ZURÜCK IN DEN WAHLKAMPF

Mit wem wird die Macht sein? Centro Nacional Electoral in Caracas (Foto: Víctor Bujosa Michelli – Own work, CC BY-SA 3.0)

Es war eine bemerkenswerte Botschaft, die der venezolanische Oppositionspolitiker Freddy Guevara am 31. August 2021 auf einer Pressekonferenz übermittelte. „Viele frühere Prämissen“, mit denen seine rechte Partei Voluntad Popular (VP) „eine komplette und sofortige Ablösung des Systems“ angestrebt habe, seien „nicht umsetzbar“, sagte der 35-Jährige, der erst wenige Tage zuvor aus einer mehrwöchigen Haft entlassen worden war. Es gehe nun darum, eine „Koexistenz“ der beiden politischen Lager zu erreichen. Kurz darauf verkündete der als „G4“ bekannte Zusammenschluss der vier großen Oppositionsparteien Gerechtigkeit Zuerst (PJ), Demokratische Aktion (AD), Eine neue Zeit (UNT) und VP, sich an den Regional- und Kommunalwahlen am 21. November zu beteiligen. Damit vollzieht die rechte Opposition einen abrupten Kurswechsel.

Seit sich der damalige Parlamentspräsident Juan Guaidó am 23. Januar 2019 zum Interimspräsidenten erklärt hatte, lautete die unverhandelbare Sprachregelung „Ende der Usurpation, Übergangsregierung, freie Wahlen.“ Im Umkehrschluss boykottierte die Opposition größtenteils die Wahlprozesse. Doch die Strategie führte vor allem dazu, dass die Regierungsgegner*innen immer mehr institutionelle Räume aufgaben. Die angebliche Interimspräsidentschaft hatte zwar teilweise internationale Unterstützung, verfügte innerhalb Venezuelas jedoch über keinerlei Macht. Bereits seit vergangenem Jahr waren wichtige Oppositionspolitiker wie der zweimalige Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles auf Distanz zu Guaidó gegangen.

Dass nun selbst Guaidós Partei VP einer Wahlteilnahme zugestimmt hat, bedeutet das endgültige Scheitern der Umsturzstrategie. Präsident Nicolás Maduro feierte die Entscheidung der Opposition denn auch mit spöttischen Worten: „Am 21. November werde ich mit Popcorn in meinem Sessel sitzen, um Juan Guaidó bei der Abstimmung zuzusehen.“ Zwar beeilte sich Guaidó, zu betonen, dass gegenwärtig „nicht die Bedingungen für einen fairen Wahlprozess“ bestünden. Doch der einstige Oppositionsführer hat seine tragende Rolle bei den Regierungsgegner*innen längst eingebüßt.

Seit Mitte August verhandeln Vertreter*innen der Regierung und der rechten Opposition in Mexiko über die mögliche Beilegung der politischen und wirtschaftlichen Krise in Venezuela. Als Mediator*innen fungieren neben Norwegen auch Russland und die Niederlande. Am 13. August hatten beide Seiten eine „Absichtserklärung“ (Memorandum of Understanding) unterzeichnet. Darin verpflichten sie sich unter anderem dazu, die Verfassung und die Menschenrechte zu achten und auf Gewalt zu verzichten. Zudem einigten sie sich auf insgesamt sieben Verhandlungsthemen, darunter politische Rechte und Wahlen, Sanktionen sowie politisches und soziales Zusammenleben. Der Opposition geht es bei den Verhandlungen vor allem um Garantien für freie Wahlen und die Freilassung der von ihnen als politische Gefangene betrachteten Personen. Für die Regierung stehen ein Ende der Sanktionen und die Anerkennung der gewählten Institutionen im Mittelpunkt. Am 15. August wurde als erstes Ergebnis Freddy Guevara aus der Haft entlassen, der sich dann der Verhandlungsdelegation anschloss. Am 12. Juli hatte ihn die Geheimdienstpolizei Sebin verhaftet, weil er Verbindungen zu kriminellen Banden in Caracas unterhalten soll.

