Mexiko | Nummer 409/410 - Juli/August 2008

„Amo Tihuihui!“ – „Sei nicht der Depp!“

Die organisierten Gemeinden in der indigen geprägten Huasteca-Region wollen sich bei der Durchsetzung ihrer Rechte nicht auf Institutionen verlassen

Zwar wurden auf der institutionellen Ebene in den letzten Jahren Fortschritte hinsichtlich indigener Rechte gemacht, doch oft ist bei den Betroffenen davon wenig zu spüren. Während eine ExpertInnenkonferenz in Mexiko-Stadt über Indikatoren zur Evaluierung der neuen indigenen Rechte debattiert, feiert die autonome Landbesetzungsbewegung in der Huasteca ihr 30-jähriges Bestehen und misstraut institutionellen Regelungen. Sie will sich nicht mit von oben gewährten Autonomiegesetzen zufrieden geben.

Martin B. Espinosa

Wenn es um die Situation von Indigenen in Mexiko und deren Kampf für ihre Rechte geht, fokussiert sich die Öffentlichkeit zumeist auf Chiapas und Oaxaca. Weit weniger Aufmerksamkeit findet hingegen die Situation in der multiethnischen Kulturregion Huasteca, die sich im Osten Mexikos vor allem über die Bundesstaaten Hidalgo, San Luis Potosí, Veracruz und Tamaulipas erstreckt. Wie auch in anderen indigen geprägten Regionen, leidet die dortige Bevölkerung an sozialer Marginalisierung, die sich in überdurchschnittlicher Armut, ungerechter Landverteilung, politischer Benachteiligung und Menschenrechtsverletzungen ausdrückt. Nach jahrzehntelangem Kampf indigener Organisationen auf der ganzen Welt haben inzwischen auch staatliche und internationale Institutionen teilweise anerkannt, dass eine Verbesserung der Situation nicht ohne die Anerkennung und die Durchsetzung indigener Rechte zu erreichen ist. Doch zwei zeitnahe Ortstermine machen deutlich, dass die theoretische Konzeption in der Praxis, hier in der Huasteca, auf zahlreiche Probleme stößt.
Der erste Ortstermin führt uns in die mexikanische Hauptstadt. Hier traf sich Ende April der internationale Entwicklungsfond der Indigenen Völker zu einem „Technischen Arbeitstreffen zum Monitoring indigener Rechte und Entwicklung mittels der Anwendung von Indikatorensystemen“. Unter diesem sperrigen Titel diskutierten ExpertInnen unter anderem Indikatoren zur UN-Erklärung der Rechte der Indigenen Völker vom Jahr 2007 und zur Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation IAO, einer UN-Sonderorganisation, die ebenfalls wichtige Grundrechte indigener Völker bestimmt. Auch wurde eine Analyse aller Klagen von indigenen Einzelpersonen oder Kollektiven, die bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof gelangten, erstellt. An Kritik wurde nicht gespart, so wurde darauf hingewiesen, dass die formelle Existenz von Rechtstexten noch gar nichts darüber aussage, ob diese überhaupt einklagbar seien, zur Anwendung kämen und positive Effekte zeigten. Andere Kritikpunkte bezogen sich darauf, dass das Problem von Indikatoren weniger ein technisches als ein konzeptionelles sei. So würde den „Staatistiken“ von der Bevölkerung nicht viel Glauben geschenkt, weil die Staaten als verlogen gelten und beispielsweise die Interamerikanische Entwicklungsbank sich rhetorisch um die „armen“ Indigenen besorgt zeige, andererseits aber mit Mega-Entwicklungsprojekten besonders die Territorien der indigenen Völker zerstöre.
Von besonderem Interesse an dieser Stelle war die Präsentation eine Studie zu indigenen Gemeinden im Bundesstaat San Luis Potosí, wo ein wichtiger Teil der Huasteca Kulturregion angesiedelt ist. Ausgangspunkt der Untersuchung war, dass die heftig kritisierte Verfassungsreform zu indigenen Rechten und Kultur im Jahr 2001 die Selbstbestimmung und Autonomie der indigenen Völker Mexikos ganz offen gelassen hatte. Die Konkretisierung dieser heiklen Punkte wurde den jeweiligen Bundesstaaten überlassen. Heute haben lediglich Oaxaca und San Luis Potosí die indigenen Völker als Rechtssubjekte – eine der zentralen Forderungen der zapatistischen Bewegung – anerkannt. Damit die abstrakten Gesetzestexte keine Papiertiger blieben, bedürften sie der Konkretisierung und Operationalisierung durch unter- und nachgeordnete Gesetze. Genau diese seien in San Luis Potosí erlassen worden, beispielsweise ein eher unscheinbares Gesetz bezüglich administrativer Angelegenheiten der indigenen Rechtssprechung. Damit wird jedoch die indigene Policia Comunitaria (Gemeindepolizei) legalisiert und dazu ermächtigt, präventive Verhaftungen vorzunehmen (siehe LN 403). Ein anderes wichtiges sekundäres Gesetz erlaubt den indigenen Gemeinden die autonome Entscheidung darüber, ob und wie alkoholische Getränke in ihren Dörfern vertrieben werden.

