Volkstribun und “Stimme Gottes”
Hunderttausende trauern um Carlos Palenque Avilés
Für seine Gegner war er ein Verführer und Demagoge, für viele seiner Anhänger eine fast christusähnliche Lichtgestalt. Nicht wenige in der Masse der Trauernden, so der bolivianische Journalist Rafael Archondo in der Tageszeitung La Razón, hofften auf seine Wiederauferstehung. Mit Carlos Palenque ist ein Politiker gestorben, der einen neuen Stil in die bolivianische Politik eingeführt hat, ein genialer Kommunikator, der in kurzer Zeit mit den Stimmen der städtischen Aymara seine Partei CONDEPA (Gewissen des Vaterlandes) zur führenden politischen Kraft in La Paz gemacht hat. Gleichzeitig blieb er immer den traditionellen Mechanismen der bolivianischen Politik verhaftet, ein Caudillo, der alle Macht auf seine Person konzentrierte.
Grundlage seiner Popularität war seine Arbeit als Radio- und Fernsehmoderator, die Kunst der Selbstinszenierung beherrschte er perfekt. Jetzt stellt sich die Frage nach der Zukunft seiner politischen Erbschaft, der Wahlkampf für die Parlamentswahl am 1. Juni hat eine unerwartete Wendung genommen.
Mit dem Showgeschäft kam Palenque schon früh in Berührung. Als Mitglied der Musikgruppe “Los Caminantes” sammelte er 1968 seine ersten Medienerfahrungen in der Radiosendung “La Hora del Folklore” (Die Stunde der Folklore) in Buenos Aires, einer Mittagssendung für die in Argentinien lebenden Bolivianer. Ende 1968, nach der Rückkehr nach La Paz, folgte eine ähnliche Sendung bei Radio Chuquisaca. 1973 wagte Palenque den Schritt ins Fernsehen. In der “Hipper Show” im staatlichen Kanal 7 begann er zum ersten Mal, Betroffene selbst von ihren Sorgen und Problemen berichten zu lassen und daraufhin Solidaritätsaktionen zu starten.
Vom Musiker zum Fernsehstar
1980 gründete Carlos Palenque seine erste eigene Radiostation: Radio Metropolitana. Zwar hatte er nicht viel Kapital, aber er stieß mit seinen Sendungen in eine Marktlücke. Kein Radiosender richtete sich so direkt an die städtischen Aymara, an die BewohnerInnen der ärmeren Viertel von La Paz. Die “Tribuna libre del Pueblo” – die “Offene Bühne des Volkes” – schallte um die Mittagszeit in den Marktvierteln aus allen Radios. Die Hörerinnen und Hörer hatten einen Ort, an dem sie ihre Sorgen loswerden konnten, und im Zentrum stand, väterlich und um die Sorgen der Menschen bemüht, der “compadre” Carlos Palenque.
Die Bezeichnung “compadre” zeigt deutlich, wie geschickt Palenque andine Symbolik in seiner Radioarbeit aufnahm. Der “compadrazgo” in den Anden ist ein System fiktiver Verwandtschaften. Macht man jemanden zum compadre oder zur comadre, besteht eine gegenseitige Verpflichtung, ähnlich, als ob es eine direkte Verwandtschaft gebe.
Palenque machte sich selbst erfolgreich zum idealtypischen compadre und deckte damit gleichzeitig die Schwachstelle der etablierten Radiostationen auf, die sich durchweg am spanischsprachigen, kulturell mestizisch geprägten Stadtpublikum orientierten.
Der Politiker Palenque
Das Erfolgsrezept übertrug Palenque auf seinen eigenen Fernsehkanal: Canal 4, gegründet 1985. Damit war der Medienkonzern RTP komplett: Sistema Radio y Televisión Popular war in La Paz ein Machtfaktor, sein unumstrittener Chef: Carlos Palenque Avilés.
