Chile | Nummer 450 - Dezember 2011

„Der Rückzug wird lehrreich sein“

Interview mit dem chilenischen Studenten Lucas Miranda

Die Proteste gegen das ungerechte chilenische Bildungssystem haben das Land die letzten sechs Monate in Atem gehalten. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit dem chilenischen Studenten Lucas Miranda über die Erfahrungen mit dem Protest, die offizielle Regierungspolitik und die Aussichten für die nächste Zeit.

Interview: Jan-Holger Hennies, David Rojas-Kienzle

Die bisherigen Bildungsproteste in Chile werden vielfach als Einschnitt betrachtet. Was ist dieses Mal anders als bei vorherigen Protesten?

Ab einem gewissen Moment haben die Proteste übertroffen, was bisher in Chile erreicht wurde. Deswegen denke ich, dass es ein vor und ein nach den Protesten geben wird. Am Anfang dachten viele, es wäre einfach eine Fortführung der bisherigen Bildungsproteste, die mit den Protesten 2006 (siehe LN 385/186) ihren Höhepunkt erreicht hatten. Deswegen richteten sich die Forderungen am Anfang nach den realen Möglichkeiten. Kostenlose Bildung wurde im April noch nicht gefordert. Aber als die Bewegung mit der größten Demonstration seit dem Ende der Diktatur Mitte Juni mit 200.000 Menschen in Santiago und später mit 400.000 in ganz Chile immer größer wurde, wurden auch die Forderungen entsprechend der Möglichkeiten ausgeweitet. Die Forderung nach einem Modellwechsel wurde artikuliert und das ist ein Meilenstein in der Geschichte der sozialen Bewegungen seit der Rückkehr zur Demokratie. Bisher waren diese immer auf einzelne Bereiche oder Verbände beschränkt, wie auch 2006, als die Proteste nur von der Forderung nach einem kostenlosen Schülerticket für den Nahverkehr ausgingen.

Wie verhält sich die Regierung zu den Protesten?

Es ist paradox, wie sich die Regierung verhalten hat und was sie mit diesem Verhalten erreicht hat. Sehr viel nämlich und das, obwohl ihr Verhalten komplett improvisiert war und sie eine politische Unerfahrenheit offenbart hat. Am Anfang versuchte sie, den Protestierenden keine Beachtung zu schenken und sie zu verharmlosen, da sie nichts Konkretes fordern würden und nur einen Teil der Studierenden repräsentiere. Zwischenzeitlich behauptete sie dann, dass die Bewegung von linken Kräften der kommunistischen Partei kooptiert sei. Die Rechte in Chile denkt eben immer noch in Kategorien aus dem Kalten Krieg. Danach wurde gesagt, die Proteste würden die öffentliche Ordnung stören. Damit rechtfertigte die Regierung heftige Repressionen. Gleichzeitig fing Piñera an, doppelte Standards zu verwenden und nach außen hin besorgt zu wirken. So bezeichnete er die Forderung nach kostenloser Bildung als gerecht und nobel. Im Folgenden wurden die ersten großen Vorschläge verabschiedet, die Piñera im Fernsehen ankündigte und denen er sensationalistische Namen gab, die aber im Vergleich zu den Forderungen nichts anderes als Brotkrumen waren. Die Regierung glaubte, wir würden nochmal so dämlich sein wie 2006, als wir mit der Mobilisierung aufhörten, nachdem Vorschläge kamen.
Die runden Tische wurden demnach abgebrochen. Laut der Rechten wegen der Unnachgiebigkeit der Studenten, aber eigentlich waren sie diejenigen, die nicht bereit waren in irgendeiner Form von ihrem neoliberalen Bildungsmodell abzurücken.

Warum ist die Regierung auch nach sechs Monaten des Protests nicht bereit, von diesem Modell abzurücken?

