Verpasst Lateinamerika eine Chance?

Die BRICS Kernländer in dunkel-, Beitrittskandidaten inklusive Argentinien in hellblau (Grafik: Dmitrij – 5 Averin, eigenes Werk)

Nach drei Jahrzehnten wirtschaftlichen Wachstums verlangen Schwellenländer des globalen Südens nach geopolitischen Veränderungen. Dazu gehört eine Reform von Weltbank und IWF sowie eine Abkehr vom US-Dollar. Brasiliens Finanzminister Fernando Haddad sagte es so: „Wer vom US-Dollar abhängig ist, ist auch außenpolitisch von den USA abhängig.“

Der Globale Süden kooperiert auch untereinander. Vorreiter sind die großen Kontrahenten des Westens Russland und China, aber auch Regionalmächte wie Brasilien, Indien und Südafrika. Diese fünf Staaten begründen die BRICS, jenen Verbund, in dem sich die führenden Schwellenländer zusammengeschlossen haben. Sie fordern eine „gerechtere Weltordnung“. Ursprünglich hatte China in den BRICS eine dominante Position, da es mehr als 50 Prozent zum BRICS-Volkseinkommen beisteuerte. Russland, Indien, Brasilien und Südafrika gelang es aber, das chinesische Übergewicht zu bändigen. So wurde der Kapitalanteil Chinas an der Neuen Entwicklungsbank und dem Reservefonds − den Gegenstücken zur Weltbank und zum IWF − auf unter die Hälfte begrenzt. Damit war Peking außerstande, die Politik der BRICS zu dominieren.

Den fünf Schwellenländern und ihrem Bemühen, sich vom Westen zu emanzipieren, wurde im Globalen Süden viel Beifall gezollt. Man hofft hier auf die Bildung einer Gegenmacht, um das eigene Schicksal selbstbestimmter gestalten zu können. Insbesondere hofft man auf neue Kredite, ohne die beim IWF üblichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen ergreifen zu müssen. Der Westen scheint im Globalen Süden derart unbeliebt geworden zu sein, dass die überwiegende Mehrheit der UN-Mitglieder sich im Ukraine-Krieg mehr oder weniger auf die Seite Russlands stellt. Dessen Angriff auf die Ukraine wurde zwar verurteilt, die meisten Schwellen- und Entwicklungsländer beteiligen sich aber nicht an westlichen Sanktionen und Waffenlieferungen.

Obwohl seit etwa 200 Jahren unabhängig, teilt Lateinamerika das Schicksal der meisten Länder Afrikas und Asiens als Rohstofflieferant des globalen Nordens. Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas als Land, das nicht in die westlichen Strukturen eingebunden ist, ermöglicht es den Lateinamerikaner*innen nun, bessere Preise für ihre Ausfuhrprodukte zu erzielen und die technologische Entwicklung ihrer Volkswirtschaften voranzutreiben. Besonders die linken Regierungen des Subkontinentes sehen darin eine Chance, sich von den USA und der EU zu emanzipieren. Politisch sind sie eine heterogene Gruppe, von Kuba bis hin zur Mitte-links-Regierung in Chile. Die gewählten linken Regierungen sind häufig in spezifische politische Bündnisse eingebunden. All dies erschwert gemeinsames Handeln. Einzig bei der Verteidigung der nationalen Ressourcensouveränität gegen auswärtige Mächte ist man sich einig. Jeder lateinamerikanische Staat ist sich selbst der Nächste und geht seinen eigenen Weg, die Kräfteverschiebungen in internationaler Politik und Wirtschaft für sich auszunutzen. Die lateinamerikanische Linke forciert dort, wo sie regiert, die Annäherung an die BRICS. Nach Machtwechseln zu den Konservativen folgen dann oft wieder Kurswechsel zurück zu Beziehungen mit den Mächten des Westens.

