocken herbeigerufen und zog mit Fackeln, Äxten und Gewehren bewaffnet als wütender Mob zur Unterkunft der jungen Männer und verübte Selbstjustiz.

Felipe Cazals verwendet in dem Film mehrere Kunstgriffe, die ihn dokumentarisch wirken lassen, obwohl er keine echten Augenzeugenberichte enthält. Interviewsequenzen verschiedener Protagonisten werden in den Ablauf des Geschehens eingeschoben, die Figur eines Bauern agiert als Augenzeuge und Erzähler. Zeit- und Ortssprünge sowie der Dreh an Originalschauplätzen vermitteln die Situation extrem realistisch. Zudem hielt sich Cazals nah an die Fakten und dramatisierte die Handlung nicht durch geschliffene Dialoge oder Nebenschauplätze. Dennoch gelang es ihm, durch die unverbraucht-naive Darstellung der zutiefst unpolitischen Universitätsmitarbeiter im Kontrast zum berechnend agierenden (manchmal aber doch etwas arg dick auftragenden) Pfarrer, Spannung und Emotionalität zu erzeugen. Die Szene, in der der entfesselte Lynchmob die wehrlosen jungen Männer durch den Ort treibt, jagt einem auch heute noch Schauer über den Rücken – vor allem, wenn man an die johlenden Massen bei Veranstaltungen rechtspopulistischer Bewegungen der Gegenwart denkt. Dass Canoa erneut auf der Berlinale gezeigt wird, kann aber auch als Fingerzeig auf die aktuelle Situation in Mexiko verstanden werden, in der Amtsmissbrauch lokaler Behörden, Morde und Gewaltausbrüche in einigen Regionen mehr denn je traurige Realität sind. So könnte zum Beispiel der Fall der 43 aus Ayotzinapa verschwundenen Studenten schon bald Stoff für einen Film liefern, der im Geiste von Canoa ein grausames Verbrechen auf der Leinwand nachzeichnet und so für die Nachwelt festhält.


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ENDLICH AUFARBEITUNG

"Wo sind sie?" - Rosa Merino und Myrna Troncoso fordern Aufklärung
“Wo sind sie?” – Rosa Merino und Myrna Troncoso fordern Aufklärung

