Mexiko | Nummer 355 - Januar 2004

Chronik einer Rebellion

ZehnJahre indigener Widerstand und autonome Organisationsformen in Chiapas

Ya basta – es reicht! Mit diesem Schlachtruf besetzt ein Heer maskierter und schlecht bewaffneter Indígenas im Morgengrauen des Neujahrstages 1994 die Rathäuser in sieben Landkreisen des südostmexikanischen Bundesstaates Chiapas und erklärt der mexikanischen Regierung den Krieg. Was im ersten Moment wie ein Himmelfahrtskommando anmutet, erweist sich schnell als waghalsige aber wohl überlegte und koordinierte Aktion. Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung EZLN ist, im elften Jahr ihres Bestehens, an die Öffentlichkeit getreten – und hat Chiapas und ganz Mexiko seitdem nachhaltig verändert.

Markus Müller

San Cristóbal de las Casas am 1. Januar 1994: Vom Balkon des Rathauses verliest ein gewisser Subcomandante die Erste Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald. Die Forderungen der Aufständischen lauten: Land, Arbeit, Nahrung, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit, Unabhängigkeit. Das mexikanische Bundesheer reagiert mit Härte. Vor allem in der Stadt Ocosingo, wo die ZapatistInnen den Marktplatz mehrere Tage besetzt halten, kommt es zu schweren Gefechten. Am Ende sind mehrere Dutzend Menschen tot. Fünf ZapatistInnen weisen Kopfschüsse auf.
Ihr Ziel, durch einen massiven Militärschlag die Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu ziehen, haben die ZapatistInnen zweifelsohne erreicht. Die Regierung ist so perplex, dass ihr zunächst nichts besseres einfällt, als den Aufstand nationalen und internationalen, vor allem zentralamerikanischen Verschwörern in die Schuhe zu schieben, die die Indigenas manipuliert hätten, und setzt auf die militärische Karte. Mehrere Tausend Soldaten des Bundesheeres werden in Chiapas zusammengezogen um den Aufständischen den Garaus zu machen. Mit Massendemonstrationen nicht zuletzt im 1.500 Kilometer entfernten Mexiko-Stadt gelingt es jedoch, die Regierung von diesem Vorhaben abzubringen und an den Verhandlungstisch zu zwingen. Das Resultat ist ein 34-Punkte-Plan, der den indigenen Gemeinden einige soziale Verbesserungen verspricht, die politischen Forderungen der EZLN jedoch ignoriert. Dass 97 Prozent der zapatistischen Basisgemeinden den Plan ablehnen, ist also kaum verwunderlich.
Um den Jahreswechsel 1994/95 scheint eine Verhandlungslösung des Konflikts möglich zu sein. Repräsentanten der Regierung des neu gewählten Präsidenten Zedillo und der Kommandantur des EZLN treffen sich zu vertraulichen Gesprächen. Doch genau in dieser Situation, als sich ein fruchtbarer Dialog zu entwickeln scheint, lanciert Zedillo am 9. Februar 1995 eine militärische Offensive gegen die zapatistischen Gemeinden und erlässt Haftbefehle gegen führende ZapatistInnen. Die nationale und internationale Gemeinschaft reagiert mit Solidaritätskundgebungen. Nach kurzer Zeit muss Zedillo die Offensive abbrechen, aber das Vertrauen der EZLN in die Regierung ist nachhaltig gestört.