Die Bevölkerung glaubt den offiziellen „Staatistiken“ nicht

Das hört sich zwar recht fortschrittlich an, doch der zweite Ortstermin, diesmal in Hidalgo, zeigt, dass die Betroffenen in der Huasteca sich nicht mit den per Gesetz gewährten Autonomieregelungen zufrieden geben. Am 10. April feierte in dem Dorf Tecoluco Calpan die Landbesetzungsbewegung ihr 30-jähriges Bestehen. Im Zuge der Fiesta wurde das Haus, das einst dem örtlichen Kaziken gehörte und in dem damals Bauern gefoltert wurden, zu einer Casa Popular umfunktioniert und eingeweiht. Tropische Hitze erdrückt den ärmlichen Ort im Grenzgebiet zu Veracruz, von wo der mexikanische Staat erst vor kurzem einen Militärstützpunkt abgezogen hat. Mehrere Kühe werden geschlachtet, Blumenkränze aufgehängt, traditionelle Musik gespielt und Tänze aufgeführt. Eingeladen sind VerterterInnen von anderen sozialen Bewegungen aus verschiedenen Bundesstaaten. Im politischen Programmteil werden dann Reden auf Nahuatl und Spanisch gehalten und ein selbst produziertes Buch mit dem Titel „Unsere eigene Geschichte“ vorgestellt. Darin finden sich die Geschichten „von unten“, vom jahrzehntelangen Widerstand in 19 huastekischen Dörfern, welche in stundenlangen Versammlungen kollektiv erarbeitet wurde.
Denn zu erzählen gibt es viel: Zuerst wurden die Landbesetzungen von den quasistaatlichen Bauernorganisationen und linken politischen Parteien organisiert. Allerdings mussten die campesin@s feststellen, dass sie von diesen permanent übervorteilt wurden. Daraufhin lösten sie sich von diesen los und gründeten 1978 die Unabhängige Organisation der Vereinten Völker der Huastecas (OIPUH). Die OIPUH wiederum schloss sich 1986 mit anderen autonomen Landebesetzungsorganisationen zu der Demokratischen Front Ostmexikos Emiliano Zapata (FDOMEZ) zusammen. Diese konnte in den 80er Jahren alleine in Hidalgo um die 30 000 Hektar Land zurückerobern. In den 90er Jahren gelang es ihr, sich auch in Veracruz auszubreiten. Ihre politische Orientierung kann als eine Art Nahuatl-Marxismus beschrieben werden. Sie ist eher der orthodoxen Linken in Mexiko zuzuordnen und wird, wie viele andere radikale Indígena-Organisationen in extrem armen Gegenden, mit der Guerilla Revolutionäre Volksarmee EPR in Verbindung gebracht. Trotz starker staatlicher Repression ist die FDOMEZ weiterhin aktiv und initiierte 2007 die Nationale Kampffront für den Sozialismus (FNLS). Außerdem entstand aus der Landbesetzungsbewegung 1992 ein autonomes Menschenrechtskomitee in Hidalgo, das Komitee für Menschenrechte der Huastecas und Sierra Oriental (CODHHSO). Der bewusste Verzicht auf staatliche Unterstützung bringt jedoch auch erschwerte Arbeitsbedingungen mit sich: der Computer ist ständig kaputt, seit längerem fehlt das Geld für die Miete und Arbeitsreisen können nur auf Pump oder durch Spenden finanziert werden. Zudem ist die Arbeitsatmosphäre von Angst geprägt. Anfang der 90er Jahre gab es wiederholt Morddrohungen gegen die MitarbeiterInnen und das Büro musste zeitweilig (bis 1997) nach Mexiko-Stadt verlagert werden. Auch heute noch wird das Büro immer wieder von Unbekannten beschattet, die durch ihr militärisches Auftreten auffallen.
