Haiti | Nummer 408 - Juni 2008

Schlecht beraten

Die Unruhen in Haiti vom April haben die neoliberalen Entwicklungsstrategien gründlich in Frage gestellt

Fast ein Drittel der haitianischen Regierung ist zurzeit von Hunger betroffen. Ihre Ursachen hat die Hungerkrise vor allem in der vom Westen verordneten Liberalisierung der Wirtschaft. Widerstand gegen eine Änderung der Wirtschaftspolitik ist jedoch nach wie vor zu erwarten.

Alexander King und Christine Scherzinger

Im April 2008 wurde Haiti, nach einem massiven Preisanstieg für Grundnahrungsmittel, von einer Hungerrevolte erschüttert, in deren Verlauf mindestens sechs Menschen ums Leben kamen. In der Hauptstadt Port-au-Prince zogen Tausende protestierend und mitunter plündernd durch die Geschäftsviertel der Innenstadt und die Vororte der Mittel- und Oberschicht. Geschäfte, Marktstände, Banken, Privathäuser wurden attackiert. Ein Hauptadressat der Protestierenden war auch die UN-Besatzungstruppe MINUSTAH, die darauf mit Härte reagierte.
Haitis Ministerpräsident Jacques-Edouard Alexis wurde am 12. April vom Senat abberufen. Selbst Präsident René Préval, der vor zwei Jahren mit überragender Mehrheit gewählt worden war, schien zu wanken. Nach Beratungen mit den an seiner Koalitionsregierung beteiligten Parteien schlug er Ende April den Wirtschaftsexperten Ericq Pierre, einen langjährigen Funktionär der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), als neuen Ministerpräsidenten vor. Damit ist die Krise nicht beendet. Im Gegenteil steht die neue Regierung, wenn sie denn von den beiden Kammern bestätigt wird, vor gewaltigen Herausforderungen.
Laut der „Diakonie Katastrophenhilfe“ hungern in Haiti derzeit 2,5 Millionen Menschen – ein knappes Drittel der Gesamtbevölkerung. Die Vereinten Nationen warnen vor einer Ausweitung der haitianischen Lebensmittelkrise und fordern die internationalen GeberInnen zu großzügiger Hilfe auf. Hilfslieferungen und Preissubventionen sind zur Linderung der dringendsten Not unerlässlich. Mittelfristig jedoch müssen die strukturellen Fehlentwicklungen korrigiert werden, die der Krise zugrunde liegen. Sie sind ein Ergebnis der „Politikberatung“ aus dem Norden.
Weltbank und die USAID hatten dem Karibikstaat in den 80er Jahren eine streng neoliberale Handels- und Wirtschaftspolitik verordnet. Sie nutzten dazu die Umbruchsituation nach dem Sturz der Diktatorenfamilie Duvalier 1986. Noch im selben Jahr trat ein neues Handelsrecht in Kraft, das die Importsteuern auf Nahrungsmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs drastisch senkte. Dadurch sollte der Import von Nahrungsmitteln stimuliert, das Angebot vergrößert und so den HaitianerInnen der Zugang zu günstigeren Nahrungsmitteln erleichtert werden. Dass die massenhafte Einfuhr von preiswerten Waren, etwa Reis und Geflügel aus den USA, lokale ProduzentInnen verdrängen würde, war ebenso einkalkuliert wie die massive Landflucht, die infolgedessen nach 1986 einsetzte: Die ehemaligen Bäuerinnen und Bauern, so die Vorstellung der Weltbank, sollten Arbeit in den neuen Fertigungshallen der Montageindustrie finden, die zeitgleich stark gefördert wurde. Diese Strategie passte zu den Auslagerungsplänen der US-Industrie. Mit der Caribbean Basin Initiative, die den bevorzugten Zugang für Produkte der Fertigungsindustrie aus der Karibik auf den US-Markt regelt, hatte die US-Regierung schon ab 1983 die Rahmenbedingungen geschaffen, um die Karibik als verlängerte Werkbank der US-Industrie zu erschließen.
Die Folgen dieser Politik waren für Haiti verheerend: Die Nahrungsmittelproduktion pro Kopf ging um über ein Drittel zurück. Besonders betroffen waren die Grundnahrungsmittel Reis, Hirse und Bohnen, die traditionell auf den lokalen Märkten gehandelt worden waren und die nun durch die konkurrenzlos preiswerten Importe verdrängt wurden. Heute importiert Haiti rund 80 Prozent seines Bedarfs an Reis, während viele bäuerliche Familien auf die reine Subsistenzwirtschaft zurückgeworfen oder gezwungen wurden, in die Städte zu ziehen.