Als direkter Nachbar steht Mexiko im unmittelbaren Schatten der US-amerikanischen Sicherheitsinteressen. Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) agiert deshalb außenpolitisch widersprüchlich. So will er sein Land diplomatisch vom „Koloss des Nordens“ abgrenzen und Partei für linke Regierungen in Lateinamerika ergreifen. Auch positionierte er sich im Ukraine-Konflikt zum Missfallen des nördlichen Nachbarn. Andererseits setzte sich AMLO für den Abschluss des Freihandelsabkommens USMCA ein, das die wirtschaftliche Abhängigkeit Mexikos von Washington weiter erhöht. Schon heute gehen rund 80 Prozent der mexikanischen Exporte in die Vereinigten Staaten, Millionen Mexikaner*innen arbeiten dort. Ihre Überweisungen in die Heimat sind für Mexiko eine wichtige Deviseneinnahmequelle.

Diese Widersprüchlichkeit erklärt sich aus AMLOs innenpolitischen Zielen: Er möchte Mexiko sozial und wirtschaftlich neu aufstellen und ist dazu sowohl auf die USA wie auf neue Bündnispartner angewiesen. Diese ließen sich in der Vergangenheit am ehesten in Lateinamerika und Ostasien finden. Als wirtschaftliche Brücke zwischen diesen Regionen und den Vereinigten Staaten könnte Mexiko ein Stück weit aus dem US-Schatten heraustreten und eine selbständigere Außen- und Innenpolitik führen. Aber auch hier stellt sich die Frage, wie nachhaltig AMLOs Politik sein wird: Die mexikanischen Konservativen drängen auf eine stärkere wirtschaftliche und politische Anbindung an den Westen und könnten die autonomistische Außenpolitik des aktuellen Präsidenten schon nach der nächsten Wahl beenden.

Brasiliens wiedergewählter Präsident Lula scheint die Außenpolitik seiner ersten Amtszeit zu reaktivieren. Diese hatte darin bestanden, Brasiliens Rolle in den internationalen Beziehungen zu stärken. Oder wie es aus Lulas Regierung hieß: „Brasilien vertritt nur sich selbst und will lediglich seinen internationalen Status verbessern.“ Dennoch gewann Lula aufgrund seiner Kritik am Welthandel und internationalem Finanzsystem bald die Rolle eines Fürsprechers der Länder des Globalen Südens. Revolutionär war seine Politik dabei nicht: Lula wollte die Weltbank und den IWF zugunsten der Schwellen- und Entwicklungsländer reformieren, sie aber nicht abschaffen. Ein weiteres Projekt seiner ersten Amtszeit war der Versuch gewesen, den Mercosur (Gemeinsamer Markt des Südens) über die Achse mit Argentinien auf ganz Südamerika auszudehnen. Mexiko, Zentralamerika und die Karibik blieben dabei den USA überlassen. Das Weiße Haus wollte eine brasilianische Führungsrolle in ganz Südamerika aber nicht tolerieren, so dass es zur Rivalität mit Lula und nach ihm mit Dilma Rousseff kam: Brasilien tat sich dabei mit linken Bewegungen zusammen, die Vereinigten Staaten hingegen mit den konservativen. Schließlich hatte Washington in der Region eigene strategische Interessen, allen voran in Kolumbien und Paraguay.

Nun zeigt Lula Interesse, die Union Südamerikanischer Nationen UNASUR wieder zu beleben, weswegen eine Allianz mit China und Argentinien sinnvoll gewesen wäre. Allerdings möchte sich das lulistische Brasilien nicht explizit in eine Frontstellung gegen den Westen ziehen lassen: Auch zu den USA und zur EU sollen gute Beziehungen unterhalten werden. So gründete Brasilien mit Indien und Südafrika mit dem IBSA (Koordinierungsmechanismus der drei Schwellenländer, Anm.d.Red.) ein Forum, das es den drei Staaten ermöglichen soll, ihr weltpolitisches Gewicht zu vergrößern ohne dabei für den Westen oder Russland und China fest Partei zu ergreifen. Womöglich wird Lula aber nicht viel Zeit haben, seine Ziele zu erreichen, denn innerhalb Brasiliens ist der „Anti-Lulismo“ weit verbreitet und die Konservativen pochen auf eine Außenpolitik weg von den BRICS hin zum Westen. Kämen sie an die Macht, dürfte Brasiliens Autonomiepolitik ein rasches Ende nehmen.

