Bolivien | Nummer 415 - Januar 2009

„Egal ob Aymara oder Quechua, ob Arm oder Reich“

Die neue bolivianische Verfassung soll für Alle in gleicher Weise eintreten

Im Interview mit den LN bezieht Silvia Lazarte, indigene Präsidentin der Verfassunggebenden Versammlung in Bolivien, Stellung zum schwierigen Prozess der Verabschiedung einer neuen Verfassung. Der Boykott der Opposition legt der Umsetzung des „Volkswillens“ schwere Steine in den Weg.

Benjamin Beutler

Woher kommt die Forderung nach einer neuen Magna Charta für Bolivien, von der Vizepräsident Álvaro García Linera sagt, sie sei eine „Landkarte der Kämpfe verschiedener sozialer Sektoren“?
Begonnen hat unserer Kampf für eine neue Verfassung 1990 mit dem „Marsch der Würde“ tausender Tiefland-Indigener nach La Paz. Die BolivianerInnen haben den Kongress und die Regierung wiederholt um die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung gebeten. Das Ziel: Ein tiefgehender Wandel durch die Ausarbeitung einer neuen Magna Charta. Dank der Gewissenhaftigkeit unseres Bruders und aktuellen Präsidenten Evo Morales Ayma haben 2006 Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung stattgefunden. Gewählt wurden Männer und Frauen aus unterschiedlichen Sektoren der Gesellschaft, vom Land und der Stadt. Ich zum Beispiel bin eine indigene Frau aus Santa Cruz. Über die Frauenorganisation Bartolina Sisa bin ich als Verfassungskonvent-Abgeordnete nominiert worden und habe mich gegen starke politische Konkurrenz durchsetzen können. Dass ich selbst sogar Präsidentin der VV geworden bin, ist für Boliviens Geschichte eine Sensation. Nie zuvor wurden Frauen, Indigene, Bauern und Arme berücksichtigt. Stattdessen entschieden 40 Juristen hinter verschlossenen Türen über das Schicksal aller BolivianerInnen. Der Verfassungskonvent hingegen ist in hohem Maße repräsentativ. Zählt der Kongress nur vier politische Parteien, so setzt sich die VV mit ihren 255 Abgeordneten aus 16 Gruppierungen zusammen. Über Sozialforen in allen departamentos haben wir die Vorschläge der BolivianerInnen in den Verfassungstext eingearbeitet, der im Dezember 2007 in Oruro verabschiedet wurde.

Was unterscheidet die neue von der alten, noch gültigen Verfassung?
Die neue Verfassung schließt keinen aus und ist für alle da: Recht auf die eigene Sprache, auf die eigene Kultur, neue Formen der Selbstverwaltung auf allen Ebenen, gerechte Verteilung der Gewinne aus Bodenschätzen und Privatisierungsverbot natürlicher Ressourcen wie Wasser und Energie. Wir wollen einen tiefen Wandel der bolivianischen Gesellschaft, ein menschenwürdiges Leben für alle – und darum stoßen wir auf heftigen Widerstand.

Welchen Wandel befürchten die VerfassungsgegnerInnnen?
Da ist vor allem die Landfrage, über die in einem beratenden Referendum parallel zum Ratifizierungsreferendum Ende Januar 2009 entschieden wird. Es wird einen Passus in der neuen Verfassung geben, dass GroßgrundbesitzerInnen und UnternehmerInnen maximal 5.000 oder 10.000 Hektar Land besitzen dürfen sollen. Während einer der größten Verfassungsgegner und Vorsitzender des regierungsfeindlichen „Bürgerkomitees Pro Santa Cruz“ Branko Marinkovich über 6.000 Hektar sein eigen nennt, haben viele BolivianerInnen nicht mal einen Hektar, auf dem sie wohnen können. Darum wird Landbesitz zukünftig an die Erfüllung seiner sozialen Funktion geknüpft.

