KINDER GEBÄREN KINDER

In Nicaragua ist jede Art von Schwangerschaftsabbruch strafbar. Meist kommen die Frauen, die die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen, weil sie abgetrieben haben, aus sehr armen Verhältnissen. Heißt das, dass auch hier die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht eine Rolle spielt?
In Nicaragua ist die Abtreibung seit 2006 ausnahmslos strafbar. Wie in ganz Lateinamerika betrifft die Situation weitaus mehr Frauen, Mädchen und Jugendliche, die in sehr prekären Verhältnissen leben. Die Ärmsten, die keinen Zugang zu Bildung und Informationsmöglichkeiten haben, gehen das größte Risiko ein, wegen einer unter schlechten Bedingungen durchgeführten Abtreibung zu leiden und zu sterben.

Es gibt keine Möglichkeit, eine Abtreibung ohne Angst in Anspruch zu nehmen − weder für die Ärzte, Krankenschwestern, Hebammen oder auch völlig ungeschulten Personen, die ihn klandestin anbieten, noch für die Frauen, die abtreiben müssen. Frauen aus sehr armen Verhältnissen setzen ihre Schwangerschaft bis zur Entbindung fort, selbst wenn sie vergewaltigt wurden oder eine Risikoschwangerschaft haben, da es keine andere Möglichkeit gibt. Besser informierte, wohlhabendere Frauen, die über Unterstützungsnetze, insbesondere im Freundinnenkreis, verfügen, haben eher Zugang zu sicheren Diensten.

Besonders verstörend sind in diesem Zusammenhang die Schwangerschaften von Mädchen unter 14 Jahren, da jedes dieser Mädchen ein Opfer sexuellen Missbrauchs ist. Welche psychischen und gesundheitlichen Folgen hat die erzwungene Kinderschwangerschaft für das künftige Leben dieser Mädchen und Jugendlichen?
Offiziellen Statistiken des Gesundheitsministeriums zufolge gibt es in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen im Jahresdurchschnitt 1.600 betreute Entbindungen von Mädchen unter 15 Jahren.

Das trifft nur auf diejenigen zu, die eine Gesundheitseinrichtung besuchen. Eine beträchtliche Anzahl von Mädchen aus ländlichen und städtischen Randgebieten geht nicht ins Krankenhaus. Aus diesem Grund müssen wir davon ausgehen, dass die Zahl der Mädchen, die Kinder bekommen, wesentlich höher ist.

Für die Mädchen, die in staatlichen Einrichtungen betreut werden, dreht sich alles um die Sorge für das ungeborene Kind, wobei das schwangere Mädchen vernachlässigt wird. Es gibt keinen speziellen Betreuungsplan, die Rechte der Mädchen werden nicht berücksichtigt, sie sind gezwungen, ein Kind zu gebären, da sie keine andere Wahl haben und eine Abtreibung nicht in Frage kommt. Vom Anbeginn der Schwangerschaft sind sie dazu verurteilt, sich wie erwachsene Frauen zu verhalten und sich um ihre Schwangerschaft zu kümmern.

Sofort nach der Entbindung wird von ihnen verlangt, mit dem Stillen zu beginnen − trotz ihrer Schmerzen, trotz ihres Protestes. Dies alles wird vom Gesundheitspersonal nicht beachtet und meistens nicht einmal von ihren engsten Angehörigen.

In der Regel ist ihr Leben zerstört, die Wege, ein Mädchen zu bleiben, zu spielen, zu studieren und soziale Kontakte zu knüpfen, sind definitiv verschlossen. Das Mädchen wird mit Strenge behandelt, damit es seine Rolle als „Mutter” annimmt. Es muss sich nicht nur um das Baby kümmern, sondern auch im Haushalt mithelfen und manchmal auch Geld für die Versorgung des Neugeborenen beisteuern. All das ist eine echte Tragödie.

Niemand untersucht den Ursprung der Schwangerschaft, im Allgemeinen wird weggesehen. Meistens sind es erwachsene Männer, sogar alte Männer, die das Mädchen schwängern.

