Chile | Nummer 444 - Juni 2011

Das große Geschäft mit dem Erdbeben

Die chilenische Regierung überließ den Wiederaufbau dem freien Markt. Nach über einem Jahr sind fast keine Wohnungen wieder aufgebaut

Verzweiflung und Unmut wachsen in den Regionen, die das Erdbeben im Februar letzten Jahres am schlimmsten traf: Zehntausende Menschen wohnen nach wie vor unter unwürdigen Bedingungen ohne viel Hoffnung auf eine Besserung der Situation. Eine staatliche Wiederaufbaupolitik existiert faktisch nicht – die rechte Regierung unter Präsident Sebastian Piñera hatte zum Amtsantritt kurz nach dem Erdbeben beschlossen, Großunternehmen mit dem Wiederaufbau zu beauftragen. Damit wurde nicht nur jede demokratische Partizipation ausgeschlossen, es verschärften sich die ohnehin schon starken sozialen Ungleichheiten in der chilenischen Gesellschaft. Die einzige Hoffnung liegt in der Mobilisierung von unten.

Kristin Schwierz

Das Stadtviertel Santa Ana nahe dem Stadtzentrum von Talca bietet ein tristes Bild: Halb eingefallene Häuser und Grundstücke, auf denen nur Holzverschläge und provisorische Behausungen stehen. Marco Peña lebt seit dem Erdbeben in einem Wohncontainer, die Küche hat er notdürftig im Hof aufgebaut, seine kleine Werkstatt in einem Verschlag untergebracht. Marco ist führender Aktivist im Komitee Sin Tierra („Ohne Boden“), in dem sich die NachbarInnen organisiert haben, die kein eigenes Grundstück besitzen und als MieterInnen im Viertel leben. Sie haben keinen eigenen Anspruch auf einen staatlichen Wiederaufbau-Zuschuss. Wenn die Grundstücke verkauft werden, müssen die BewohnerInnen wegziehen. „Wir wollen aber unser barrio erhalten“, sagt Marco mit Nachdruck. Das Komitee verhandelt dafür mit den EigentümerInnen der Grundstücke und sucht gleichzeitig mögliche InvestorInnen für den Neubau der Häuser. Zudem kämpfen die NachbarInnen darum, in ein Programm zur Erhaltung der barrios aufgenommen zu werden. Warum sie nicht Druck auf den Staat ausüben, die Grundstücke zu kaufen? „Das dauert viel zu lange“, meint Marco, die Leute bräuchten aber schnell eine Lösung.
„Wir sind alle sehr deprimiert“, beginnt Carmen Cruz das Gespräch. Sie ist Präsidentin des Nachbarschaftsrats von Santa Ana. Und sie wiederholt einmal mehr das, was man inzwischen von allen Betroffenen und UnterstützerInnen hört: „Es gibt keinen Wiederaufbau.“ Allein im Stadteil Santa Ana beantragten 160 Familien staatliche Zuschüsse für Reparaturen oder den Neubau der Häuser. Passiert ist bisher nichts, die Zuschüsse für die Reparaturen reichen gerade einmal für das Notwendigste, wie etwa ein neues Dach.
Die zuständigen regionalen Institutionen des Wohnungsministeriums werden von den Betroffenen als untätig wahrgenommen. Beschwerden würden abgeblockt, den Menschen mit Ignoranz begegnet, berichtet Carmen. „Außer einem Abgeordneten war bisher niemand hier, niemand hat das Viertel besichtigt. Die interessiert überhaupt nicht, wie die Situation hier aussieht.“
Die Zwischenbilanz der rechten Regierung unter Staatspräsident Piñera zum Wiederaufbau jedoch liest sich als Erfolgsgeschichte. Auf über 60 Seiten wird nahezu jede Maßnahme und Ausgabe detailliert aufgelistet. Die Regierung hatte nach dem Erdbeben vollmundig versprochen, dass sie den Wiederaufbau ohne internationale Hilfe allein stemmen werde und dafür einen Wiederaufbauplan für die Dauer der Amtszeit vorgelegt. Für die Reparatur und den Neubau von Wohnhäusern wurden verschiedene staatliche Zuschüsse beschlossen. Im dafür eröffneten Register haben sich 285.000 Familien eintragen lassen, deren Häuser beim Erdbeben beschädigt oder zerstört worden waren. Die Regierung spricht aber nur von 220.000 beschädigten oder zerstörten Wohnungen. Die Differenz ergibt sich aus der Tatsache, dass Zehntausende Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen keinen Anspruch auf einen Zuschuss haben, beispielsweise wenn durch ungeregeltes Erbe keine HauseigentümerInnen auszumachen sind oder wenn Familien bereits früher einen staatlichen Zuschuss zum Bau ihres Hauses bekommen haben.
Der Bericht zeigt deutlich die Prioritäten des Wiederaufbaus. So wird die ökonomisch wichtige Verkehrsinfrastruktur wie Brücken, Autobahnen und Flughäfen im Gegensatz zur sozialen Infrastruktur und zum Wohnraum als hundertprozentig wiederhergestellt ausgewiesen.
