Haiti | Nummer 413 - November 2008

„Ich würde nicht von einer Stabilisierung sprechen“

Die Hilfsaktivistin Marie Josée Laguerre berichtet über die lage auf Haiti

Seit den Wahlen 2006 und dem Amtsantritt von Präsident René Preval wird gern von einer Stabilisierung der politischen Lage in Haiti gesprochen. Doch der Anstieg der Lebensmittelpreise im April dieses Jahres brachte dem Land eine mehrmonatige Krise, in deren Folge Premierminister Jacques Edouard Alexis abgesetzt wurde. Die humanitäre Lage ist nach wie vor prekär. Das Karibikland wurde zudem bereits vom fünften Hurrikan der Saison verwüstet. Ein Gespräch mit der Hilfsaktivistin Marie Josée Laguerre über die aktuelle politische Lage und das Krisenmanagement der Regierung und der internationalen Gemeinschaft.

Claudia Winkler de Pena

eit Mitte August kamen um die 600 Menschen durch Wirbelstürme ums Leben. Wie schätzen Sie das Krisenmanagement der haitianischen Regierung ein?
Von Seiten der Regierung waren keine Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung eingeleitet worden. Die Menschen waren auf die Stürme überhaupt nicht vorbereitet. Weder wurde die Bevölkerung informiert noch ist sie geschult worden, wie im Katastrophenfall vorzugehen ist. Und dies ist zu sehen vor dem Hintergrund, dass Haiti vor den Wirbelstürmen durch die Abholzung der Wälder kaum geschützt ist. Aber auch das schlechte Bildungswesen spielt eine Rolle. Etwa 90 Prozent der Haitianer können weder lesen noch schreiben.

Worin liegen für Sie die Ursachen für die Abholzung der Wälder in Haiti, und wie wirkte sich dies auf die Landwirtschaft aus?
Abgeholzt wird bereits seit 1804, als Haiti sich seine Unabhängigkeit von Frankreich mit umgerechnet 60 Millionen Dollar erkaufte. Dafür mussten über Jahre hinweg Edelhölzer geschlagen und nach Europa verkauft werden. Später holzte man ab, um Holzkohle zu gewinnen. Unter der Diktatur von François „Papa Doc“ Duvalier wurden die Wälder gerodet, um den Widerstandskämpfern den Unterschlupf zu rauben. Noch heute ist Holz der einzige Brennstoff in Haiti. Waren einmal 30 Prozent der Landesfläche bewaldet, ist es heute nur noch ein Prozent. Die Folgen sind katastrophal: Schlammlawinen und Erdrutsche verwüsten das Land bei starkem Regen. Die fortschreitende Erosion nimmt den Bauern immer mehr kultivierbares Land.

In den 1980er Jahren haben Weltbank und USAID Haiti eine streng neoliberale Handels- und Wirtschaftspolitik auferlegt. Inwieweit sehen Sie die Ursachen der Hungerkrise im April vor allem in der vom Westen verordneten Liberalisierung der Wirtschaft?
Haiti hatte früher eine gesunde Landwirtschaft. In meiner Kindheit sahen wir auf den Märkten nur einheimische Nahrungsmittel und wenig ausländische Produkte wie Stockfisch, Bücklinge oder eingelegtes Schweinefleisch von den Bahamas. Heute muss Haiti den Großteil der Lebensmittel teuer importieren. Erheblichen Einfluss darauf hatte die Wirtschaftsliberalisierung in den 1980er Jahren. So überschwemmte Ende der 80er Jahre Reis aus den USA zu Dumpingpreisen den haitianischen Markt. Die hiesigen Bauern konnten mit diesen Billigangeboten nicht mithalten und hielten ihren Reis erst einmal zurück. Sie wollten ihn beim Abflauen der Lieferungen aus den USA verkaufen. Doch sie warteten vergeblich – der Reis verdarb. Die resultierenden finanziellen Einbußen führten dazu, dass sie sich kein Saatgut mehr kaufen konnten. Über 100.000 Reisbauern verloren so ihre Existenzgrundlage.

