Mexiko | Nummer 306 - Dezember 1999

Gar nicht so einsame Langstreckenläufer

Bald sieben Monate StudentInnenstreik an Lateinamerikas größter Uni und kein Ende in Sicht

Unter den wachsamen Augen des größten Polizeiaufgebots seit Jahren haben die StudentInnen am 5. November in Mexiko-Stadt ihre mit Spannung erwartete Großdemonstration abgehalten. Gemessen an der Medienpräsenz stellte die Demonstration selbst die Visite des Papstes in den Schatten. Die befürchtete Konfrontation zwischen Polizei und Streikenden blieb aus. Aber auch ohne eine weitere Zuspitzung der Lage scheint eine Verhandlungslösung schwieriger denn je. Während die Universitätsleitung eine ernsthafte Dialogbereitschaft vermissen läßt, verschleißen die StudentInnen ihre Kräfte in internen Machtkämpfen.

Jens Kaffenberger

Gegen halb vier steht die Si-
tuation auf des Messers Schneide. Mehr als 300 berittene Polizisten in voller Montur versperren dem Demonstrationszug den Zugang zum periférico, einer zentralen Verkehrsader von Mexiko-Stadt. Die Streikenden kommen schnell näher, an ihrer Spitze ein “Sicherheitsgürtel”, gebildet aus Vertretern des Allgemeinen Streikrates. Der Abstand beträgt noch maximal 30 Meter. Über ihren Köpfen flirren die Rotoren eines Hubschraubers, Mannschaftswagen warten mit laufenden Motoren auf ihren Einsatz. Die Kameras der privaten Fernsehanstalten sind justiert und übertragen die Bilder live in alle Haushalte des Landes.
Erst das Einschreiten von Javier González Garza, der die gemäßigt linke Stadtregierung vor Ort vertritt, verhindert ein Zusammentreffen der beiden Blöcke. Er verhandelt mit der Streikleitung. Man einigt sich auf einen Kompromiß. Die Streikenden dürfen weiterziehen, wenn sie die mittleren Spuren des periférico frei halten. An diesem 5. November blieb die von vielen befürchtete und Tausenden von Fernsehzuschauern mit Spannung erwartete Konfrontation zwischen DemonstrantInnen und Sicherheitskräften aus. Die Machtprobe endete mit einem Punktgewinn für die Bürgermeisterin Rosario Robles und die StudentInnen. Robles hatte den Zuschauern deutlich gemacht, daß sie die Straßenverkehrsordnung zu schützen weiß. Die Studierenden, die die Nationale Autonome Universität Mexikos (UNAM) seit bald sieben Monaten besetzt halten, hatten ihre Kompromißfähigkeit unter Beweis gestellt und trotzdem mehrstündige Verkehrsbehinderungen provoziert.
Die Furcht vor einer Eskalation der Gewalt war nicht unbegründet. Am 14. Oktober hatte die Polizei eine Blockade des periférico durch StudentInnen gewaltsam beendet und dabei mehrere Personen verletzt. Als Antwort auf die Polizeiaktion besetzten Kommandos des Allgemeinen Streikrates, der höchsten Vertretung der Bewegung, neun Forschungsinstitute der Universität. Außerdem rief der Streikrat zu einer weiteren Demonstration auf und wählte, ungeachtet der Warnungen der Stadtregierung, die Route über den periférico. Besonders heikel war die Situation, weil die Stadtregierung von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die Sympathien für den moderaten Flügel der Streikbewegung hegt, gestellt wird.