Eine Erfolgsmeldung der Regierung ist auch die Übergabe von 80.000 Notunterkünften im letzten Jahr. Das sind allerdings weit weniger, als tatsächlich gebraucht wurden. So erzählt Paulina Elissetche, Abgeordnete im Stadtrat von Talca, dass für die Stadt nur etwa die Hälfte der eigentlich benötigten Notunterkünfte übergeben wurden. „Die Regierung hat einfach gesagt, dass es dafür jetzt kein Geld mehr gibt“, berichtet Elissetche. Im Widerspruch dazu steht, dass sie einen Aufpreis für den Bau der Notunterkünfte bezahlte, mit dem die drei größten Baumaterial-Produzenten des Landes beauftragt worden waren. Diese nutzten die Gelegenheit, um die Preise für Baumaterialien drastisch zu erhöhen. Nichtregierungsorganisationen (NRO), die sich beim Aufbau engagierten, zahlten sogar das Doppelte des ursprünglichen Preises. Monate später wurde das durch einen Untersuchungsbericht aufgedeckt und in den Medien skandalisiert.
Den Auftrag zur Erstellung der Pläne für den Wiederaufbau der Städte Talca, Concepción und Constitución vergab die Regierung ebenfalls an drei Großunternehmen, die das als „Gratis-Dienstleistung“ angeboten hatten. Nicht nötig zu erwähnen, dass sie dieses Angebot nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus klarem ökonomischen Kalkül heraus unterbreitet hatten. Ausschreibungen für die Vergabe der Aufträge hatte es im Vorfeld nicht gegeben. Die Verantwortung für eine originär politische und demokratisch zu gestaltende Aufgabe wurde so mit einem Handstreich an einige wenige Wirtschaftsmonopolisten übergeben.
Chile gilt als „Modellland“ des real existierenden Neoliberalismus. Ebenso modellhaft zeigt sich in dem Andenstaat, welche sozialen, politischen und ökonomischen Nachbeben auf ein solch schweres Erdbeben folgen, wenn einzig die Gesetze des Marktes gelten und demokratische Mechanismen außer Kraft gesetzt sind.
An der Stadt Talca lassen sich diese Nachbeben exemplarisch nachvollziehen: Ein Ort, in dem es – wie überall in Chile – in den letzten 40 Jahren weder eine politische Stadtplanung noch eine Wohnungspolitik gab, die sich an den Bedürfnissen der BewohnerInnen orientierte.
Das urbane Zentrum von Talca sowie die umliegenden Viertel sind am stärksten von den Folgen des Erdbebens betroffen. Die Menschen, die dort leben, haben zum Teil alles verloren. Mit den Häusern wurden vielfach auch Werkstätten oder Läden und damit die Existenzgrundlage vernichtet.
Die NRO Surmaule, die kritische Sozialforschung auf regionaler Ebene betreibt und sich politisch für die Stärkung der Zivilgesellschaft engagiert, wird für Talca eine eigene Bilanz veröffentlichen. Diese wird ebenso detailliert ausfallen wie die der Regierung, nur wird sie aufdecken, wie die Realität hinter der offiziellen Wiederaufbau-Rhetorik wirklich aussieht.
Surmaule-Mitarbeiter Francisco Letelier erzählt, dass es bei 8.000 betroffenen Haushalten erst für ein paar hundert Familien Lösungen gibt. Die Menschen, deren Häuser nicht mehr existieren oder nicht bewohnbar sind, leben bei Familienangehörigen oder in Notunterkünften – zum Teil ohne Basisinfrastruktur wie fließendes Wasser. Die Notbehausungen sind einfache, durchschnittlich 18 bis 24 Quadratmeter große Holzhäuser mit schlechter Dämmung, in denen oft ganze Familien leben. Die BewohnerInnen müssen sich nun bereits auf den zweiten kalten Winter in diesen Notbehausungen einrichten.
Eine weitere dramatische Entwicklung ist der staatlichen Wohnungspolitik und der Immobilienspekulation geschuldet: Die Wiederaufbau-Zuschüsse des Staates werden nicht an die Betroffenen sondern an die Baufirmen gezahlt und diese bauen auf den billigsten Grundstücken – in der Peripherie. Gleichzeitig drängen Immobilienfirmen GrundstückseigentümerInnen im Stadtzentrum zum Verkauf weit unter Marktwert. Sie spekulieren darauf, dass der Bodenpreis im Zentrum Talcas in den nächsten Jahren nach oben schnellen wird. Bisher haben wenige EigentümerInnen verkauft und es existieren lediglich Pläne für große Wohnkomplexe am Stadtrand. Aber der Druck ist groß, vor allem auf die sozial Verletzlichsten: arme Familien, alleinerziehende Mütter, alte Menschen. Die Verdrängung wird die Sozialstruktur in den betroffenen Vierteln komplett verändern, die bisher noch vergleichsweise durchmischt ist. „Die meisten Menschen leben seit Generationen hier. Die erste Generation hat die Häuser selbst aufgebaut“, erzählt Francisco Letelier. „Und jetzt sollen sie weg.