Nummer 505/506 - Juli/August 2016 | Peru

DAS PRINZIP DES KLEINEREN ÜBELS

Die Wahlen hat Keiko Fujimori entgegen aller Umfragen verloren. Was kommt jetzt auf Peru zu?

Aus den Präsidentschaftswahlen in Peru ging Pedro Pablo Kuczynski erfolgreich hervor. Doch im Kongress hat die Partei von Keiko Fujimori die Mehrheit. Der neue Staatschef wird sich in manchen Fragen mit der Opposition, auch der Linken, arrangieren müssen.

Von Fedra Gutiérrez; Übersetzung: Lea Fauth

Peru hat viele Tage der Anspannung hinter sich. Am 5. Juni gingen die Präsidentschaftswahlen in die zweite Runde – eine Stichwahl zwischen der rechtspopulistischen Keiko Fujimori und dem liberalen Technokraten Pedro Pablo Kuczynski, der in Peru in der Vergangenheit schon die Posten als Wirtschafts- und Premierminister inne hatte. Die Hochrechnungen am Wahltag sahen Kuczynski mit seiner Partei Peruanos Por el Kambio (PPK) mit etwa einem Prozent vor der Kandidatin Fujimori von der Partei Fuerza Popular – zu feiern wagte bei solch einem knappen Vorsprung jedoch niemand.
Vier Tage lang blieb die Situation unklar und mit der wachsenden Unsicherheit kam auch die Angst vor einem Wahlbetrug auf – und zwar auf beiden Seiten. Am 9. Juni gab die Nationale Wahlorganisation (ONPE) schließlich die Ergebnisse bekannt, die den Sieg von Kuczynski mit knappen 50,12 Prozent bestätigten – gegen 49,88 Prozent der Stimmen für Keiko Fujimori.
Das Erstaunliche daran: Noch zehn Tage vor den Wahlen hatte Keiko Fujimori bei allen Umfragen vorne gelegen, während Kuczynski eine Niederlage vorausgesagt wurde. Was auf den ersten Blick wie ein plötzliches Erstarken der PPK aussieht, ist aber aller Wahrscheinlichkeit nicht der Partei als solcher zuzurechnen. „Die Ergebnisse der Stichwahl stellen weniger einen Triumph des Kandidaten Kuczynski, als vielmehr einen Sieg der Kampagne ‚Nein zu Keiko‘ dar“, so die Einschätzung des Journalisten und Wirtschaftswissenschaftlers Augusto Álvarez Rodrich in der Zeitung La República.
Keiko Fujimori ist die Tochter von Alberto Fujimori, der von 1990 bis 2000 als Präsident von Peru amtierte und extrem autoritär unter Missachtung der Menschenrechte regierte. Für viele Peruaner*innen symbolisiert Keiko Fujimori die Fortsetzung des autoritären Regimes – von Mitte bis Links gibt es daher eine geschlossene Ablehnung gegen alle Politiker*innen der Familie Fujimori.
Kuczynski hat diese Stimmung vor der anstehenden Stichwahl für sich zu nutzen gewusst. „Ich möchte Präsident von Peru sein, um die Demokratie zu verteidigen”, sagte er im zweiten Fernsehduell, das Ende Mai zwischen ihm und Fujimori stattfand. „Ich glaube an die Freiheit und ich bin überzeugt, dass diese Freiheit in Peru extrem gefährdet ist. Deshalb möchte ich alle Peruaner, egal welcher politischen Überzeugung, dazu aufrufen, die Freiheit zu verteidigen und die Rückkehr der Diktatur, der Korruption und der Lügen mit unseren Stimmen zu verhindern. Bürger, jetzt oder nie. Bis zum letzten Tisch, bis zur letzten Wahlstimme, es lebe Peru!“. Mit diesen Worten hatte Kuzcynski sich erfolgreich als Antifujimorist und als Demokrat positioniert, was denn auch der Schlüssel zu höheren Umfragewerten war. Wähler*innen von links und aus der Mitte konnte Kuzcynski für sich gewinnen, sofern sie gegen Fujimori waren. Auch hatte Kuczynski es geschafft, sich glaubhaft als Bekämpfer der Korruption zu präsentieren.