Und bereits zuvor wurden die Schwarzschweine ausgerottet…
Für die Bauern waren die Schwarzschweine das wichtigste Nutzvieh und die eiserne Reserve. Sie wurden Anfang der 80er Jahre ausgerottet unter Jean-Claude „Baby Doc“ Duavlier mit dem Vorwand einer drohenden Schweinepest. Die USA erhofften sich durch die Zucht von rosa Hausschweinen auf Haiti eine Importquelle und zahlten der Regierung für die Ausrottung der Schwarzschweine eine siebenstellige Summe. Die amerikanischen Hausschweine brachten jedoch vielseitige Probleme mit sich. Sie waren nicht nur teurer, sondern auch um ein vielfaches anfälliger. Die Kosten für Impfungen, Tierarzt und Futter aus dem Ausland konnten sich die Bauern nicht leisten. Hingegen ertrugen die einheimischen Schwarzschweine die karibische Hitze besser. In der Not ernährten sie sich von Müll, der jetzt in Flüssen und im Meer entsorgt wird oder einfach liegen bleibt, was die Verbreitung von Krankheiten begünstigt.

Die Hungersnot im April dieses Jahres führte zu Preissteigerungen von 100 Prozent. In der Bevölkerung kam es zu Aufständen. Inwiefern hatten die Unruhen auch einen politischen Hintergrund?
Der im Exil lebende ehemalige Präsident Aristide hatte im April 2008 seine Rückkehr angekündigt. Dies veranlasste seine immer noch zahlreichen Anhänger im Land zu gewalttätigen Revolten. Die Unsicherheit, die zwischen Ende Juli 2007 und Anfang April 2008 in Haiti deutlich zurückgegangen war, nahm wieder zu. Nicht nur in Port-au-Prince sondern auch in Cap-Haïtien und anderen Provinzstädten wurden Menschen verschleppt. Von der Regierung wurden keine Anstrengungen unternommen, die Verantwortlichen zu verfolgen. Bei den Hungerrevolten hatten sich gewalttätige Gefolgsleute Aristides unter die Demonstranten gemischt. Es kam zu einem Angriff auf das Büro der Air France durch militante Demonstranten, die vor Ort anwesenden Journalisten mitteilten, dies geschehe, weil Frankreich Aristide aus dem Land ins Exil gejagt habe.

Premierminister Jacques Edouard Alexis wurde am 12. April 2008 vom Parlament seines Amtes enthoben. Ihm wurde vorgeworfen trotz der angespannten Lage die Lebensmittelproduktion nicht vorangetrieben zu haben. Liegt die Lösung der Probleme in der Macht der Regierung oder scheitern mögliche Veränderungen am Mangel an Ressourcen?
Sicherlich liegt die Lösung zumindest zum Teil bei der haitianischen Regierung. Jedoch stehen zu viele Interessen des Staates und der Politiker im Gegensatz zu den Interessen des Volkes. Ich würde es am ehesten so formulieren: Die vorhandenen Ressourcen werden unter Missachtung der Prioritäten nicht für die Interessen des Volkes eingesetzt.

Was erwarten Sie sich von der neuen Premierministerin Michèle Pierre-Louis, die nach dreimonatiger Suche und dem dritten Vorschlag Prevals nun das Amt übernommen hat?
Das haitianische Volk hofft natürlich immer auf eine Besserung der Situation. Und viele der Probleme waren sicherlich ihrem Vorgänger zuzuschreiben. Über Michèle Pierre-Louis vermag ich bisher nichts Konkretes zu sagen. Die Lage ist ohnehin jedoch viel zu komplex, als dass durch den Austausch einer Persönlichkeit eine Veränderung des politischen Apparats möglich wäre. Ich bin davon überzeugt, dass die Veränderung von unten kommen muss. Wir brauchen Menschen mit entsprechender Ausbildung.