Pedro Hernández Flores, Präsident des CODHHSO, kommt aus einem extrem armen Nahua-Dorf, war von Anfang an in der Landbesetzungsbewegung aktiv und ist heute eine anerkannte Autorität in den organisierten Dörfern. Auf Grund der Repression musste er die Region verlassen und beteiligte sich Jahre lang in verschiedenen Orten Mexikos an Protestaktionen und Organisationsarbeit, um den Kampf in der Huasteca zu stärken. Wegen eines offensichtlich von den Behörden fingierten Delikts verbrachte er Ende der 90er Jahre zwei Jahre im Gefängnis, wo er seinen Grundschulabschluss nachholte. Gegenwärtig ist er dabei, ein Netz von Menschenrechtsmonitoren in der Huasteca aufzubauen. Eingebettet in das traditionelle indigene Ämtersystem, das in der Teilnahme an kollektiven Arbeiten und der Erfüllung spezieller Gemeindeaufgaben besteht, werden regelmäßig autonome Menschenrechtsworkshops auf Nahuatl abgehalten. Die wichtigsten Aspekte sind dabei die Organisation und Motivation der Monitore, das Bewusstsein bezüglich der Existenz ihrer Rechte in den Dörfern zu verbreiten, sich für die Einhaltung der Rechte stark zu machen sowie sich die grundlegenden Methoden zur Dokumentierung und Denunzierung von Menschenrechtsverletzungen anzueignen. Im Gespräch betont Pedro Hernández Flores, dass es nicht darum gehe, sich auf gesetzliche Regelungen zu verlassen, „sondern darum, was zu tun ist, damit die Gesetze eingehalten werden. Ohne Organisation gibt es keine Bewusstseinsbildung und keine Verteidigung. So wie wir die Landrechte im Zuge von Kämpfen errungen haben, so werden wir sie durch die Passivität wieder verlieren“.

Der Verzicht auf staatliche Unterstützung bringt erschwerte Arbeitsbedingungen mit sich

Die Verabschiedung der Erklärung der Rechte der Indigenen Völker der UNO im September 2007 sieht er wenig euphorisch, denn diese Rechte stünden nur auf dem Papier. Zudem seien von Rechtsverletzungen in der Huasteca ja nicht nur die indigenen, sondern alle campesin@s betroffen. Generell scheint ihm eine ethnische Unterscheidung am Problem vorbeizugehen: „In unserer Denkweise trennen wir die Sachen nicht so: Indigener hier und Nicht-Indigener da, weil das Problem ist hierbei nicht ,der Indigene’. Das Problem ist die Struktur des kapitalistischen Systems. Es geht um den Aufbau eines Systems, worin alle die gleichen Rechte und den gleichen Respekt genießen, worin alle alles haben.“ So will er trotz gewisser juristischer Fortschritte auch weiterhin die Rechte der Menschen in der Huasteca nicht institutionellen Händen überlassen, sondern selbstständig für diese kämpfen. In einem der Menschenrechtsworkshops brachte er die Sache auf den Punkt: „Amo Tihuihui!“ – „Sei nicht der Depp!“.

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