Fujimori hatte sich besonders mit zwei Fällen in der Öffentlichkeit unbeliebt gemacht. Zum einen wird der Generalsekretär und Hauptfinanzier der Wahlkampagne von Keiko Fujimori, Joaquín Ramírez, offenbar von der US-amerikanische Drogenfahndung DEA gesucht – wegen möglicher Verbindungen zum Drogenhandel und Verwicklung in Geldwäsche. Das behauptet zumindest der peruanische Ex-Pilot Jesús Vásquez. Zum anderen besteht der Verdacht, dass José Chlimper, der unter Fujimori als Vizepräsident kandidierte und die Kampagne ihrer Partei anführt, einem Fernsehsender eine gefälschte Audio-Datei zukommen lassen habe, auf der angeblich derselbe Jesús Vásquez gesteht, dass die Anschuldigungen gegen Ramírez falsch seien.
Dieser versuchte Betrug, zusammen mit den Beschuldigungen gegen Ramírez und gegen andere Mitglieder der Fuerza Popular, von denen sich Keiko Fuijimori bis heute nicht klar distanziert hat, dürfte viele ihrer Anhänger*innen und Sympathisant*innen abgeschreckt haben. Das war wiederum entscheidend für die Stärkung der anti-fujimoristischen Bewegung, der sich Kuczynski am Ende seiner Wahlkampagne anzunähern vermochte.
Aber auch die formale Unterstützung in letzter Minute von Seiten der peruanischen Linken war entscheidend für den plötzlichen Stimmungswechsel unter den Wähler*innen. Die Kandidatin des linken Parteienbündnisses Frente Amplio („Breite Front“), Verónika Mendoza, verpasste in der ersten Wahlrunde als Dritte knapp die Stichwahl. Für den zweiten Wahlgang rief sie ihre Anhänger*innen überraschend dazu auf, Kuczynski zu wählen „um dem Fujimorismus den Weg zu versperren, der heute eng mit Korruption und Drogenhandel verbunden ist.“
Durch diesen Aufruf, der auch auf Quechua über  diverse lokale Radios ausgestrahlt wurde, konnte Verónika Mendoza die Bevölkerung im Süden des Landes erreichen, die eigentlich gegen Kuyzynski und vor allem das von ihm repräsentierte Wirtschaftsmodell ist. Der Süden hatte in der ersten Runde großenteils Mendoza gewählt. Ihr Aufruf dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, Wähler*innen für Kuzcynski zu gewinnen, die andernfalls ungültige oder leere Wahlzettel bei der Stichwahl abgegeben hätten.
Der Anti-Fujimorismus stellte das ganze Land unter Spannung. Bezeichnend dafür war eine nationale und internationale Großkundgebung am 31. Mai, die von dem Kollektiv „Nein zu Keiko“ organisiert wurde. Eine große Demonstration fand unter anderem auf dem Platz Dos de Mayo in Lima statt: Mehr als 70.000 Menschen nahmen teil, unter ihnen Politiker*innen, Arbeiter*innen, Gewerkschafter*innen, unabhängige Aktivist*innen, Angehörige der Opfer des Regimes von Alberto Fujimori, soziale Bewegungen, öffentliche Personen, Journalist*innen und Studierende. Obwohl bei dieser Demonstration nicht dazu aufgerufen wurde, Kuczynski zu wählen, gab es eine klare Ablehnung der Wahlenthaltung. Dadurch wurden indirekt viele noch unentschiedene Anti-Fujimorist*innen überzeugt, den Ökonomen und ehemaligen Minister zu wählen.
„Der Anti-Fujimorismus stabilisiert sich als ein großer Akteur des politischen Lebens“, schreibt auch der Historiker Antonio Zapata mit Anspielung auf die peruanischen Wahlen im Jahr 2011, wo es zu einem ähnlichen Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Keiko Fujimori und dem damaligen Kandidaten Ollanta Humala gab, bei dem die rechtspopulistische Kandidatin ebenso verloren hatte. Damals hatte es eine ähnliche Bewegung gegen sie gegeben, die das Wahlergebnis maßgeblich beeinflusst hatte.
Die Partei Fujimoris ist damit dauerhaft in eine schwierige Situation geraten. Für den Historiker und Sozialwissenschaftler Nelson Manrique werden sich „die Spannungen zuspitzen, die den Fujimorismus zerreißen“, so seine Einschätzung. Tatsächlich trägt Keiko Fujimoris Partei auch intern viele Konflikte aus. Ihr Vater Alberto Fujimori hat zum Beispiel wiederholt seine Unzufriedenheit mit der Wahlstrategie seiner Tochter gezeigt. Hinzu kommt ein Machtstreit zwischen ihr und ihrem Bruder Kenji darüber, wer die Partei anführt.