Den ersten Ausflug in die Politik hatte Palenque schon 1980 unternommen. Er kandidierte bei den Parlamentswahlen für die alte Revolutionspartei MNR. Auf die Wahl folgte der Putsch von García Meza, der allen parteipolitischen Ambitionen ein vorläufiges Ende bereitete. Während viele demokratische Politiker verfolgt und einige ermordet wurden, durfte Radio Metropolitana weiter senden, einzige Bedingung: Die offiziellen Nachrichten mußten vom staatlichen Radio Illimani übernommen werden. Palenque war flexibel genug.
Gründung und Erfolg von CONDEPA sind ohne die Medienmacht von RTP nicht erklärbar. Zum Schlüsselmoment wurde ein direkter staatlicher Angriff auf RTP im Jahr 1988. Die seit 1985 amtierende, demokratisch gewählte MNR-Regierung unter Víctor Paz Estenssoro nahm ein telefonisches Interview mit dem damaligen Drogenzar Roberto Suárez zum Anlaß, die Medien des compadre zu schließen. Das Ergebnis: Die Aymara in La Paz gingen auf die Straße, um “ihren” compadre zu verteidigen. Versuche, Palenque zu verhaften, scheiterten daran, daß Menschenmengen sich vor ihr Idol stellten. Als im August 1988 RTP wieder auf Sendung gehen durfte, sprach Padre David Maldonado, ein Palenque verbundener Priester, davon, in diesem Fall sei “die Stimme Palenques Gottes Stimme”. Palenque selbst nahm solche Worte nie direkt in den Mund, aber er widersprach auch nicht. Die Selbstinszenierung als quasi-religiöse Führungsfigur war längst gelungen.
Starke Regionalpartei im Stammland der Aymaras
Sorgfältig organisiert wurde bei den Massendemonstrationen zum ersten Mal der Ruf “Palenque Presidente” laut, und schon am 21. September 1988 folgte die Gründung von CONDEPA in einer symbolgeladenen Zeremonie in Tiahuanaco, der präkolumbianischen Ruinenstadt auf dem Altiplano in der Nähe von La Paz.
CONDEPA ist seitdem eine feste Größe in der bolivianischen Politik. In La Paz wurde die Partei schnell zur stärksten Kraft, schließlich stellen die Aymara die eindeutige Mehrheit der Bevölkerung. Die Konzentration auf La Paz macht allerdings auch die entscheidende Schwäche von CONDEPA als Partei auf nationaler Ebene deutlich. Palenque setzte immer so stark auf den kulturellen Kontext der Aymara, daß die Quechuas der Täler und erst recht die Mestizen und Indigenas des östlichen Tieflandes wenig damit anfangen konnten. RTP war ohnehin außerhalb von La Paz nicht zu empfangen, erst in den letzten Jahren betrieb Palenque die Ausdehnung des Sendebereiches. So konnte CONDEPA trotz eindeutiger Wahlsiege in La Paz auf nationaler Ebene nicht über Wahlergebnisse von rund 14 Prozent hinauskommen.
Ideologisch hat CONDEPA nichts indigenistischen oder indianistischen Programmen zu tun. “Endogene Entwicklung” propagieren die Intellektuellen der Partei – übrigens samt und sonders, genauso wie Palenque selbst, keine Indígenas, sondern spanischsprechende Mestizen. Das Politikverständnis von CONDEPA hat nichts mit Basisdemokratie auf lokaler Ebene, mit Emanzipation des indigenen Boliviens zu tun. Es ging immer darum, die Massen um den Führer Palenque zu scharen. Seine Führung stand innerhalb von CONDEPA nie zur Disposition. Von der Struktur der Partei bis zum Auftreten in seinen Medien bewies Palenque immer eins: Seine Rolle war die des autoritären, aber wohlwollenden Übervaters, der über seine “Kinder” die schützende Hand hält. Er war der Erlöser aus der Misere, der es nicht nötig hatte, sich demokratisch bestätigen zu lassen. CONDEPA ist, so gesehen, eine durch und durch traditionelle bolivianische Partei, zentralistisch organisiert und völlig ausgerichtet auf die Führungsfigur und dazu noch ausgestattet mit einer gehörigen Portion Opportunismus.