Die Opposition boykottierte im Dezember 2007 geschlossen das letzte Plenum zur Annahme des neuen Verfassungstextes, um diesem später die Legitimität abzusprechen. Symptomatisch für die gesamte Arbeitsdauer?
Der Boykott am Ende war eine rein politische Entscheidung. Davor lief die Zusammenarbeit mit den Abgeordneten der Opposition im Konvent erstaunlich gut, die in einigen Kommissionen sogar die Vorsitzenden stellten. Im Dezember riefen mich Abgeordnete aus den von der Opposition regierten departamentos Pando und Beni an: „Wir wollen teilnehmen – aber die politische Linie unserer Partei erlaubt es nicht“. Dank der anwesenden verbliebenen Abgeordneten wurde das Abstimmungsquorum aber erreicht und der Abschlusstext angenommen. Der wurde dann dem Kongress vorgelegt, damit dieser das erforderliche Referendumsgesetz zur Annahme der neuen Verfassung durch das bolivianische Volk verabschiedet.

Im Kongress verweigerte die Rechte zunächst ihre Zustimmung zum Referendumsgesetz. Ein „Nationaler Pakt“ Ende Oktober zwischen der regierenden „Bewegung zum Sozialismus„ (MAS) und der parlamentarischen Opposition war geknüpft an die nachträglichen Änderungen von über 150 aller 400 Verfassungsartikel durch den Kongress. Spiegeln sich die Kämpfe der sozialen Bewegungen in der neuen Magna Charta überhaupt noch wider?
Privateigentum und das Recht auf private Bildung werden respektiert – aber die Erfüllung der sozialen Funktion von Privateigentum muss eingehalten werden. Das haben die konservativen Parteien eingesehen und gaben ihre ablehnende Haltung auf. Der Verfassungstext kann im Referendum entweder angenommen oder abgelehnt werden. Einmal angenommen wird die nationale Gesetzgebung der neuen Verfassung angepasst, wo noch immer ein großer Interpretationsspielraum besteht. Mit dem Dezember 2009 neu gewählten Parlament können bei Bedarf Änderungen an der Verfassung vorgenommen werden. Die sozialen Bewegungen müssen natürlich weiter dafür sorgen, dass Regierung und Legislative in ihrem Sinne arbeiten. Darum sehe ich in der geschehenen Modifikation der Verfassungsartikel kein Problem, auch wenn die radikale Linke jetzt „Verrat“ schreit. Die Verfassung ist nicht für Parteien oder politische Gruppen, sondern für die bolivianische Bevölkerung.

Eine heftig kritisierte Modifizierung des Verfassungstextes behandelt juristische Übergangsregelungen. Die ursprüngliche Version garantierte „zurückliegend legal erworbene Rechte“, nun ist nur noch von „zurückliegend erworbenen Rechten“ die Rede. Schützt man damit nicht Besitzstände von GroßgrundbesitzerInnen und Öl-Multis, die Landbesitz und Förderkonzessionen zu Zeiten vergangener Militärdiktaturen sowie neoliberal-korrupten Regierungen illegal erworben haben?
Egal wie man diese Frage auslegt: Unsere Entscheidung für den „Nationalen Pakt“ wurde vorrangig zur Befriedung des Landes getroffen. Das Massaker von Pando, bei dem mindestens 30 Bauern von Mitarbeitern des Pando-Präfekten Leopoldo Fernández massakriert wurden, hat uns und Präsident Morales nicht gefallen. Zwischen uns GenossInnen und der Regierung wird es wegen des „Nationalen Pakts“ nicht zu Streit kommen. In Bolivien ist der Wandel ein schrittweiser Prozess, den wir vorantreiben und der an dieser Stelle nicht aufhören wird. Wir mussten uns mit der Rechten einigen und endlich zum Referendum kommen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft Boliviens?
Egal ob Aymara, Quechua, ob Arm oder Reich – wir alle wollen in Bolivien friedlich zusammenleben. Natürlich gibt es große Unterschiede. In Bolivien opfern sich die Bauern und Bäuerinnen für die Produktion der Lebensmittel auf, von denen alle BolivianerInnen leben. Die Reichen sind in der Pflicht, ihr Geld zu teilen und es gut zu verwalten. Vor allem aber müssen sie endlich den Einsatz der Bauern und Bäuerinnen wertschätzen.
// Interview: Benjamin Beutler

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