“ Dieser Verdrängungsprozess bedeute eine „Säuberung“ des Stadtzentrums von den Armen, erklärt Francisco Letelier und verweist darauf, dass dies nur eine Fortsetzung der Politik der Zeit vor dem Erdbeben ist: „In der staatlichen Wohnungspolitik existieren barrios schlicht nicht. Sie funktioniert einzig und allein über Zuschüsse vom Staat und den Markt. Wie existenziell soziale Netzwerke für die Menschen sind, wird konsequent ignoriert. Die Wohnungspolitik interessiert sich nicht für die Menschen sondern dafür, dass der Markt gut funktioniert.“ Auch die soziale Infrastruktur im Stadtzentrum ist in Gefahr. So wurde eine Schule zerstört, die die Kinder aller umliegenden Viertel besuchten und die somit sozial sehr durchmischt und integrativ war. „Um die Schule gab es im Stadtrat großen Streit mit dem Bürgermeister“, erzählt Paulina Elissetche. „Und wir kämpfen immer noch um den Wiederaufbau.“ Ginge es nach dem Bürgermeister, würden die SchülerInnen auf verschiedene Schulen am Stadtrand verteilt werden, weil der Wiederaufbau zu teuer sei. An die Immobilienfirmen habe der Bürgermeister gleichzeitig die Parole ausgegeben: Wer hier bauen will, kann bauen, wie er will, so Francisco. Und so schießen in der einstigen Altstadt heute Bürogebäude und Hochbauten aus Beton aus dem Boden.
Nach dem Erdbeben wurde von Universitäten, der Architektenschule, einigen NRO und der Gemeindeverwaltung ein Runder Tisch einberufen, der im Dialog mit den NachbarInnen Vorschläge zum Wiederaufbau erarbeiten sollte. Für diese Arbeit gab es ein offizielles Mandat des Bürgermeisters. Die Vorschläge, die unter anderem die Bildung eines Gremiums mit Bürgerbeteiligung beinhalteten, fanden im April 2010 im Stadtrat Zustimmung. Wenige Tage später aber wurde von der Zentralregierung und dem Bürgermeister der Auftrag für den Wiederaufbauplan an ein Großunternehmen vergeben. Demokratische Entscheidungsprozesse wurden damit für passé erklärt.
Die BewohnerInnen und Bürgerinitiativen akzeptierten diese Entscheidung nicht und führten den Runden Tisch weiter, organisierten Versammlungen in den Vierteln und schließlich große BürgerInnenratschläge. So entstand die Bürgerbewegung Talca con todos y todas (Talca mit Allen). Die Basis für die Organisierung der BürgerInnen wurde in Talca schon vor dem Erdbeben mit dem politischen Weiterbildungsprogramm Escuela de Líderes („Schule für Anführer“) geschaffen. Dieses Programm für MultiplikatorInnen sozialer Bewegungen wurde 2003 von dem unabhängigen Sozialforschungsinstitut Sur Corporacion aus Santiago ins Leben gerufen und wird zusammen mit Surmaule organisiert. Das Modellprojekt hat viel dazu beigetragen, dass die Selbstorganisationsprozesse in Talca besser funktionieren als in anderen Städten. Nicht zuletzt ist dies auch der Verdienst der NRO Surmaule, die durch konkrete soziale und politische Arbeit die Menschen in den Stadtvierteln unterstützt, kritische Öffentlichkeit zum Thema Wiederaufbau herstellt und mit dem Wohnungsministerium verhandelt.
Es bewegt sich auch landesweit einiges: In Talca, Constitución, Concepción, Santiago, Talcahuano und anderen Städten hat sich Anfang des Jahres 2011 aus verschiedenen Nachbarschafts- und Bürgerinitiativen die Bewegung für einen gerechten Wiederaufbau formiert. Unter dem Motto „Ein Jahr ohne Wiederaufbau“ wurde zum Jahrestag des Erdbebens ein Aktionstag organisiert, um den Forderungen nach würdigem Wohnraum und dem Wiederaufbau der öffentlichen Infrastruktur Ausdruck zu verleihen. Die Bewegung fordert Partizipation der BürgerInnen beim Wiederaufbau ein und arbeitet selbst Vorschläge dazu aus. Regelmäßig werden landesweite Treffen abgehalten, die eine Plattform für den Austausch zwischen den verschiedenen lokalen Initiativen bieten. Außerdem werden Demonstrationen und Aktionen organisiert.
Die AktivistInnen von Surmaule sehen das Erdbeben wie viele andere als eine Gelegenheit zur Veränderung. So formuliert Surmaule-Mitarbeiterin Rocio Rodriguez kämpferisch: „Bisher sind alle Entscheidungen von oben getroffen worden, wir müssen Druck von unten aufbauen. Die Situation ist eine Chance, sich einzumischen in das, was in der Stadt passiert.“

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