Seit den Wahlen 2006 wird von einer Stabilisierung der politischen Lage in Haiti gesprochen. So sei die politische Gewalt zurückgegangen, die humanitäre Lage scheint jedoch nach wie vor schlecht. Wie sehen sie die Entwicklung seit der Wahl René Prévals?
Zunächst einmal würde ich nicht von einer politischen Stabilisierung sprechen, wenn sich die humanitäre Lage immer mehr verschlechtert. Die Situation bis Juli 2007 war unerträglich. Durch kriminelle Banden und Gangs kam es zu zahlreichen Entführungen, Morden und sadistischen Handlungen. Ich selbst wurde mehrfach erpresst und bedroht, so dass ich das Land von Juni 2005 bis Juli 2007 sogar verlassen musste. Erst dann setzte eine plötzliche Verbesserung der Situation ein. Die Sicherheitslage verschlechterte sich jedoch erneut beim Anstieg der Lebensmittelpreise im April dieses Jahres, wenn auch nicht so gravierend wie bis Juli 2007.

Was für Banden sind dies? Welche Interessen haben sie?
In erster Linie ist das Interesse dieser Banden an Geld zu gelangen. Armut und Perspektivlosigkeit frustrieren und lassen Hass entstehen. Dieser Hass führt dazu, dass Menschen sich Geld holen, wo immer es möglich ist. Häufig existieren Clans, in denen sogar Kinder an gewaltsamen Überfällen beteiligt sind. Chimères [Banden, die vor allem in den bevölkerungsreichen Armenvierteln die Interessen ihres charismatischen Idols Aristide mit Terrormethoden vertraten. Anm. der Autorin] nennt man sie heute nicht mehr, aber sie sind nach wie vor da. Sie sind wie viele Täter selbst Opfer. Opfer einer Gesellschaft, die ihnen nichts anderes lässt, als Mitmenschen einzuschüchtern, zu entführen, zu morden und zu vergewaltigen, um Terror zu verbreiten, ihre Macht zu sichern und schließlich, um zu überleben. Die Existenz dieser Banden verdanken wir Aristide, der nicht gezögert hat, in Haiti Hass und Gewalt als Mittel einzusetzen, um Macht zu gewinnen. Vor ihm gab es dies nicht oder nicht in dem Maße.

Spielt auch der Drogenhandel eine entscheidende Rolle?
Drogen spielen natürlich eine Rolle. Haiti ist mittlerweile einer der wichtigsten inter­nationalen Umschlagplätze für Drogen.

Die momentan stationierte UN Mission ist die bereits die zweite seit der Redemokratisierung Haitis 1994. Zwischen 2004 und 2006 wurde den UN-Truppen Untätigkeit oder Gewalt gegen die Zivilbevölkerung vorgeworfen. Nimmt die haitianische Bevölkerung die MINUSTAH als Stabilisierungsfaktor und Schutz oder eher als erneute Besatzung und Gefahr wahr?
Für die normalen Haitianerinnen und Haitianer trifft sicher in erster Linie letzteres zu. Die UN-Soldaten haben ihre Töchter missbraucht, ihr Gemüse aus den Gärten geklaut und ihre Ziegen gebraten. Die Strände sind für Haitianer gesperrt, da dort die UN-Soldaten in der Sonne liegen. Die UN-Truppe war lange untätig. Es wurde immer wieder berichtet, dass sie passiv aus nächster Nähe mancher Entführung oder gar mancher Schießerei beigewohnt haben. Skrupellosigkeit und Korruption werden ihnen vorgeworfen, viele Entführungen wurden UN-Soldaten in Zusammenarbeit mit haitianischen Polizisten angelastet. Dennoch glaube ich, dass wir bei all der Instabilität nicht ohne die Truppen auskommen würden.

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