Artikel im Spiegel, im Stern, und in der Zeit – so viel Aufmerksamkeit seitens der bürgerlichen Presse hat die Colonia Dignidad schon lange nicht mehr bekommen. Die ehemalige, von deutschen Auswander*innen in Chile gegründete Sektensiedlung, die während der chilenischen Militärdiktatur unter anderem als Folterlager, Exekutionsstelle und Waffenschmiede diente, steht derzeit im Rampenlicht. Über ihre Vergangenheit und Gegenwart wird in Deutschland breit diskutiert. Auslöser dafür ist der Film Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück, der zurzeit in den Kinos läuft. Schon mit der hochkarätigen Besetzung – Emma Watson, Daniel Brühl und Michael Nyquvist – trägt er das bis auf Ausnahmen (wie die über Jahrezehnte regelmäßige Berichterstattung der LN) stiefmütterlich behandelte Thema in die Öffentlichkeit. Aber auch abseits des Medienrummels tut sich Einiges in Bezug auf die heute Villa Baviera (Bayerisches Dorf) genannte Siedlung.
Seit der Festnahme des Sektengründers Paul Schäfer im Jahr 2005 und seinem Tod 2010 hat sich die „Kolonie der Würde“ stark verändert. Auf dem Gelände leben und arbeiten heute Opfer und Täter des totalitären Systems Colonia und deren Kinder. Es gibt ein Hotel, ein jährlich stattfindendes Oktoberfest und die Möglichkeit, sich auf dem Gelände das Ja-Wort zu geben.
Der Kontrast zur ehemaligen Colonia führt heute zu nicht unerheblichen Konflikten. Das Pinochet-Regime (1973 bis 1990) ließ dort politische Gefangene foltern und verschwinden. Schäfer und seine Führungsclique etablierten ein Terrorregime mit Zwangsarbeit, der Verabreichung von Psychopharmaka an Bewohner*innen und systematischem Kindesmissbrauch. Auf der einen Seite stehen die Bewohner*innen der Villa Baviera, die – bis 2013 mit Mitteln aus Deutschland gefördert – das Gelände zum Tourismusort umgestaltet haben. Auf der anderen Seite – ehemalige Bewohner*innen, die den schweren Schritt gewagt haben, der Colonia den Rücken zu zu kehren sowie die chilenischen Opfer und deren Angehörige. „Was uns als Angehörige von Verschwundenen stört, ist, wenn sie das Oktoberfest feiern. Vielleicht tanzen sie dann auf den Leichen unserer Angehörigen. Das ist als würden sie sich über unseren Schmerz lustig machen“, sagt Rosa Merino, die dem Verein für Erinnerung und Menschenrechte Colonia Dignidad (AMCD)  angehört. Ihr Bruder wurde im Alter von 20 Jahren in der Colonia gefoltert und ist bis heute verschwunden.
Dass die Colonia ein Ort des Unrechts war, ist heute unumstritten. Nicht nur wegen einiger chilenischer Gerichtsurteile, sondern ebenso weil deutsche Gründlichkeit auch vor Verbrechen der übelsten Sorte nicht halt macht: In der Colonia wurden 45.000 Karteikarten gefunden, die nicht nur die Spionageaktivitäten der Colonia, sondern auch die Verhöre dokumentierten. Das letzte Verhör mit Rosas Bruder Pedro ist auf den 13. Oktober 1974 datiert, danach verliert sich jede Spur. Ob er erschossen, vergiftet und dann verscharrt oder ins Meer geworfen wurde, weiß man wie bei vielen anderen Opfern der chilenischen Militärdiktatur bis heute nicht. Auf dem Gelände wurden neben Karteikarten auch mehrere, allerdings leere, Massengräber gefunden. Man vermutet, dass die Leichen verbrannt wurden und die Asche dann in einen nahe gelegenen Fluss geschmissen wurde.
2015 hat ein chilenisches Gericht angeordnet, dass auf dem Gelände der Colonia eine Gedenkstätte errichtet werden soll, um an die Gräueltaten sowohl gegen Bewohner*innen, als auch Oppositionelle der Diktatur zu erinnern. Um die aktuellen Bewohner*innen der Villa Baviera mit Opfern und Angehörigen von Opfern in einen Dialog zu bringen, fanden im Dezember 2014 in Chile und im Februar 2016 in Berlin Konferenzen statt. Dass das Auswärtige Amt diese mit eigenen Mitteln gefördert hat, stellt einen großen Wandel in der deutschen Außenpolitik dar. Bisher lag der Fokus in Bezug auf die Colonia Dignidad darauf, die ehemaligen Bewohner*innen bei ihrer Integration in die chilenische Gesellschaft zu unterstützen: „Seit vielen Jahren kümmert sich das Auswärtige Amt darum, den Menschen in der Colonia Dignidad zu helfen“, betonte Martin Schäfer, ehemaliger Botschaftsmitarbeiter in Chile und heute Sprecher des Auswärtigen Amtes auf einer Veranstaltung zur Colonia in Berlin am 25. Februar.
Über die Rolle, die das Auswärtige Amt bis in die späten 1980er Jahre spielte und heute spielen sollte, gibt es allerdings auch andere Ansichten.
Mitarbeiter*innen der Deutschen Botschaft haben sich in Chile in Bezug auf die Colonia Dignidad nicht mit Ruhm bekleckert. „Diejenigen, die es geschafft haben aus der Colonia rauszukommen – und es waren nicht wenige, die das versucht haben – mussten in die Botschaft in Santiago, weil sie keine Pässe hatten, und wurden gemeinhin bis 1985 von der Botschaft in die Colonia zurückgeschickt“, kritisiert Florian Gallenberger, Regisseur des aktuellen Films. Nicht nur deswegen gelang während des Bestehens der Colonia nur wenigen Bewohner*innen die erfolgreiche Flucht.