Nachdem die rechte Opposition ihre Wahlteilnahme verkündet hatte, unterzeichneten beide Seiten Anfang September zwei erste Teilabkommen. In diesen geht es einerseits um die Bekräftigung von Gebietsansprüchen an das Nachbarland Guyana und andererseits um die Verbesserung der sozialen Situation, wofür auch im Ausland eingefrorene Gelder wiedergewonnen werden sollen. Ein Folgetreffen wurde für den Zeitraum 24. bis 27. September 2021 vereinbart.

Neben den Wahlbedingungen wird in weiteren Verhandlungen voraussichtlich die wirtschaftliche Lage im Vordergrund stehen. Während unter den US-Sanktionen in erster Linie die ärmeren Bevölkerungsschichten leiden, ist die Regierung Maduro in den vergangenen Jahren wirtschaftlich nach rechts gerückt. Der Diskurs bleibt zwar sozialistisch, doch werden Staatsunternehmen mal offen, mal unter der Hand privatisiert und Anreize für private Organisationen geschaffen. Die Regierung begründet dies als taktischen Zug angesichts des durch die Sanktionen eingeengten wirtschaftlichen Spielraums. Linke Kritiker*innen bemängeln einen Ausverkauf des Landes, der sich nach einem möglichen Ende der Sanktionen kaum zurückdrehen ließe. Aus eigener Kraft ist die Regierung derzeit kaum in der Lage, die Wirtschaftskrise zu beenden. Aufgrund der hohen Inflation wird die Zentralbank bei der Landeswährung Bolívar im Oktober sechs Nullen streichen. Zuletzt waren 2018 fünf Nullen weggefallen. De facto zählt im Bargeldverkehr längst nur noch der US-Dollar, auch das Preisniveau orientiert sich daran. Ohne den Zugang zum Greenback, etwa durch Rücküberweisungen ausgewanderter Familienmitglieder, wird das tägliche Überleben für die Mehrheit immer schwieriger. Der Mindestlohn beträgt derzeit zehn Millionen Bolívares pro Monat, das entspricht umgerechnet gut zwei Euro. Daran wird auch die angekündigte Währungsreform nichts ändern.

Ob die Verhandlungen Erfolg haben können, hängt nicht zuletzt von der Haltung der US-Regierung ab, denn nur sie kann die Sanktionen aufheben. Im August 2019 endeten die bisher letzten Gespräche auf Barbados damit, dass die Trump-Administration die Sanktionen verschärfte. Der damalige US-Präsident hatte sich beharrlich geweigert zu akzeptieren, dass Maduro zunächst weiter im Amt bleibt. Im Anschluss an die gescheiterten Verhandlungen konnten weniger konfrontative Teile der Opposition in Parallelgesprächen mit der venezolanischen Regierung dann erste Fortschritte erzielen. Zwei von fünf Mitgliedern des Nationalen Wahlrats (CNE) gehören nun der Opposition an, zuvor war das Verhältnis jahrelang vier zu eins zugunsten des Chavismus.