Die Vorstellung, dass dort die Montageindustrie die zuwandernde Arbeitskraft absorbieren würde, erfüllte sich nicht. Nach einem schwachen Aufschwung Mitte der 80er Jahre mit damals rund 50.000 Beschäftigten arbeiten heute noch zwischen 10.000 und 20.000 Menschen in den Montagehallen. Die ArbeiterInnen fertigen dort einfache Kleidung für Markenfirmen wie Levi’s. Die Arbeitsbedingungen in den Industrieparks werden von den Gewerkschaften als menschenunwürdig beschrieben, die Entlohnung übersteigt den gesetzlichen Mindestlohn von derzeit zwei US-Doller pro Tag nur unwesentlich. Von diesem Lohn die steigenden Lebenshaltungskosten zu bestreiten, ist unmöglich.
Durch die Importfluten wurde die Verteuerung nicht eingedämmt. Im Gegenteil: Schon ab Ende der 80er Jahre setzte die – kurzfristig nach der Zollsenkung in eine Deflation umgeschlagene – Inflation wieder ein und stieg bis 2004 auf fast 40 Prozent. Nach dem Umsturz 2004 hatte die Internationale Gemeinschaft mit der UN-Mission MINUSTAH und zahlreichen Geberkonferenzen de facto die Vormundschaft über Haiti übernommen. Die Weltbank lobt seither die so genannte Wirtschaftliche Regierungsführung (economic governance), das Wirtschaftswachstum von über 3 Prozent und den Rückgang der allgemeinen Inflationsrate auf 14 Prozent und setzt weiterhin auf die exportorientierte Montageindustrie als Wachstumsmotor. Es erweist sich derweil, dass der Wachstumsoptimismus der vergangenen drei Jahre den Blick auf strukturelle Probleme verstellt hat. Wie auch andere Länder, die sich dem neoliberalen Handelsdiktat gebeugt hatten, war Haiti dem Preisanstieg auf dem Weltmarkt bei Grundnahrungsmitteln wie Reis – durch die wachsende Nachfrage in Ostasien, die Konkurrenz mit den Energiepflanzen und Börsenspekulationen angeheizt – hilflos ausgesetzt. Die Getreidepreise stiegen seit Jahresbeginn um über 80 Prozent.
Angesichts ihres offensichtlichen Versagens geraten die neoliberalen Konzepte jetzt in die Kritik. Präsident Préval verwies auf die Notwendigkeit, vorrangig die lokale Produktion zu stärken, um sich gegen die Unwägbarkeiten des Weltmarktes zu schützen. Zentrales Projekt muss nun die seit langem angekündigte Agrarreform sein, um eine größere Eigenständigkeit in der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zu erreichen. Die Benennung eines langjährigen BID-Funktionärs zum neuen Ministerpräsidenten hat in Haiti eine Debatte um den künftigen Entwicklungsweg ausgelöst. Im Unterhaus hatten etliche Abgeordnete angekündigt, sie würden den neuen Ministerpräsidenten nicht wählen, wenn dieser im Parlament eine neoliberale Agenda vorstelle. Tatsächlich fiel der Kandidat durch. Unterdessen haben sich neue Proteste angekündigt. Sie beziehen sich nicht nur auf die teuren Lebenshaltungskosten, sondern zielen auch auf die Erhöhung des Mindestlohns.
Die Auseinandersetzungen um den künftigen wirtschaftspolitischen Kurs bilden den Subtext der gegenwärtigen Regierungskrise. Gegen eine grundsätzliche Umorientierung ist nicht nur der Widerstand der Weltbank, sondern vor allem der mächtigen Händlerfamilien Haitis zu erwarten. Sie sind die Nutznießerinnen der bisherigen Wirtschaftsstrategien. Ihr Reichtum und ihre politische und wirtschaftliche Macht basieren auf den Beteiligungen an den Betreiberkonsortien der Industrieparks und ihren Monopolen beim Import. Sie üben zugleich großen Einfluss auf die Politik des Landes aus.
Die permanente politische Krise, die Haiti seit über 20 Jahren, mal latent, mal eruptiv, belastet, hilft ihnen dabei. Sie hat bislang verhindert, dass die Mehrheit für einen gesellschaftlichen Wandel, der sich bislang in allen freien Wahlen – zuletzt 2006 – bestätigt hat, politisch wirksam werden konnte.

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