Emma Watson und Daniel Brühl als Lena und Daniel im Film Colonia Dignidad (Foto: Majestic / Ricardo Vaz Palma)
Emma Watson und Daniel Brühl als Lena und Daniel im Film Colonia Dignidad (Foto: Majestic / Ricardo Vaz Palma)

Das Auswärtige Amt hat also einiges an Aufarbeitung der eigenen Rolle innerhalb der Colonia zu leisten. Bisher hat sich dahingehend allerdings wenig getan. Die Akten, die darüber Aufschluss geben könnten sind mit der Begründung, dass sie die internationalen Beziehungen belasten könnten, teilweise unter Verschluss. Für Petra Schlagenhauf, die als Anwältin zur Colonia Dignidad arbeitet, ist es auch ein deutsches Thema: „Es waren Deutsche und aus dieser Sache kommt die Bundesrepublik nicht raus“. Juristisch gesehen sind die möglichen Verbrechen von Mitarbeiter*innen des Auswärtigen Amtes wie Beihilfe zu Freiheitsberaubung und zu sexuellem Missbrauch mittlerweile verjährt, dementsprechend können mögliche Täter*innen strafrechtlich nicht mehr belangt werden. Anders steht es um die politische Verantwortung. Deswegen ist eine der Forderungen der AMCD die Aufarbeitung der Rolle des Auswärtigen Amtes. Ein kleiner Lichtblick ist eine Äußerung des Regionalbeauftragten für Lateinamerika des Auswärtigen Amtes Dieter Lamlé: „Ich habe angekündigt, dass es im Bereich Aufklärung eine offenere Auslegung und Interpretation des Archivgesetzes geben wird.“ Ob diese vage Aussage auch Konsequenzen nach sich ziehen wird, hängt maßgeblich davon ab, ob es seitens der sozialen Bewegungen gelingt, genug Druck auf die deutschen Behörden auszuüben.
Auch an der bundesdeutschen Justiz gibt es Kritik: „Ich warte schon vier Jahre auf einen Termin beim Staatsanwalt“, erzählt Gudrun Müller, ehemalige Bewohnerin der Colonia, die mittlerweile in Deutschland lebt. „Es passiert nichts! Die wollen das hier am liebsten verschweigen und verstreichen lassen und dass möglichst wenig in die Öffentlichkeit kommt.“  An einer anderen Stelle scheint aber Bewegung in die juristische Aufarbeitung der Colonia Dignidad zu kommen. Hartmut Hopp, mittlerweile 70-jähriger Sektenarzt und Vertrauter von Paul Schäfer, der in Chile zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch verurteilt wurde, scheint langsam aber sicher auf dem Weg ins Gefängnis zu sein. Hopp flüchtete 2011 aus Chile, um eben dieser Verurteilung zu entkommen, und lebt seither von der deutschen Justiz weitgehend unbehelligt in Krefeld. Ein Auslieferungsantrag der chilenischen Justiz wurde ablehnend beschieden, da Deutschland keine eigenen Staatsbürger*innen ins Ausland ausliefert. Nach Informationen des Spiegel liegt der Staatsanwaltschaft Krefeld aber seit über einem Jahr ein Vollstreckungsersuchen aus Chile vor, das beantragt, dass Hopp seine Haftstrafe in Deutschland verbüßen muss. Um dies umzusetzen muss das Landgericht Krefeld überprüfen, ob Hopp in Chile ein Verfahren unter Wahrung der Beschuldigten- und Angeklagtenrechte hatte, was allem Anschein nach der Fall ist. „Ich bin vorsichtig optimistisch“ sagt Petra Schlagenhauf. Sollte das Ersuchen positiv beschieden werden, würde mit Hopp ein weiterer Vertreter der Colonia Dignidad hinter Gittern landen – in Chile sitzt mittlerweile ein gutes Dutzend Täter in Haft.
Wie die Aufarbeitung der Colonia Dignidad weitergehen wird und ob die Forderungen der sozialen Bewegungen umgesetzt werden, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Die Erinnerung in Form einer Gedenkstätte wird in irgendeiner Form umgesetzt werden. „Sowohl wir Chilenen als auch die Colonos wollen Veränderungen. Unter diesen Veränderungen ist auch eine Gedenkstätte. Das bedeutet, dass unser Kampf als Angehörige von Verschwundenen und Exekutierten nicht umsonst war“, so Rosa Merino nach Abschluss des Seminars in Berlin. Die Ankündigung des Regionalbeauftragten Lamlé und die juristischen Fortschritte  lassen auf positive Veränderungen hoffen.