StudentInnen fordern freien Hochschulzugang
Was als Protest gegen die Erhöhung der Studiengebühren begann, hat sich mittlerweile zu einem Konflikt ausgeweitet, dessen Lösung immer schwieriger erscheint. Zahlreiche Vermittlungsversuche und Dialogrunden haben keine Fortschritte gebracht. Ende September hat der Universitätsrat, das höchste Entscheidungsorgan der Universität, einen neuen Vorstoß unternommen. Eine Kontaktkommission soll mit Vertretern des Streikrates über die Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen beraten. Der Streikrat hat ein Treffen mit der Kontaktkommission bisher mit der Begründung abgelehnt, daß die Universitätsleitung mit diesem Vorschlag nur den Konflikt verlängern wolle. Er fordert stattdessen, umgehend mit direkten Verhandlungen über die Beendigung des Streiks zu beginnen. Grundlage soll der sechs Punkte umfassende Forderungskatalog der StudentInnen sein.
Darauf wiederum will sich der Rektor Francisco Barnés, Parteimitglied der seit 70 Jahren regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), nicht einlassen. Der Rektor und die Mehrheit des Universitätsrates lassen keine Gelegenheit ungenutzt, den Dialog mit den Studierenden zu belasten. So wurde die Aufnahme von Gesprächen in der Kontaktkommission an die Bedingung geknüpft, die StudentInnen müßten auf das Rotationsprinzip in ihrer Delegation verzichten. Außerdem stellte Rektor Barnés als Antwort auf die Institutsbesetzungen 99 Strafanzeigen wegen widerrechtlicher Inbesitznahme und anderer Delikte.
In seinem 6-Punkte-Katalog fordert der Streikrat sowohl, die 1997 eingeführte Höchststudiendauer und die Zugangsbeschränkungen als auch die Zusammenarbeit der staatlichen Universität mit einem privaten Evaluierungszentrum zu suspendieren. Die Studiengebühren sollen abgeschafft werden. Weiter fordert er, alle Sanktionen gegen streikende Studierende und Unimitarbeiter zurückzunehmen und die wegen des Streiks ausgefallenen Veranstaltungen nachzuholen. Außerdem will man die Einberufung eines paritätisch besetzten Universitätskongresses, der endgültig über die Reformen von 1997 und die Zusammenarbeit mit dem Evaluierungszentrum entscheiden soll, durchsetzen.
Angesichts der Verschleppungstaktik der Universitätsleitung fragen sich viele Beobachter, welches die wahren Motive von Rektor Barnés und seiner Parteifreunde in der Regierung sind. Linke Kommentatoren unterstellen der Regierung, ihr sei die faktisch schon eingeschränkte Autonomie der Universität ein Dorn im Auge, weil sie ihrem neoliberalen Reformprogramm im Wege stehe. Präsident Zedillo baue darauf, daß die Akzeptanz für ein Eingreifen der Regierung in der Öffentlichkeit wachse, je länger sich der Streik hinziehe.

Streikbewegung gespalten
Die Fronten innerhalb der Streikbewegung sind so verhärtet wie noch nie. Sogenannte Ultras und Moderate stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. Die Moderaten sprechen sich, anders als die Ultras, für weitgehende Zugeständnisse an die Unileitung und eine schnelle Dialoglösung aus und wenden sich strikt gegen Straßenblockaden und Institutsbesetzungen. Die Ultras halten die Moderaten für “Verräter des Streiks” und versuchen sie durch Drohungen und mitunter auch durch Anwendung von Gewalt aus den Vollversammlungen zu drängen. Aus Protest gegen dieses Vorgehen haben sich zahlreiche Moderate aus dem Streikrat zurückgezogen und in der ersten Novemberwoche eine eigene Demonstration veranstaltet. Sie betonten jedoch nachdrücklich, daß dies nicht als Spaltung der Streikbewegung zu werten sei. Unterdessen haben sie einen eigenen Vorschlag zur Lösung des Konflikts unterbreitet. Er unterscheidet sich vom Plan des Streikrates im wesentlichen dadurch, daß die Reformen von 1997 nicht mehr erwähnt werden. Auch die Suspendierung der Zusammenarbeit mit dem Evaluierungszentrum gehört nicht mehr zu den Vorbedingungen für ein Ende des Streiks. Der Kompromißvorschlag soll am Streikrat und dem Universitätsrat vorbei den Studierenden und Dozenten direkt vorgelegt werden.
Unterstützung kommt derweil aus den Bergen von Chiapas. Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) hat ihre Solidarität mit den Studierenden bekundet und sie davor gewarnt, möglichen Zusagen der Universitätsleitung und der Regierung zu trauen. Verstärkung könnte die Bewegung auch bald durch die Gewerkschaft der Universitätsbeschäftigten bekommen. Diese droht mit Streik, wenn Rektor Barnés weiterhin kein Lohnangebot vorlegen sollte.
Mittlerweile hat das neue Semester begonnen, ohne daß sich an der unversöhnlichen Frontstellung der Parteien etwas geändert hätte. Ob doch noch eine Verhandlungslösung erreicht werden kann oder es zu einem Einsatz von Polizei und Militär im Konflikt kommt, ist deshalb nach wie vor eine offene Frage.

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