Die Regierung repräsentiert einen Teil der Kapitalisten aus dem Bildungs- und Finanzsektor, welcher über die Studienkredite auch seinen Teil aus der Bildung zieht. Sie ist viel eher bereit, ihre Popularität oder eine zukünftige Wahl zu verlieren, als ihre ökonomische Macht im Bildungs- und Finanzsektor. Deswegen haben sie sich den Forderungen der Studierenden gegenüber taub gestellt, obwohl das unglaublich unpopulär ist. Deswegen haben sie im August, als die Umfragen gezeigt haben, dass sie vollständig ohne Unterstützung sind, ihre Strategie geändert. Sie haben aufgehört, sich von der schönen Seite zu zeigen, um wieder Unterstützung zu gewinnen und verteidigen jetzt eindeutig den Sektor, der ihnen Gewinne bringt. Auf der anderen Seite haben diejenigen, die diese Bewegung ausmachen, die Studenten und Bürger, die an den Umfragen teilnehmen und auf die eine oder andere Demonstration gehen, keine andere Möglichkeit die Regierung unter Druck zu setzten. Ihnen die Stimme zu verweigern ist aber anscheinend nicht genug.

Die Unterstützung zeigt sich nicht nur in Umfragen, sondern auch in öffentlichen Bekanntmachungen von Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen, allerdings nicht auf den Demonstrationen. Warum?

Die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung wurde während der Militärdiktatur komplett zerschlagen und auch seit der Rückkehr zur Demokratie gab es keinerlei große Demonstration der Arbeiter. Sie wurden von der Concertación (Mitte-links-Bündnis, das von 1990 bis 2010 regierte, Anm. d. Red.) vereinnahmt und seitdem von ihr gezügelt. Des Resultat ist heute sichtbar: Es gibt keine organisatorische oder politisch Verbindung zwischen den Studierenden und den Arbeitern. Die Gewerkschaft CUT kann in Stellungnahmen ihre Unterstützung ausdrücken, aber um die Arbeiter zu mobilisieren, müsste es eine wirkliche Basisarbeit geben, um eine Verbindung mit uns herzustellen, die bisher nicht existiert. Ihr Aufruf war also abstrakt und die Studierendenvereinigung Confech konzentriert sich mehr darauf, die Bürger auf unsere Seite ziehen, nicht so sehr auf die Arbeiter. Es gibt keine gemeinsame Petition mit den Gewerkschaften und keine Versuche eine Verbindung zur Basis herzustellen, was jetzt dazu führt, dass die Bewegung ins Stocken gerät.

In letzter Zeit haben sich auch einige Oppositionspolitiker_innen mit der Bewegung solidarisiert. Wie ist die Einstellung dazu innerhalb der Bewegung?

Die Bekundungen der Politiker sind absolut opportunistisch. In Wirklichkeit war es doch die Concertación, die das von der Diktatur geschaffene Modell verstärkte. Auch sie haben ein Interesse daran, dass das so bleibt. Jetzt haben sie eine Möglichkeit gesehen, um sich zu positionieren. Allerdings haben sie so wenig Unterstützung, sogar noch weniger als die Regierung, dass sie nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Im Kongress gibt es einige Eingaben an die Regierung, aber die Opposition unterstützt nicht einmal die Petition der Studierenden, sondern verharrt in einem „ja, aber“ und im Endeffekt stellen sie keine wirkliche Unterstützung dar.
Und beispielsweise Jorge Schaulsohn, ein ehemaliger Politiker der Concertación, sagte in einem Interview, den Unternehmern werde klar, dass die Concertación die einzige politische Kraft ist, die einen Kapitalismus samt sozialem Frieden garantieren könne. Im Klartext heißt das, dass die Rechte die sozialen Bewegungen nicht im Zaum halten könne. Von keinem Standpunkt aus sind die Oppositionellen also irgendein Verbündeter.

Es gab Vorwürfe, dass die kommunistische Partei zu viel Einfluss auf die Bewegung habe. Gibt es deswegen Konflikte innerhalb der Bewegung?