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ORT DES GRAUENS

Michael Nyquist und Emma Watson als Sektenchef Paul Schäfer und Lena (Foto: Majestic / Ricardo Vaz Palma)
Michael Nyquist und Emma Watson als Sektenchef Paul Schäfer und Lena (Foto: Majestic / Ricardo Vaz Palma)

Wäre da nicht die politische Brisanz des Themas,  man müsste über diesen Film nicht lange reden. Doch mit Colonia Dignidad – Es gibt kein zurück thematisiert Regisseur Florian Gallenberger ein dunkles Kapitel deutsch-chilenischer Geschichte, das bis heute nicht aufgearbeitet ist. Das öffentliche Interesse an der früheren deutschen Sektensiedlung im Süden Chiles ist dank des Films bereits sprunghaft gestiegen, im besten Fall könnte dadurch die dringend notwendige Aufarbeitung der Verbrechen beschleunigt werden. Irrelevant ist er also keineswegs. Doch zu einem guten Film macht ihn das noch lange nicht. Die in Starbesetzung inszenierte Eventkino-Mischung aus dokumentarischem Politthriller und fiktiver Liebesgeschichte funktioniert nicht wirklich.
Der deutsche Fotograf Daniel (Daniel Brühl) lebt seit einigen Monaten in Santiago de Chile und engagiert sich als Anhänger des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende in der linken Studierendenbewegung. Seine Freundin Lena (Emma Watson) arbeitet als Stewardess bei Lufthansa und stattet ihm einen Überraschungsbesuch ab. Was als Liebesschmonzette in Daniels Wohnung beginnt, wandelt sich wenige Tage später zum Alptraum. Im Zuge des Militärputsches am 11. September 1973 werden die Beiden auf der Straße verhaftet und ins Nationalstadion gebracht. Der berüchtigte „Kapuzenmann“, ein Überläufer mit verdecktem Gesicht, identifiziert Daniel als Urheber studentischer Pro-Allende-Plakate. Daraufhin verschleppen die Militärs den jungen Fotografen in die Colonia Dignidad, wo er brutal gefoltert wird und anschließend verbleiben muss. Doch er ist intelligenter als seine Peiniger und täuscht einen durch die Folterung erlittenen Hirnschaden vor. Dadurch kann er sich vergleichsweise frei bewegen, denn niemand nimmt ihn ernst.
Um ihren Freund zu retten, tritt Lena als fromme Glaubensschwester getarnt kurzerhand der Sekte bei – und verschwindet hinter dem Eisentor der hermetisch abgeriegelten „Kolonie der Würde“. Aufgrund der strikten Geschlechtertrennung dauert es eine Weile, bis sie ihren Freund wiedersieht. Als Juntachef Augusto Pinochet die Kolonie besucht und sich Frauen und Männer aus diesem Anlass kurzzeitig Fahnen schwenkend in einer „bunten Reihe“ vermischen, nimmt sie heimlich Kontakt zu Daniel auf. Gemeinsam schmiedet das Liebespaar Fluchtpläne.
Für einen Thriller ist die fiktive Handlung wohl zweckdienlich, für sich genommen aber recht plump. Allzu durchschaubare Spannungselemente und genau dosierte Schockeffekte treiben die Geschichte voran. So wenig der Plot überzeugt, so beeindruckend sind allerdings die Einblicke in das Innere der Sekte, die vor allem von ehemaligen Bewohner*innen stammen, mit denen der Regisseur Gallenberger bei seinen Recherchen ausführlich gesprochen hat. Der Sektenalltag erzeugt eine Beklemmung, der man sich kaum entziehen kann. Überwiegend aus der Sicht von Lena schildert der Film, wie die Bewohner*innen täglich Psychopharmaka verabreicht bekamen, ohne Lohn hart arbeiten und sich gegenseitig bespitzeln mussten sowie bei von Sektenchef Paul Schäfer festgestelltem Fehlverhalten grausamen Prügelstrafen ausgesetzt waren. Dazu reichte es schon, sich nur für das andere Geschlecht zu interessieren. Denn Sexualität auszuleben war strengstens verboten, außer für den von Michael Nyqvist meisterhaft gruselig verkörperten Schäfer selbst, der regelmäßig kleine Jungen missbrauchte.