Einige feministische Organisationen haben, mit zunehmend begrenzten Kapazitäten, Maßnahmen mit den Familien und insbesondere mit den Mädchen entwickelt − aber das sind nur Versuche in geringem Umfang.

Häufig ereignet sich die zweite Schwangerschaft schon bald darauf, da es keine Initiativen zur Aufklärung und Verhütung gibt.

Erleiden diese Mädchen das gleiche Stigma wie erwachsene Frauen, denen vielfach unterstellt wird, in die sexuelle Handlung eingewilligt zu haben, so dass die gesamte Schuld auf das Opfer abgewälzt wird?
Es ist sehr wenig Empathie vorhanden − selbst für diese Mädchen. Häufig werden sie beschuldigt, den Vergewaltiger provoziert zu haben, sei dieser nun ein Familienmitglied, ein Bekannter oder ein Fremder. Die ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf die Pflicht, die Verantwortung für die Betreuung der Schwangerschaft und dann für das Neugeborene zu übernehmen. Sie werden in der Nachbarschaft gehänselt, in der Schule stigmatisiert und da sie als schlechtes Beispiel für ihre Mitschülerinnen gelten, wird ihnen nicht erlaubt, weiter zur Schule zu gehen. Die Mütter der Mädchen trifft auch ein Teil des Stigmas und der Schuldzuweisung, denn: „Sie hat sich nicht um sie gekümmert, sie hat sie nicht gut erzogen, und deshalb ist sie verantwortlich für das, was ihr [der Tochter] passiert ist.”

Hierzu eine Anekdote: Einmal unterstützte ich eine Familie, deren Mädchen nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war und ein totes Kind zur Welt brachte. Als ich ihre Mutter fragte, was das Schlimmste war, das sie während des gesamten Prozesses ertragen musste, antwortete sie: der Spott der Menschen in meiner Gemeinde.

Kaum jemand verurteilt den Vergewaltiger. Es gibt weder strafrechtliche noch soziale Sanktionen. Es gibt immer einen Grund, die Verantwortung der Männer herunterzuspielen. Sie machen mit ihrem Leben, ihrem Wohnsitz, ihrem Arbeitsplatz und ihrem sozialen Umfeld weiter wie zuvor, während das vergewaltigte Mädchen und seine Familie unter Verachtung und Ausgrenzung leiden.

Das Strafgesetzbuch legt fest, dass jeglicher Geschlechtsverkehr mit einem Mädchen unter 14 Jahren als Vergewaltigung eingestuft wird und mit zwölf bis 15 Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Wie sieht es mit der Strafverfolgung der Täter aus? Werden Ermittlungen gegen sie geführt?
Wie bereits erwähnt, wird gegen Vergewaltiger weder ermittelt noch werden sie strafrechtlich verfolgt. Die Zahl der Anzeigen ist minimal. Und in den Fällen, in denen ein Prozess eingeleitet wird, der für die Familien der Opfer emotional schwierig und kostspielig ist, ist der Prozentsatz der Vergewaltiger, die angeklagt und bestraft werden, noch geringer. Nicht einmal zehn Prozent der Gesamtzahl der Anzeigen führen zu einer Anklage. Viele der Inhaftierten werden später amnestiert und freigelassen, entweder wegen guter Führung oder weil sie Beziehungen zu den Behörden oder zu anderen politischen Akteuren haben, so dass sie nach ihrer Freilassung in ihre eigenen Gemeinden zurückkehren, wo sie sich manchmal wieder an den Mädchen und jungen Frauen in ihrer Umgebung vergreifen.

Bedeutet die Tatsache, dass die Täter überwiegend aus dem familiären Umfeld kommen oder die Mädchen in einem anders gearteten Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen stehen, dass es eine Untererfassung der Fälle gibt, die das tatsächliche Ausmaß von häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch, Schwangerschaft und erzwungener Mutterschaft nicht wirklich widerspiegelt?
Handelt es sich bei den Tätern um Familienmitglieder, wird das Drama noch komplexer. In der Regel steht in diesen Fällen die gesamte Familie unter dem Druck des Aggressors, der gewalttätig ist, der bedroht und seine Drohungen bis hin zur Tötung wahr macht. Die Anzahl und die Grausamkeit, mit der Frauen getötet werden, ist zunehmend alarmierend. Das macht es fast unmöglich, Strafanzeige zu stellen. Auf dem Land, wo die Menschen eher isoliert voneinander leben, gibt es Fälle, in denen ein gewalttätiger Mann mit der Mutter und den Töchtern zusammenlebt, ohne dass jemand davon weiß oder eingreifen kann.