Das Abkommen von San Andrés
Nichtsdestotrotz gelingt es nach zähen Verhandlungen den Delegationen der beiden Konfliktparteien am 16. Februar 1996 in dem chiapanekischen Dorf San Andrés Larraínzar ein Teilabkommen zu schließen, das den indigenen Gemeinden weit reichende Autonomierechte zugesteht. Damit scheinen wesentliche Bestandteile des Forderungskataloges der EZLN umgesetzt und die Voraussetzungen für weitere Verhandlungen zu anderen Themen geschaffen. Die aus Abgeordneten und SenatorInnen aller Parteien bestehende Verhandlungskommission Cocopa legt dem Kongress einen umfassenden Gesetzesentwurf vor, doch Präsident Zedillo legt sein Veto ein. Das Abkommen von San Andrés wird nie umgesetzt. Zu weit reichend waren die zugestandenen Autonomierechte, die den indigenen Gemeinden nicht zuletzt mehr Selbstbestimmung und Rechte über die in Chiapas reichhaltig vorhandenen Bodenschätze eingeräumt hätte.
Nun bricht die EZLN den Dialog endgültig ab und konzentriert sich auf den Auf- und Ausbau nationaler und internationaler Bündnisse. Noch im Juli 1996 laden die ZapatistInnen zum „Intergalaktischen Treffen gegen den Neoliberalismus und für die Menschlichkeit“ in den lakandonischen Urwald ein. Eine Woche lang diskutieren linke Basisorganisationen aus 42 Ländern in eigens für das Treffen gebauten Arenen mit den ZapatistInnen über die konkreten Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung.
Während der Bekanntheitsgrad der EZLN international auf einem Höhepunkt angelangt ist, müssen sich die ZapatistInnen mit der alltäglichen Bedrohung durch Militär und Paramilitärs auseinander setzen. Vor allem im Hochland von Chiapas kommt es massiv zu Vertreibungen aus den zapatistischen Gemeinden durch paramilitärische Gruppen. Tausende von Menschen müssen fliehen. Am 22. Dezember 1997 erreicht die Gewalt einen grausigen Höhepunkt als in der Gemeinde Acteál 45 wehrlose Menschen von einer paramilitärischen Gruppe massakriert werden. Um die Aufklärung des Massakers bemüht sich die Regierung kaum. Mehr noch, in der Folgezeit verweist sie eine ganze Reihe derjenigen außer Landes, die die Menschenrechtssituation in Chiapas unter die Lupe nehmen.
Erst mit der Abwahl der PRI und dem Amtsantritt von Vicente Fox im Herbst 2000 keimt wieder Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konfliktes auf. Zumindest ordnet Fox die Auflösung einiger weniger Militärbasen des Bundesheeres in Chiapas sowie die Freilassung von zapatistischen Gefangenen an. Außerdem verspricht er, die Gesetzesinitiative der Cocopa erneut dem Kongress zur Abstimmung vorzulegen.
In dieser Phase gelingt der EZLN im März 2001 mit dem Marsch auf die Hauptstadt nochmals eine massive Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Die ZapatistInnen werden begeistert empfangen, an der Abschlusskundgebung des Marsches in Mexiko-Stadt nehmen fast eine Million Menschen teil. Am 28. März hält die zapatistische Comandante Esther vor dem mexikanischen Kongress eine bewegende Rede und wirbt für die Umsetzung der im Abkommen von San Andrés beschlossenen Autonomierechte. Aber der vier Wochen später vorgelegte Gesetzentwurf bleibt hinter den Erwartungen der ZapatistInnen zurück: Ein einklagbares Recht der indigenen Gemeinden auf politische Autonomie und der Zugriff auf die natürlichen Ressourcen werden darin verweigert. Wieder einmal gelingt es den ZapatistInnen die Aufmerksamkeit des ganzen Landes auf sich zu ziehen, sie erfahren die Solidarität großer Teile der Gesellschaft. Aber politische Reformen, die zu einer substanziellen Verbesserung der in jeglicher Hinsicht prekären Situation der Indígenas beitragen könnten, werden wiederum nicht erreicht.
Mit der Erfahrung, dass von der Bundesregierung keine Zugeständnisse zu erwarten sind, ziehen sich die ZapatistInnen zwei Jahre lang fast gänzlich von der nationalen und internationalen Bühne zurück und widmen sich dem Ausbau der politischen und administrativen Strukturen in den autonomen Gemeinden. Im August werden die „Juntas der guten Regierung“ gebildet. Sie sind mit der Organisation von Schule, Justiz und Gesundheitswesen betraut.

Der Aufstand ist noch nicht zu Ende
Zehn Jahre nach Beginn ihres Aufstands hat die EZLN nur wenige konkrete Verbesserungen für die indianische Bevölkerung des Bundesstaates Chiapas erreicht. Doch die Rebellion war und ist keinesfalls vergeblich. Die prekäre soziale Lage der Indígenas ist dem Vergessen entrissen und gilt heute als Skandal. Die indigenen Ethnien Mexikos agieren landesweit als selbstbewusste Subjekte und streiten für ihre Interessen. Und auf internationaler Ebene hat das Ya basta der EZLN dem Widerstand gegen den neoliberalen Konsens einen enormen Auftrieb gegeben. In Chiapas steht eine Wiege der globalisierungskritischen Bewegung.

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