Auch in Argentinien war der Kurs der Außenpolitik stets hoch umstritten. Die Rechte forderte auch hier eine stärkere Bindung an den Westen, während die Peronist*innen sich klar für die Beziehungen zu den BRICS entschieden hatten. Sie versuchten, in China neue Absatzmärkte zu gewinnen und von dort neue Investoren ins Land zu holen. Dies sollte es Argentinien ermöglichen, sich aus der Schlinge des IWF zu lösen. Javier Milei wetterte im Wahlkampf seinerseits gegen China, so dass ein Bruch mit Peking denkbar schien. Allerdings ist Chinas wirtschaftliches Engagement in Argentinien für Buenos Aires so wichtig, dass Milei nach Meinung von Beobachtern keinen wirklich neuen Kurs gegenüber Peking wird fahren können.

Einen Umschwung dürfte es in Argentiniens Haltung gegenüber Brasilien geben: Die Peronist*innen forcierten die Schaffung einer gemeinsamen Währung als Verrechnungseinheit für den beiderseitigen Handel, um ihr Land aus der Abhängigkeit vom US-Dollar herauszuführen und ihm in internationalen Institutionen eine bessere Verhandlungsposition zu verschaffen. Milei hingegen liebäugelt mit einem Austritt aus dem Mercosur, will mindestens aber den Freihandel innerhalb dieses Wirtschaftsbündnisses neu aushandeln. Die dritte Macht, mit der die Peronist*innen liebäugelten, war Russland. Kurz vor dem Ukraine-Krieg wurde mit Moskau ein militärisches Kooperationsabkommen geschlossen, von dem sich die Peronist*innen auch nach dem Überfall auf die Ukraine nicht distanzierten. So schloss sich Buenos Aires auch nicht den westlichen Sanktionen an.

Nun aber sollen unter der neuen Regierung Mileis die Beziehungen zu Russland heruntergefahren und die Ukraine verstärkt unterstützt werden. Auch hinsichtlich der Vereinigten Staaten dürfte Milei die bisherige Außenpolitik auf den Kopf stellen: Er möchte die Beziehungen zu Washington wieder ausbauen und sogar den US-Dollar anstelle des Pesos als gesetzliches Zahlungsmittel einführen. Würde dieser Schritt erfolgen, dürfte sich die finanzpolitische Abhängigkeit Argentiniens von den USA wieder erhöhen.
Schon als sämtliche große Staaten Lateinamerikas links regiert wurden, arbeiteten Brasilien, Argentinien und Mexiko nicht unbedingt eng zusammen, um den Status der Semiperipherie abzuschütteln. Stattdessen dominierten nationalstaatliche Ansätze, um für sich die größtmöglichen Vorteile aus den politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Machtverschiebungen auf globaler Ebene zu ziehen. Mit der Wahl Javier Mileis zum Präsidenten Argentiniens ist nun auch dies bedroht, da der Rechtsradikale sein Land wieder stärker an den Westen anbinden möchte.

Der außenpolitische Zick-Zack-Kurs Argentiniens könnte sich auch in Brasilien und Mexiko wiederholen, so dass eine kohärente Emanzipationspolitik gegenüber den USA unmöglich wird. Bewahrheitet sich dies, droht Lateinamerika die sich bietenden Chancen aus der Veränderung der internationalen Ordnung zu verpassen und in seiner peripheren Rolle als Lieferant von Primärgütern zu verbleiben – ohne Aussicht, das eigene Schicksal weitgehend selbstständig gestalten zu können.


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