Die Studierendenbewegung hat eine sehr heterogene Basis mit verschiedenen politischen Meinungen. Es ist richtig dass die kommunistische Partei, die kommunistische Jugend, die autonome Linke und andere Gruppen die Führungspositionen der traditionellen Studierendenorganisationen übernommen haben. Konflikte entstehen aber nicht, weil einige sich abspalten wollen, sondern weil sie bereits in der Basis vorhanden waren. Das ist normal und gesund. Es gibt viele historische Beispiele in denen soziale Bewegungen erst durch das Überwinden ihrer Führung weiterkamen. Diese mediale Kampagne, die sagt, die sogenannten „Ultras“ seien es, welche die Bewegung spalten, ist falsch. Das einzige was darunter leidet ist vielleicht das Bild in der Öffentlichkeit. Allerdings hat sich gezeigt, dass uns 90 Prozent der Bevölkerung unterstützen, weswegen einer kleiner Popularitätsverlust nicht schwerwiegend ist.

Der Protest der Studierenden dauert nun schon fast sechs Monate an und es gibt kein nennenswertes Entgegenkommen der Regierung. Lässt sich inzwischen eine Ermüdung der Bewegung feststellen?

Natürlich! Sechs Monate Protest sorgen für Ermüdung. Auf der einen Seite generiert er eine Skepsis in den Sektoren, die uns von Beginn an eher passiv unterstützt haben. Sie sind zwar mit unseren Forderungen einverstanden, wollen aber zurück zur Normalität. Auf der anderen Seite gibt es auch eine innere Ermüdung. Die ganze Zeit gab es politische Diskussionen, viel Arbeit, viel Spannung, Spaltungen und die Kreation von neuen Organisationen. Aber diese ganze Arbeit hat nicht angefangen, konkrete Ergebnisse zu liefern und ermüdet so die Motivation und die Verbindungen innerhalb der Organisationen. Wir haben eine gute Bewegung, aber die Menschen werden müde und es gibt sehr große Veränderungen.

Welche Pläne gibt es vor diesem Hintergrund für die nächste Zeit?

Zurzeit ist die Bewegung generell etwas zerstreut. Im Moment wird der Haushalt mit den Parlamentariern im Kongress diskutiert. Die Confech ist da ziemlich involviert, aber ich glaube, dass das wegen der Zusammenarbeit mit der Concertación zur Schwächung der Bewegung führen kann.
Es werden internationale Organisationen zur Durchsetzung der Menschenrechte gesucht, jedoch hat die Regierung bereits ihre Indifferenz demgegenüber ausgedrückt. Sie werden deswegen nicht einlenken. Vor allem sind wir gerade auf die Frage konzentriert, wie wir mit dem zweiten Semester umgehen. Zum Beispiel gab es in der Universidad de Chile ein Referendum darüber, ob das zweite Semester beginnen oder die Proteste ein Ende haben sollen und welche politischen Konsequenzen dies haben kann. Wenn wir alle in die Universitäten zurückkehren, wird sich die Bewegung schnell auflösen. Wenn wir aber nicht zurückkehren, geht die Ermüdung weiter, ohne dass wir etwas erreicht haben. In diesem Dilemma gibt es an jeder Ecke Gefahren. Die studentische Bewegung ist wohl leider in einer Phase des Rückzugs, aber dies kann auch lehrreich sein.

Inwiefern?

Die Bewegung hat noch nie die Erfahrung eines Rückzugs aufgrund der Unnachgiebigkeit der Regierung gemacht. 2006 war es ein taktischer Fehler zu denken, dass die Dialogrunde das Problem lösen würde. Jetzt wird uns die Unmöglichkeit eines strukturellen Wandels deutlich und dass die Bewegung ermattet. Deswegen wird der Rückzug lehrreich sein. Daraus können zwei Typen von politischen Personen entstehen: solche, die sich jetzt politisiert haben und mit Frustration gefüllt sind und Passivere, die zur politischen Indifferenz übergehen werden. Aber ich glaube, es wird mehr frustrierte und politisch aktivierte Personen geben, die aufgrund dieser Erfahrung geeint sind.

Infokasten:
Lucas Miranda Baños studiert Philosophie an der Universidad de Chile. 2010 war er für die studentische Koordination in der philosophischen Fakultät verantwortlich und hat auch schon als Sekundarschüler 2006 am sogenannten Pinguinaufstand teilgenommen. Er war in Berlin und Europa, um Kontakt mit Chilen_innen aufzunehmen und Verbindungen zu solidarischen Gruppen herzustellen.

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