Bolivien | Nummer 274 - April 1997

Volkstribun und “Stimme Gottes”

Hunderttausende trauern um Carlos Palenque Avilés

Am 8. März ist Carlos Palenque, Fernsehmoderator und Politiker, im Alter von 52 Jahren in La Paz an einem Herzinfarkt gestorben. Die Trauernden kommen aus den Marktvierteln und von den Steilhängen, ihre Muttersprache ist Aymara. Palenque hatte ihnen in seinen Radio- und Fernsehsendungen eine Stimme gegeben, später warb er um ihre Stimmen für seine Partei CONDEPA und für “Palenque Presi­dente”. Eine der wichtigsten – und schillerndsten – Figuren der bolivianischen Poli­tik hat die Bühne verlassen.

Ulrich Goedeking

Für seine Gegner war er ein Verführer und Demagoge, für viele seiner Anhänger eine fast christusähnliche Lichtgestalt. Nicht wenige in der Masse der Trauernden, so der bolivianische Journalist Rafael Archondo in der Tageszeitung La Razón, hof­ften auf seine Wiederaufer­stehung. Mit Carlos Palenque ist ein Politiker gestorben, der einen neuen Stil in die bolivianische Politik eingeführt hat, ein geni­aler Kommunikator, der in kur­zer Zeit mit den Stimmen der städtischen Aymara seine Partei CONDEPA (Gewissen des Va­terlandes) zur führenden politi­schen Kraft in La Paz gemacht hat. Gleichzeitig blieb er immer den traditionellen Mechanismen der bolivianischen Politik ver­haftet, ein Caudillo, der alle Macht auf seine Person konzen­trierte.
Grundlage seiner Popula­rität war seine Arbeit als Radio- und Fernsehmoderator, die Kunst der Selbstinszenierung be­herrschte er perfekt. Jetzt stellt sich die Frage nach der Zukunft seiner politischen Erbschaft, der Wahl­kampf für die Parlaments­wahl am 1. Juni hat eine uner­wartete Wendung genommen.
Mit dem Showgeschäft kam Palenque schon früh in Berüh­rung. Als Mitglied der Musik­gruppe “Los Caminantes” sammelte er 1968 seine ersten Medienerfahrungen in der Ra­diosendung “La Hora del Folk­lore” (Die Stunde der Folklore) in Buenos Aires, einer Mittags­sendung für die in Argentinien lebenden Bolivianer. Ende 1968, nach der Rückkehr nach La Paz, folgte eine ähnliche Sendung bei Radio Chuquisaca. 1973 wagte Palenque den Schritt ins Fernse­hen. In der “Hipper Show” im staatlichen Kanal 7 begann er zum ersten Mal, Betroffene selbst von ihren Sorgen und Pro­blemen berichten zu lassen und daraufhin Solidaritätsaktionen zu starten.

Vom Musiker zum Fernsehstar

1980 gründete Carlos Palen­que seine erste eigene Radiosta­tion: Radio Metropolitana. Zwar hatte er nicht viel Kapital, aber er stieß mit seinen Sendungen in eine Marktlücke. Kein Radio­sender richtete sich so direkt an die städtischen Aymara, an die BewohnerInnen der ärmeren Viertel von La Paz. Die “Tribuna libre del Pueblo” – die “Offene Bühne des Volkes” – schallte um die Mittagszeit in den Markt­vierteln aus allen Radios. Die Hörerinnen und Hörer hatten einen Ort, an dem sie ihre Sor­gen loswerden konnten, und im Zentrum stand, väterlich und um die Sorgen der Menschen be­müht, der “compadre” Carlos Palenque.
Die Bezeichnung “compadre” zeigt deutlich, wie geschickt Pa­lenque andine Symbolik in seiner Radioarbeit aufnahm. Der “compadrazgo” in den Anden ist ein System fiktiver Verwandt­schaften. Macht man jemanden zum compadre oder zur co­madre, besteht eine gegenseitige Verpflichtung, ähnlich, als ob es eine direkte Verwandtschaft gebe.
Palenque machte sich selbst erfolgreich zum idealtypischen compadre und deckte damit gleichzeitig die Schwachstelle der etablierten Radiostationen auf, die sich durchweg am spa­nischsprachigen, kulturell mesti­zisch geprägten Stadtpublikum orientierten.