Regisseur Florian Gallenberger und Produzent Benjamin Herrmann wollten explizit den Mikrokosmos der Colonia Dignidad in den Fokus des Films rücken. Die politischen Zusammenhänge werden dennoch immer wieder angedeutet. Etwa, dass der chilenische Geheimdienst DINA gemeinsam mit Mitgliedern der Sektenführung auf dem Gelände politische Gefangene folterte. Oder dass dort Waffen und Giftgas produziert wurden und die deutsche Botschaft als Komplizin der Sekte auftrat. Aber diese angeschnittenen Kontextualisierungen wirken manchmal banalisierend. Zum Beispiel als sich Schäfer bei Pinochets Besuch mit den Militärs vor den winkenden Bewohner*innen nebenbei über die Produktion von Waffen und Giftgas austauscht und laut darüber nachdenkt, den chemischen Kampfstoff Sarin an dem minderbemittelten Daniel zu testen. Dieses Vorhaben gibt den letzten Ausschlag zur unmittelbaren Flucht durch das unterirdische Tunnelsystem. Dank der zu Schäfer haltenden deutschen Botschaft und dem Lufthansa-Kapitän aus Lenas Team, mündet das Ganze in einen völlig überzeichneten Showdown am Flughafen. Zusätzliche Fakten liefert erst der Abspann, der es leider versäumt zu erwähnen, dass einige der Täter*innen noch immer frei herumlaufen und sich wie der Sektenarzt Hartmut Hopp teilweise nach Deutschland abgesetzt haben. Der Sache ist der Film dennoch dienlich. Denn auch wenn das gewählte Genre dem historischen Thema nicht gerecht wird, sensibilisiert der massentaugliche Film wahrscheinlich mehr Menschen als es Sachbücher oder Vortragsreisen jemals könnten.
Wer mehr über die Geschichte der Sektensiedlung und die juristische Aufarbeitung erfahren will, sollte zu dem neuen Buch von Dieter Maier greifen. In Colonia Dignidad – Auf den Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile trägt der Frankfurter Autor die bekannten Fakten zu diesem Ort des Grauens zusammen. Er beschreibt, wie der in Deutschland wegen Kindesmissbrauch gesuchte Sektenchef Paul Schäfer 1961 mit hunderten Anhänger*innen nach Chile übersiedelte und dort ein ausgeklügeltes Terror- und Überwachungssystem errichtete. Mit dem Wahlsieg des Sozialisten Salvador Allende 1970 entwickelte sich die Sekte „zur Bastion eines kreolischen Faschismus“. Wie auch der Film zeigt, nutzte der chilenische Geheimdienst DINA die Kolonie nach dem Putsch dann unter anderem als Haft- und Folterzentrum sowie Vernichtungslager.
Kaum jemand kennt sich mit der Geschichte der Colonia Dignidad besser aus als Maier. Gemeinsam mit Jürgen Karwelat publizierte er bereits 1977 bei der bundesdeutschen Sektion von Amnesty International die Broschüre Colonia Dignidad – deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA. Es war die erste Veröffentlichung, die den Zusammenhang zwischen Colonia Dignidad und chilenischem Geheimdienst offenlegte. Mittels ihres deutschen Ablegers verklagte die Sektensiedlung daraufhin die Menschenrechtsorganisation und das Magazin Stern, das fast zeitgleich über das Thema berichtet hatte. Der Prozess wurde in Bonn immer wieder verschleppt, bis er 20 Jahre später deshalb beendet wurde, weil die Klägerin nicht mehr existierte. Amnesty wurde also freigesprochen, blieb aber auf den Kosten sitzen.