Ein Beispiel dafür nennt Miguel Urioste, inzwischen Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratisch ausgerichteten MBL (Bewegung Freies Bolivien) und Koalitionspartner des MNR in der gegenwärtigen Regierung. 1993 brauchten MNR und MBL noch einen Koalitionspartner, zur Auswahl standen CONDEPA und die UCS des inzwischen verstorbenen Brauereibesitzers Max Fernández. UCS sei nur deswegen vorgezogen worden, so Urioste, weil sie weniger Posten forderte. Wäre CONDEPA Regierungspartei geworden, wären die Reformen der letzten Jahre in RTP mit Sicherheit wohlwollender kommentiert worden. Aber CONDEPA verblieb in der Opposition – und RTP machte Front gegen den “Ausverkauf des Vaterlandes”.
Hat CONDEPA eine Zukunft?
Es ist schwer vorstellbar, daß eine Partei, die so stark auf ihren Gründer und Chef ausgerichtet war, dessen Tod unbeschadet übersteht. Es wird für CONDEPA darauf ankommen, Palenque zum Mythos zu verklären. Für die bevorstehende Parlamentswahl ist die Frage, ob der Trauereffekt noch bis zum Juni anhält, und CONDEPA ein außergewöhnliches Wahlergebnis beschert. Die Zukunft CONDEPAs als Partei wird sich erst später entscheiden.
Neue Parteivorsitzende und Präsidentschaftskandidatin ist, nachdem Palenques Ehefrau Mónica sich vor wenigen Monaten unter dramatischen Umständen von ihrem Mann getrennt hat, Remedios Loza, für das RTP-Publikum bekannt als “comadre Remedios”.
Die Nachfolgerin: Remedios Loza
Sie war schon in den 70er Jahren Mitarbeiterin von Palenque in Radio und Fernsehen. Remedios Loza ist im Gegensatz zu anderen CONDEPA-Spitzenpolitikern tatsächlich eine Aymara und war 1989 die erste weibliche Abgeordnete, die in der Aymara-typischen Kleidung im Parlament auftrat. Remedios Loza ist bekannt, sie kann, geübt durch lange Fernseherfahrung, sehr gut reden, und sie hat Erfahrung mit dem politischen Betrieb. Für die CONDEPA-Klientel kommt dazu, daß sie in allen Krisen immer hundertprozentig loyal auf der Seite des compadre stand, besonders während des Trennungsdramas der Eheleute Palenque.
Aber Remedios Loza muß es erst schaffen, die ihr bislang fest zugewiesene Rolle in der zweiten Reihe abzuschütteln. Sie war immer die Frau hinter dem compadre, jetzt muß sie sich als potentielle Landesmutter präsentieren. Und sie wird mit dem Problem kämpfen müssen, als Aymara nur schwer zur Integrationsfigur für ein Wachstum CONDEPAS in anderen Regionen Boliviens werden zu können.
Auf einen Faktor aber, der den Zugang zur Macht erleichtern wird, kann sich Remedios Loza verlassen: CONDEPA wird nach der Wahl im Juni als möglicher Koalitionspartner mit im Spiel sein, für welche der alten Parteien auch immer. Denn für jede Partei muß die Aussicht attraktiv sein, die Medienmacht von RTP im eigenen Lager zu wissen. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß nicht Mónica Palenque die Kontrolle über RTP an sich reißt, der Kampf um das materielle Erbe ist noch nicht entschieden. Anders dagegen die Auseinandersetzung um das politische Erbe. Das Begräbnis Palenques, so Rafael Archondo, hat gleichzeitig die politische Gruft für die Ambitionen von Mónica Palenque fest verschlossen, nicht selten war im Trauerzug “Mörderin Mónica” zu hören. Der compadre ist weder Präsident noch Minister geworden, hier aber hat er einen letzten Sieg errungen.