Der Politiker Palenque

Das Erfolgsrezept übertrug Palenque auf seinen eigenen Fernsehkanal: Canal 4, gegrün­det 1985. Damit war der Me­dienkonzern RTP komplett: Si­stema Radio y Televisión Popu­lar war in La Paz ein Machtfak­tor, sein unumstrittener Chef: Carlos Palenque Avilés.
Den ersten Ausflug in die Po­litik hatte Palenque schon 1980 unternommen. Er kandidierte bei den Parlamentswahlen für die alte Revolutionspartei MNR. Auf die Wahl folgte der Putsch von García Meza, der allen parteipo­litischen Ambitionen ein vorläu­figes Ende bereitete. Während viele demokratische Politiker verfolgt und einige ermordet wurden, durfte Radio Metropo­litana weiter senden, einzige Be­dingung: Die offiziellen Nach­richten mußten vom staatlichen Ra­dio Illimani übernommen werden. Palenque war flexibel genug.
Gründung und Erfolg von CONDEPA sind ohne die Me­dienmacht von RTP nicht erklär­bar. Zum Schlüsselmoment wurde ein direkter staatlicher Angriff auf RTP im Jahr 1988. Die seit 1985 amtierende, demo­kratisch gewählte MNR-Regie­rung unter Víctor Paz Estenssoro nahm ein telefonisches Interview mit dem damaligen Drogenzar Roberto Suárez zum Anlaß, die Medien des compadre zu schlie­ßen. Das Ergebnis: Die Aymara in La Paz gingen auf die Straße, um “ihren” compadre zu vertei­digen. Versuche, Palenque zu verhaften, scheiterten daran, daß Menschenmengen sich vor ihr Idol stellten. Als im August 1988 RTP wieder auf Sendung gehen durfte, sprach Padre David Mal­donado, ein Palenque verbun­dener Priester, davon, in diesem Fall sei “die Stimme Palenques Gottes Stimme”. Palenque selbst nahm solche Worte nie direkt in den Mund, aber er widersprach auch nicht. Die Selbstinszenie­rung als quasi-religiöse Füh­rungsfigur war längst gelungen.

Starke Regionalpartei im Stammland der Aymaras

Sorgfältig organisiert wurde bei den Massendemonstrationen zum ersten Mal der Ruf “Palenque Presidente” laut, und schon am 21. September 1988 folgte die Gründung von CON­DEPA in einer symbolgeladenen Zeremonie in Tiahuanaco, der präkolumbianischen Ruinenstadt auf dem Altiplano in der Nähe von La Paz.
CONDEPA ist seitdem eine feste Größe in der bolivianischen Politik. In La Paz wurde die Partei schnell zur stärksten Kraft, schließlich stellen die Aymara die eindeutige Mehrheit der Be­völkerung. Die Konzentration auf La Paz macht allerdings auch die entscheidende Schwäche von CONDEPA als Partei auf natio­naler Ebene deutlich. Palenque setzte immer so stark auf den kulturellen Kontext der Aymara, daß die Quechuas der Täler und erst recht die Mestizen und Indi­genas des östlichen Tieflandes wenig damit anfangen konnten. RTP war ohnehin außerhalb von La Paz nicht zu empfangen, erst in den letzten Jahren betrieb Pa­lenque die Ausdehnung des Sen­debereiches. So konnte CON­DEPA trotz eindeutiger Wahl­siege in La Paz auf nationaler Ebene nicht über Wahlergeb­nisse von rund 14 Prozent hin­auskommen.
Ideologisch hat CONDEPA nichts indigenistischen oder in­dianistischen Programmen zu tun. “Endogene Entwicklung” propagieren die Intellektuellen der Partei – übrigens samt und sonders, genauso wie Palenque selbst, keine Indígenas, sondern spanischsprechende Mestizen. Das Politikverständnis von CONDEPA hat nichts mit Basis­demokratie auf lokaler Ebene, mit Emanzipation des indigenen Boliviens zu tun. Es ging immer darum, die Massen um den Füh­rer Palenque zu scharen. Seine Führung stand innerhalb von CONDEPA nie zur Disposition. Von der Struktur der Partei bis zum Auftreten in seinen Medien bewies Palenque immer eins: Seine Rolle war die des autoritä­ren, aber wohlwollenden Über­vaters, der über seine “Kinder” die schützende Hand hält. Er war der Erlöser aus der Misere, der es nicht nötig hatte, sich demo­kratisch bestätigen zu lassen. CONDEPA ist, so gesehen, eine durch und durch traditionelle bolivianische Partei, zentrali­stisch organisiert und völlig aus­gerichtet auf die Führungsfigur und dazu noch ausgestattet mit einer gehörigen Portion Oppor­tunismus.
Ein Beispiel dafür nennt Mi­guel Urioste, inzwischen Prä­sidentschaftskandidat der sozial­demokratisch ausgerichteten MBL (Bewegung Freies Boli­vien) und Koalitionspartner des MNR in der gegenwärtigen Re­gierung. 1993 brauchten MNR und MBL noch einen Koaliti­onspartner, zur Auswahl standen CONDEPA und die UCS des in­zwischen verstorbenen Brauerei­besitzers Max Fernández. UCS sei nur deswegen vorgezogen worden, so Urioste, weil sie we­niger Posten forderte. Wäre CONDEPA Regierungspartei geworden, wären die Reformen der letzten Jahre in RTP mit Si­cherheit wohlwollender kom­men­tiert worden. Aber CON­DEPA verblieb in der Op­position – und RTP machte Front gegen den “Ausverkauf des Va­terlandes”.