Obwohl in bestimmten Bevölkerungsgruppen, die mehr Gelegenheit hatten, sich über Geschlecht, Gewalt und Frauenrechte zu informieren, ein größeres Bewusstsein vorhanden ist, wird Gewalt gegen Frauen gesellschaftlich immer noch toleriert.

Wir sind dazu mit einem realen als auch legislativen Rückschritt konfrontiert, der eine Kultur des Respekts gegenüber Frauen nicht fördert. In ihren Reden proklamieren die staatlichen und politischen Akteure das traditionelle Familienmodell, in dem der Mann befiehlt und die Frau gehorcht, man fördert „Versöhnung” und „Liebe”, um die Familie zusammenzuhalten, setzt darauf, dass Konflikte ohne das Eingreifen anderer gesellschaftlicher Akteure gelöst werden. Das bedeutet, dass die Frauen abgeschreckt werden, Missbrauch, Vergewaltigung und andere Verbrechen an die Öffentlichkeit zu bringen, dass alles getan wird, um den Zusammenhalt der Familie um jeden Preis zu bewahren, selbst wenn er das Leben der Frauen kostet.

Welche feministischen Organisationen, die sich dem Schutz dieser Mädchen annehmen und gegen die Straflosigkeit ankämpfen, können derzeit in Nicaragua überhaupt noch arbeiten?
Die Möglichkeiten in Nicaragua zu arbeiten sind sehr begrenzt. Die wenigen staatlichen Einrichtungen, die sich auf die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen spezialisiert haben, wurden aufgelöst, und Frauenorganisationen, die sich mit diesen Themen befassen, wurden schikaniert, geschlossen, ihre Betriebserlaubnis wurde annulliert und in vielen Fällen sogar ihr Eigentum beschlagnahmt. Die wenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die es noch gibt, verfügen nicht mehr über finanzielle Mittel, da Kooperation mit dem Ausland strafbar ist (siehe LN 558). Dieses Panorama macht die Situation von Tag zu Tag hoffnungsloser.

Die derzeitige Regierung führt einen Frontalangriff gegen feministische Organisationen. Sie alle werden beschuldigt, Putschisten zu sein, äußere Einmischung zu fördern und Landesverrat zu begehen. Es gibt steuerliche Schikanen, die Organisationen dazu zwingen, ihre Tätigkeit einzustellen, weil sie nicht in der Lage sind, alle wirtschaftlichen und rechtlichen Anforderungen zu erfüllen, die ihnen auferlegt werden.

Die Kirche spielt im Leben der Menschen in Nicaragua eine aktive Rolle. Welche Haltung nimmt sie bei diesem Thema ein?
Insbesondere die katholische Kirche hat in der politischen Krise, die Nicaragua seit 2018 durchlebt, mehrheitlich gegen die Verletzung der Menschenrechte ihre Stimme erhoben, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit gefordert. Nicht so die evangelikalen Kirchen und andere Konfessionen, die schweigen und/oder sich dem offiziellen Diskurs der Diktatur anschließen. Was jedoch die spezifischen Frauenfragen betrifft, sind alle Kirchen schuldig. Ihren Dogmen zufolge sind sie strikt gegen Abtreibung, gegen sexuelle und reproduktive Rechte im Allgemeinen, und ich denke, dass sie es versäumt haben, gegen alle Formen der Gewalt gegen Frauen ihre Stimme zu erheben. Sie verkünden Vergebung als Basis für die Lösung von Problemen in der Familie. Sie stellen die absolute Macht des Mannes und den daraus resultierenden Schaden für die Familie und ihr soziales Gefüge nicht in Frage

Die Kirche ist immer noch der Tradition verbunden und zu rückständig, um so heikle und herausfordernde Themen wie Geschlecht und Gleich-*berechtigung zu diskutieren.

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