Vom Tisch ist das Erbe Alberto Fujimoris damit aber noch lange nicht. Mit 73 von insgesamt 130 Kongressmitgliedern stellt die Partei Fuerza Popular die absolute Mehrheit im Kongress und kann Kuczynskis Regierung in vielen Punkten blockieren. Keiko Fujimori hat außerdem eine starke Opposition angekündigt. Es bleibt offen, ob das in Form von Boykott passiert, oder ob es doch ein Stück weit Kooperationen geben wird, etwa in wirtschaftlichen Fragen, bei denen Fujimori und Kuczynski sich gar nicht so uneinig sind. So gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, dass die Fuerza Popular, die – wie Kuzcynski – den internationalen Markt für Bergbau-Investitionen öffnen will, Interesse daran hat, dass dieses Modell während der PPK-Regierung funktioniert, da sie im Falle eines Scheiterns keine Chance hätten, die nächsten Wahlen zu gewinnen.
Sie könnten aber auch die Taktik einschlagen, die nun an die Macht kommende Kuczynski-Regierung zu destabilisieren. „Wir wissen schon, wem der Kongress gehört“, sagte Pedro Spadaro, Vorsitzender von Fujimoris Partei Fuerza Popular, in einem Anfall von Überheblichkeit. Dieser Vorgeschmack auf möglicherweise Kommendes deutet eher auf eine autoritär und anmaßend agierende Fraktion hin.
Ein Fragezeichen ist die peruanische Linke mit der Fraktion der Frente Amplio. Einerseits war ihr Aufruf entscheidend für den Wahlsieg des zukünftigen Präsidenten: andererseits bedeutete diese Unterstützung in letzter Minute aber noch lange keinen Pakt mit Kuczynski. Die Frente Amplio hat nun also die Hände frei, um als echte Opposition zu handeln, die „die Logik der neoliberalen Akkumulation hinterfragt, die von beiden Präsidentschaftskandidaten repräsentiert wird“, wie Manrique hofft, und die „eine inklusive Politik fordert, ein Zurückholen unserer Kulturen und unserer Identität, und die sich mit jeder Form von Diskriminierung auseinandersetzt, indem sie radikale Änderungen fordert.“
Eine Koalition mit Kuczynski schloss Verónika Mendoza indes aus. Sie stellte klar, dass ihre 20 Kongressmitglieder eine wachsame Opposition stellen würden, die aber jene Projekte der Regierung unterstützen werden, die mit dem Programm der Fraktion vereinbar sind. Wenn die Frente Amplio sich Chancen auf die Präsidentschaft ab 2021 eröffnen will, wird ihre Arbeit im Kongress von zentraler Bedeutung sein. Dafür muss die Fraktion geschlossen und zusammen bleiben, und ihre politische Linie beibehalten, mit der sie sich als dritte politische Kraft in Peru stabilisiert hat – als progressive Linke: inklusiv, offen zum Dialog, dezentralistisch, interkulturell und respektvoll gegenüber Menschenrechten und  Umwelt. Es wird aber auch nötig sein, die mehr als acht Millionen Anhänger*innen von Fujimori zu verstehen und auf sie einzugehen, anstatt sie zu verteufeln.
Kuzcynski wird seine Amtszeit indessen in einem besonderen Kontext antreten. Für Sinesio López, Sozialwissenschaftler von der Katholischen Universität Lima, wird sich mit dem Wahlsieg Kuczynskis in Peru eine geteilte Regierung etablieren: Eine Partei stellt den Präsidenten, die andere Partei stellt die Mehrheit im Kongress. Angesichts diesem möglichen Problem der „Unregierbarkeit“ hält López es für wahrscheinlich, dass Kuczynski „die Konfrontation vermeiden und eine Politik der Einigung in mehrere Richtungen verfolgen wird: Einigungen mit dem Fujimorismus, was das wirtschaftliche Modell angeht, und Abkommen mit der Mitte und der Linken, was die Sozialpolitik und den Kampf gegen Korruption oder für Freiheit und Menschenrechte angeht.“ Das waren auch die ersten Worte Kuczynskis als gewählter Präsident. In einer Rede nach dem Wahlsieg stellte er klar, dass er eine Politik des Dialogs mit allen politischen Kräften im Land etablieren wolle.