Hat CONDEPA eine Zukunft?

Es ist schwer vorstellbar, daß eine Partei, die so stark auf ihren Gründer und Chef ausgerichtet war, dessen Tod unbeschadet übersteht. Es wird für CON­DEPA darauf ankommen, Palen­que zum Mythos zu verklären. Für die bevorstehende Parla­mentswahl ist die Frage, ob der Trauereffekt noch bis zum Juni anhält, und CONDEPA ein au­ßer­gewöhnliches Wahlergebnis be­schert. Die Zukunft CONDE­PAs als Partei wird sich erst später entscheiden.
Neue Parteivorsitzende und Präsidentschaftskandidatin ist, nachdem Palenques Ehefrau Mónica sich vor wenigen Mo­naten unter dramatischen Um­ständen von ihrem Mann ge­trennt hat, Remedios Loza, für das RTP-Publikum bekannt als “comadre Remedios”.
Die Nachfolgerin: Remedios Loza
Sie war schon in den 70er Jahren Mitar­beiterin von Palen­que in Radio und Fern­sehen. Remedios Loza ist im Ge­gen­satz zu anderen CONDEPA-Spi­tzen­politikern tatsächlich eine Ay­mara und war 1989 die erste weib­liche Abge­ordnete, die in der Aymara-typi­schen Kleidung im Parlament auftrat. Remedios Loza ist be­kannt, sie kann, geübt durch lange Fernseherfahrung, sehr gut reden, und sie hat Erfah­rung mit dem politischen Be­trieb. Für die CONDEPA-Kli­entel kommt dazu, daß sie in al­len Krisen immer hundertpro­zentig loyal auf der Seite des compadre stand, besonders wäh­rend des Trennungsdramas der Eheleute Palenque.
Aber Remedios Loza muß es erst schaffen, die ihr bislang fest zugewiesene Rolle in der zwei­ten Reihe abzuschütteln. Sie war immer die Frau hinter dem compadre, jetzt muß sie sich als po­tentielle Landesmutter präsentie­ren. Und sie wird mit dem Pro­blem kämpfen müssen, als Ay­mara nur schwer zur Integra­tionsfigur für ein Wachstum CONDEPAS in anderen Regio­nen Boliviens werden zu können.
Auf einen Faktor aber, der den Zugang zur Macht erleich­tern wird, kann sich Remedios Loza verlassen: CONDEPA wird nach der Wahl im Juni als mög­licher Koalitionspartner mit im Spiel sein, für welche der alten Parteien auch immer. Denn für jede Partei muß die Aussicht at­traktiv sein, die Medienmacht von RTP im eigenen Lager zu wissen. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß nicht Mónica Palenque die Kontrolle über RTP an sich reißt, der Kampf um das materielle Erbe ist noch nicht entschieden. Anders dagegen die Auseinandersetzung um das po­litische Erbe. Das Begräbnis Pa­lenques, so Rafael Archondo, hat gleichzeitig die politische Gruft für die Ambitionen von Mónica Palenque fest verschlossen, nicht selten war im Trauerzug “Mörderin Mónica” zu hören. Der compadre ist weder Präsi­dent noch Minister geworden, hier aber hat er einen letzten Sieg errungen.

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