In den vergangenen Jahrzehnten bemühten sich vor allem engagierte Personen wie Maier und andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen um die Aufklärung der Verbrechen. Unter dem Pseudonym Friedrich Paul Heller, das er ursprünglich zu seinem Schutz gewählt hatte, veröffentlichte Maier bisher zwei Bücher über die Sekte, ein weiteres erschien klandestin in Chile noch während der Diktatur 1988. Sein neues Buch baut auf diese Vorarbeiten auf und ergänzt neue Erkenntnisse.
Maier beleuchtet auch die Zeit nach der Diktatur und die aktuellen Debatten um eine Aufarbeitung der Verbrechen. Ganze fünf Jahre dauerte es, bis sich die chilenische Justiz und Polizei zu ersten, zaghaften Durchsuchungen des Geländes durchringen konnten. Doch erst nach Schäfers Verhaftung in Argentinien 2005 wurden (leere) Massengräber und umfangreiche Waffenverstecke entdeckt. Die Villa Baviera (Bayerisches Dorf), wie die unter anderem mit deutschen Fördergeldern zum bizarren Touristenziel gewandelte Siedlung heute heißt, ist noch immer eine Enklave, in der etwa hundert der einstigen Sektenmitglieder weiterhin leben. Die chilenischen und deutschen Opfer betreiben keine gemeinsame Erinnerungskultur. Für erstere steht die Colonia als Teil des staatlichen chilenischen Repressionsapparat primär auf der Täterseite, während zweitere sich selbst als Opferkollektiv sehen. „Das System Schäfer, in dem jeder schlagen und schuldig werden musste, haben die heutigen Bewohner der Siedlung nie aufgearbeitet“, schreibt Maier. Sein außerordentlich kenntnisreiches Buch, das an einigen Stellen etwas ausführlicher hätte ausfallen können, sieht er als Zwischenstand. Nach wie vor kommen regelmäßig neue Informationen ans Licht, zuletzt etwa ein aus 45.000 Karteikarten bestehendes Geheimarchiv mit Informationen über politische Gefangene, Politiker*innen und Besucher*innen der Kolonie, die erst noch ausgewertet werden müssen.
Schäfer selbst starb 2010 in Haft, doch erledigt ist die Sache damit nicht. Viele Details sind nach wie vor ungeklärt. Zum Beispiel, wie viele Menschen in der Colonia Dignidad gefoltert wurden und verschwunden sind, wie umfangreich die Waffenproduktion war und wie viel Schuld die deutsche Politik auf ihren Schultern trägt. Das Auswärtige Amt hat noch längst nicht alle Akten dazu freigegeben, Täter wie Hartmut Hopp laufen zudem frei herum. In Chile mittlerweile zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, lebt der frühere Sektenarzt seit seiner Flucht 2011 nahezu unbehelligt in Krefeld. Noch immer prüft die Staatsanwaltschaft, ob Hopp seine Strafe in Deutschland absitzen muss. Laut Medienberichten könnte durch das gestiegene Interesse an dem Fall nun endlich Bewegung in die Causa kommen. Sollte Hopp doch noch in Deutschland hinter Gittern landen, wäre das ein wichtiger Schritt. Und ein Signal für die dringend notwendige weitere Aufarbeitung.