Die Herausforderung, vor der der neue Präsident somit steht, ist groß: Ein Land regieren, das polarisiert ist zwischen einem starken Fujimorismus  im Kongress, und einem starken Anti-Fujimorismus, für den die Menschen auf die Straße gehen und der sowohl in der politischen Mitte als auch bei der Linken sehr präsent ist. Er wird daher zeigen müssen, mit beiden Seiten auf ausgeglichene Art und Weise verhandeln zu können. Das ist aber nicht einfach. Wird Kuczynski zum Beispiel mit den Fujimorist*innen über die Freilassung des Ex-Präsidenten verhandeln, der seit Jahren im Gefängnis ist? Als ihm die Frage gestellt wurde, antwortete Kuczynski, dass er Fujimori nicht begnadigen würde, ließ aber die Möglichkeit eines Hausarrests statt einer Gefängnisstrafe offen. Dabei darf er aber auch nicht vergessen, dass es der starke Antifujimorismus war, der ihn überhaupt in den Regierungspalast gebracht hat. Für diese Bewegung ist es inakzeptabel, den Ex-Präsidenten aus dem Gefängnis zu lassen.
Für Salomón Lerner Febres, ehemaliger Präsident der Kommission für Wahrheit und Versöhnung, ist einer der wichtigen Faktoren, dass die neue Regierung ihre Versprechen in Sachen Menschenrechte einhält. Das heißt, dass nicht nur alle Arten der Diskriminierung bekämpft werden, sondern auch ein Plan der Personensuche von Verschwundenen aufgestellt wird. Der „Plan Integral de Reparaciones“ für die Opfer der Gewaltperiode, die Peru zwischen 1980 und 2000 erlebt hat, müsse weitergeführt werden, so Lerner. Ein weiterer entscheidender Punkt ist, dass nach einem Null-Toleranz-Prinzip mit Korruption verfahren wird. Das Gesetzesprojekt des „zivilen Todes“ für Korrupte müsste daher weitergeführt werden, sowie die Unverjährbarkeit für Korruptionsdelikte.
Und schließlich müsste ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Wirtschaftspolitik Kuczynskis, die ausländische Investitionen besonders im Bergbau fördern will, und dem Schutz der Umwelt, zu dem sie sich verpflichtet hat, sowie der Einhaltung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die die Befragung indigener Völker bei allem, was auf ihren Territorien stattfinden soll, vorschreibt.
Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Kuczynski in der Vergangenheit sein öffentliches Amt als Minister dazu genutzt hat, den transnationalen Firmen große Vorteile zu bescheren – zum Nachteil der peruanischen Bevölkerung. Bekannt ist unter anderem der auf Kuczynski lastende Vorwurf, er habe der International Petroleum Company geholfen, aus dem peruanischen Finanzsystem 115 Millionen US-Dollar herauzuziehen, als er 1968 Geschäftsführer der Zentralbank war. Außerdem wurde er 2001 als Berater der Firma Hunt Oil eingestellt, im selben Jahr also, in dem er sein Amt als Wirtschaftsminister antrat. Als Minister soll er dem Unternehmen ein Preiszugeständnis für das Erdgasfeld (lote) Nr. 56 gewährt haben. Zudem hatte er auch maßgebliche Gesetzesänderungen unterstützt, die Hunt Oil ermöglichten, die Produktion des Erdgasfeldes Nr. 88 zu exportieren, was die Deckung des nationalen Gasbedarfs gefährdete.
Kuczynski bestreitet diese Vorwürfe bis heute. Viele befürchten, dass er transnationalen Unternehmen Vorteile einräumen wird. Seine öffentlich gezeigte Geringschätzung der andinen und indigenen Völker lassen jedenfalls Jahre der sozialen und ökologischen Konflikte befürchten, deren Preis menschliche Leben sein könnten, wie es in Bagua, Tía María oder Conga der Fall war. Man solle ihn nicht als „kleineres Übel“ wählen, hatte Kuczynski noch gesagt, sondern als Vorteil für das ganze Land. Wie das mit seiner industrienahen Position vereinbar ist, wird sich in den kommenden fünf Jahren zeigen.

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