Aus Sicht vieler Venezolaner*innen haben die jetzigen Gespräche allerdings ein Legitimitätsproblem. In Mexiko fehlt zum einen die moderate rechte Opposition, die sich an den Parlamentswahlen beteiligt hatte, in den Augen von Guaidó und Capriles jedoch von der Regierung korrumpiert ist. Der radikale Oppositionsflügel um María Corina Machado und Antonio Ledezma lehnt ohnehin jegliche Gespräche ab. Zum anderen sind die kleine linke Opposition sowie zivilgesellschaftliche Gruppen nicht dabei. Die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) vergleicht die Verhandlungen bereits mit dem „Pakt von Punto Fijo“, der 1958 unter Ausschluss der radikalen Linken das Zweiparteiensystem der „Vierten Republik“ begründete, das bis in die 1990er Jahre Bestand hatte. Tatsächlich versucht die Regierung Maduro, eine linke Opposition möglichst klein zu halten. Das im vergangenen Jahr gegründete linkschavistische Bündnis Popular-Revolutionäre Alternative (APR) ist nicht zu Wahlen zugelassen. Mehrere ihrer Mitgliedsparteien, darunter Heimatland für Alle (PPT), sind juristisch blockiert. Die APR-Kandidat*innen treten somit alle auf dem Ticket der PCV an, konnten bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr jedoch nur einen Abgeordnetensitz gewinnen. Einer der prominentesten Kandidaturen bei den Kommunalwahlen schob der Nationale Wahlrat nun einen Riegel vor. In Caracas wollte − wie vor vier Jahren − erneut der frühere Handelsminister Eduardo Samán gegen die Regierung antreten. Kurz vor Ende der Einschreibefrist wurde seine Kandidatur ohne Begründung blockiert.

Die Kommunistische Partei Venezuelas vergleicht die Verhandlungen bereits mit dem „Pakt von Punto Fijo“

Die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) versucht derweil, ihre Anhängerschaft wieder stärker zu mobilisieren. Am 8. August hielt sie erstmals seit Jahren interne Vorwahlen ab, um die Kandidat*innen für die Gouverneurs- und Bürgermeisterämter zu bestimmen. In den meisten Fällen setzten sich die Wunschkandidat*innen der Parteiführung durch. Eine Ausnahme, in die viele Basisaktivist*innen ihre Hoffnung für eine Erneuerung des Chavismus setzen, ist Ángel Prado. Er ist Mitglied der „Comuna El Maizal“, einem ländlichen Zusammenschluss zahlreicher Initiativen, der in Venezuela als basischavistisches Vorzeigeprojekt gilt. Bei der Bürgermeisterwahl 2017 war Prado in der Ortschaft Simón Planas im Bundesstaat Lara für die kleineren Linksparteien PCV und PPT gegen die PSUV angetreten. Nachdem der CNE Prados Kandidatur 2017 ursprünglich genehmigt hatte, legte die damals bestehende Verfassunggebende Versammlung (ANC) ein Veto ein. Zur Begründung hieß es, dass Prado, der selbst Delegierter der ANC war, nicht ohne deren Erlaubnis kandidieren dürfe. In anderen Fällen war dies allerdings möglich. Die Wähler*innen sahen Prado dennoch weiterhin als ihren Kandidaten an. 57 Prozent der Stimmen entfielen damals auf die PPT. Der Wahlrat rechnete diese aber dem Regierungskandidaten Jean Ortiz zu, den die kleine Partei ursprünglich unterstützt hatte. Bei den jetzigen Vorwahlen konnte sich Prado trotz verschiedener Schikanen gegen den amtierenden Bürgermeister durchsetzen, die Parteiführung akzeptierte das Votum.

An den anstehenden Regional- und Kommunalwahlen könnte sich die kommende Strategie der rechten Opposition entscheiden. Die „G4“-Parteien treten dort wie früher schon als Bündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) an. 2018 hatte das Oberste Gericht (TSJ) dem MUD die Teilnahme an Wahlen untersagt, da es sich nicht um eine Partei, sondern um ein Bündnis mit Doppelmitgliedschaften handele. Erst im Juli dieses Jahres ließ das TSJ den MUD wieder zu. Die Opposition steht somit vor der Herausforderung, das Vertrauen der eigenen Klientel in das Wahlsystem wieder herzustellen, obwohl sie selbst dieses seit Jahren öffentlich attackiert. Sollte sie im November Boden gut machen, könnte sie ab Anfang 2022 einen neuen Versuch starten, Unterschriften für ein Abberufungsreferendum gegen Maduro zu sammeln. Es scheint sich jedoch die Erkenntnis durchzusetzen, notfalls doch bis zur nächsten regulären Präsidentschaftswahl im Jahr 2024 zu warten.


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