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„DIE OPFER SAGEN, DASS DIESER FILM SIE ERNST NIMMT“

Herr Gallenberger, Sie haben mit John Rabe schon ein Historiendrama vorgelegt. Nun also Colonia Dignidad. Beide Filme haben mit Kapiteln der deutschen Überseegeschichte zu tun. Was hat Sie zu Colonia Dignidad bewogen?
Florian Gallenberger: Ich wollte diese Geschichte aus ihrem Dunkel herausholen. Sie ist zwar nicht gänzlich unbekannt, ihre wahre Dimension aber kennt kaum jemand. Ich finde, dass sie zu skandalös, zu wichtig und auch zu aktuell ist, als dass man sie einfach so im Treibsand der Geschichte verschwinden lassen kann. Und natürlich sollte den Leuten, die dort teilweise unverschuldet in Leid hereingerutscht sind, eine Anerkennung zukommen, indem man ihre Geschichte erzählt. Das betrifft zum einen die politischen Gefangenen, die gefoltert wurden, und zum anderen diejenigen, die in die Colonia Dignidad hineingeboren wurden.

Herr Brühl, wollen Sie, dass dieser Film auch in die Debatte in Deutschland interveniert, dass er hier die Leute zum Nachdenken und Nachfragen animiert?
Daniel Brühl: Das ja. Florian hat sich ja entschieden, diese Geschichte in eine Thriller-Handlung zu packen. Und dass so ein Film eine Aufmerksamkeit für das Thema erst einmal erzeugen kann, glaube ich schon. Darüber hinaus muss aber noch viel passieren. Aber man muss sich natürlich auch beeilen. Das ist so wie mit all diesen Nazis, die nun wegsterben. Wenn man zu lange wartet, dann gibt es irgendwann keine Überlebenden mehr.

Hat dieser Film also auch einen politischen Anspruch?
Gallenberger: Ja, durchaus. Und ich weiß auch gar nicht, warum man oft denkt: „Oh, das ist ja ein politischer Film, obwohl er auch spannend und unterhaltend ist.“ In Deutschland gibt es in manchen Köpfen diesen Grundsatz, dass, wenn etwas politisch relevant ist, dann dürfe es nicht unterhaltend sein. Ich finde das nicht. Wenn ein Film spannend ist und mich fesselt und ich zwei intensive Kinostunden erlebe, dann tut das doch dem historischen Gehalt keinen Abbruch.

Herr Brühl, Sie hatten in Ihrer Kindheit Kontakt zu Exilchilen*innen, die in Köln mit Ihrer Familie befreundet waren. Nun sind Sie Hauptdarsteller in einem Film über die Colonia Dignidad. Wie sind Sie sich des Themas in all seinen Dimensionen denn bewusst geworden?
Brühl: Ich kann mich erinnern, dass das Thema der Colonia Dignidad zu Hause besprochen wurde. Als die ganze Sache in Chile dann aufflog, war das natürlich auch ein Pressethema. Aus dieser Zeit kann ich mich an längere Pressetexte erinnern, ich glaube auch ein Interview mit Betroffenen. Dann ist das Thema aber auch schnell wieder verschwunden.

Herr Gallenberger, für John Rabe waren Sie zwei Jahre in China. Wie lange waren Sie in Chile?
Gallenberger: Ich war über vier Jahre hinweg dort, jedes Jahr etwa zwei Mal. Ich bin auch jedes Mal in die Colonia Dignidad gefahren, die jetzt Villa Baviera heißt, Bayerisches Dorf. Dort habe ich Bekanntschaften und sogar Freundschaften mit den jüngeren Bewohnern geschlossen, die heute Mitte dreißig bis Mitte vierzig sind. Ab einem gewissen Punkt haben die mir dann so vertraut, dass sie wirklich ausgepackt haben. Viele Szenen, viele Momente aus dem Film sind eins zu eins aus diesen Gesprächen entstanden.

Die Recherche vor Ort überlassen viele Regisseure ja Dritten. Wollten Sie diese Arbeit selber machen oder mussten Sie sie übernehmen, etwa aus Budgetgründen?
Gallenberger: Nein, ich schreibe ja auch selber. Um die Drehbuchvorlage des Autors Torsten Wenzel weiterentwickeln zu können, um die Figuren finden zu können, musste ich das so machen. Allein, wenn ich an die Person Paul Schäfer denke – um so eine Figur zeichnen zu können, ist es so wichtig, von den Leuten, die mit ihm gelebt haben, die unter ihm gelitten haben, zu hören, wie er gewesen ist. Wenn ich diese Kenntnisse nicht gehabt hätte, dann hätte ich viele dieser Entscheidungen nicht treffen können.

Im Film selbst ist diese Handlung ja in eine fiktive Rahmenhandlung eingebunden. Es gab Kritiker*innen, die gesagt haben, dieser Mix haue so nicht hin. Wie haben Sie das empfunden?
Brühl: Dass das ein Balanceakt ist, das war schon immer klar. Es gibt Themen, bei denen ist die Herangehensweise dem Regisseur überlassen. Mir war schon klar, warum Florian das so machen will, warum er das Thema auch „verdaubar“ machen will, weil das alles, so wie es wirklich stattgefunden hat, dem Zuschauer eigentlich nicht zuzumuten ist. Im Endeffekt sind das aber Fragen, die müssen Sie dem Regisseur stellen.

Herr Gallenberger, denken Sie, dass Ihr Genremix aufgeht?
Gallenberger: Nach der Weltpremiere in Toronto kam die Kritik, der Film würde den Opfern nicht gerecht werden, weil man sie nicht ernst genug nimmt. Dazu muss ich sagen, dass wir in Toronto auch eine Handvoll Colonos, also Sektenmitglieder, dabei hatten, die den Film dort gesehen hatten. Wir hatten selbst beim Drehen einen Colono dabei, der uns beraten hat. Er war auch bei der Weltpremiere in Toronto anwesend. Und er sagte, der Film sei für ihn wahnsinnig intensiv gewesen, weil er sich in diese Zeit zurückversetzt gefühlt habe, er sie auf zum Teil quälende Weise noch einmal erlebt hat. Aber jetzt war die Geschichte auf einmal auf der Leinwand. Und diese Distanz zwischen sich und der Leinwand, die hat in ihm ein Gefühl neuer Freiheit geschaffen. Wenn die Opfer sagen, dass der Film sie ernst nimmt, dann bedeutet das für mich mehr, als wenn ein Journalist anderer Meinung ist.

Der Film handelt von dem Mikrokosmos der Colonia Dignidad. Daneben gibt es den Makrokosmos mit all dem, was drumherum in Chile geschehen ist. Kann man das alles adäquat abbilden?
Gallenberger: Das ist eine gute Frage, weil man aus dem Thema zehn Filme oder zwanzig Stunden Film hätte machen können. So ein Drehbuch entsteht über Jahre parallel zur Recherche. Es gab zum Beispiel immer den Gedanken, ob man die politischen Ereignisse, die in Chile parallel ablaufen, weitererzählen soll. Wir haben uns dagegen entschieden, denn das Leben in der Colonia war auch dadurch bestimmt, dass diese Leute keinen Kontakt zur Außenwelt hatten. Sie waren sozusagen in einem Ort ohne Kontext. Mir war wichtig, dass wir im Film die Sekte erleben, wie die Sekte wirklich gewesen ist.


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