Brasilien | Nummer 415 - Januar 2009

Der Staat auf der Anklagebank

Ein Tribunal Popular klagt Menschenrechtsverbrechen des brasilianischen Staates an

Vom 4. bis 6. Dezember 2008 trafen sich VertreterInnen von sozialen Bewegungen und Menschenrechtsorganisationen in São Paulo. Auf einem „Volkstribunal“ sammelten sie Erfahrungen und Berichte über Menschenrechtsverbrechen durch brasilianische Sicherheitskräfte. Pünktlich zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stellten sie Ihren Abschlussbericht vor.

Birgit Hoinle, Sarah Lempp

„Die Favelas sind eine Fabrik von Delinquenten, deswegen bin ich für Abtreibung!“ skandiert eine junge Frau im schicken Kostüm in überzeugtem Tonfall und stampft mit den schreiend roten Absatzschuhen auf das Parkett. Nein, wir befinden uns nicht in einem Ballsaal der brasilianischen Oberschicht, sondern beim Tribunal Popular, dem „Volkstribunal“, das Anfang Dezember in São Paulo stattfand. Eine Theatergruppe aus dem Favelakomplex Maré in Rio de Janeiro trägt Zitate auf die Bühne, die in großen Tageszeitungen über Favelas kursieren. Doch das Tribunal Popular war mehr als Theater: Der brasilianische Staat wurde auf die Anklagebank gesetzt und von VertreterInnen von sozialen Bewegungen und persönlich Betroffenen wegen systematischer Menschenrechtsverletzungen verurteilt.
Anlässlich des 60. Jahrestages der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wollte das Tribunal Popular die tatsächliche Umsetzung der Menschenrechte in Brasilien aufzeigen. Dabei wurden die Rollen getauscht: Diejenigen, welche die prekäre Menschenrechtssituation Brasiliens täglich erleben, formulierten die Anklage und zogen den Staat nach dem Muster seiner eigenen Rechtsstrukturen zur Verantwortung.
Der „Noble Saal“ der Jurafakultät der Universität von São Paulo bot eine wahrhaft noble Kulisse für die Gerichtsverhandlung, zu der sich dort etwa 600 TeilnehmerInnen einfanden: ArbeiterInnen, StudentInnen, KünstlerInnen, Favela-BewohnerInnen sowie AktivistInnen von sozialen Bewegungen und Menschenrechtsorganisationen. Von staatlicher Seite ließ sich trotz Einladung während der gesamten drei Tage kein/e VertreterIn blicken. Auch die brasilianische Presse glänzte mit Abwesenheit, einzig die regierungsnahe Agência Brasil war mit einer Reporterin vertreten.
Insgesamt wurden beim Tribunal vier Sitzungen abgehalten. Dabei bestand einer der Anklagepunkte in der Kriminalisierung der sozialen Bewegungen auf dem Land. Zu diesem Thema berichteten José Guajajara von der indigenen Bewegung und eine Frau aus einer Quilombo-Gemeinde – als Quilombos werden Gemeinden entflohener SklavInnen bezeichnet. Diese Gemeinden wurden in der Verfassung durch den Artikel 68 anerkannt und bekamen Landrechte zugewiesen. Jedoch ist die Umsetzung dieser Norm mangelhaft, was während des Tribunals heftig kritisiert wurde. José Guajajara machte in seiner bewegenden Rede auf die aktuelle Situation der indigenen Bevölkerung aufmerksam, die von den Unternehmen der Agrarindustrie in die städtischen Slums abgedrängt wird – allein im Bundesstaat Rio de Janeiro gibt es 30.000 indigene Favela-BewohnerInnen.
Wie in den anderen Bundesstaaten werden auch in Rio de Janeiro schwarze Jugendliche besonders kriminalisiert. Oft werden sie pauschal als DrogenhändlerInnen stigmatisiert. Um dieses „Risiko für die öffentliche Sicherheit“ einzudämmen, unternimmt die Militärpolizei von Rio de Janeiro quasi militärische Operationen, bei denen sie in die Elendsviertel der Metropole eindringt. Beispielhaft stellte das Tribunal den Fall der Favela Complexo do Alemão in Rio de Janeiro dar. Dort war die Militärpolizei am 27. Juni 2007 mit über 1.300 Kräften eingedrungen – acht Stunden dauerte die Aktion, bei der 19 Menschen starben, darunter auch Kinder. Ein Bewohner berichtet, die PolizistInnen seien mit einschüchternden Rufen wie „Ich will Blut!“ oder „Ein guter Bandit ist ein toter Bandit!“ den Hügel heraufgekommen. Besonders kritisierte das Tribunal die oberflächliche Obduktion der Opfer durch das gerichtsmedizinische Institut: Das Röntgengerät funktionierte nicht, die Leichen wurden unzureichend aufbewahrt, geschweige denn eine Analyse am Tatort unternommen. Lucia Cabral, die seit über 40 Jahren im Complexo wohnt, rief von der Zeugenbank aus in die Menge: „Jene, die uns schützen sollten, sind die, die uns am meisten Leid zufügen!“
Die Hauptschuld am Ausmaß der Polizeigewalt in den Favelas geben die sozialen Bewegungen der Politik der „öffentlichen Sicherheit“ im Bundesstaat Rio de Janeiro. Im Zeichen dieser „öffentlichen Sicherheit“ findet eine Militarisierung der Polizeistrategie statt, die in allererster Linie die ärmere Bevölkerung trifft. Dieser Sicherheitsdiskurs stellt die Favelas als „Zentren des organisierten Verbrechens“ dar und macht sie damit zum zentralen Problem Brasiliens. Dadurch werden ihre BewohnerInnen zu legitimen Zielscheiben der Polizei, was ZeugInnen beim Tribunal durch ihre Aussagen eindrücklich beschrieben. „Einmal bin ich auf dem Heimweg von der Schule beinahe in einen Schusswechsel geraten. Wir leben in einem ständigem Risiko und in Gefahr“, erzählte Prescilla Monteira von der Theatergruppe Companhia Marginal da Maré. Besonders deutlich spiegelt sich das in der zynischen Einstellung der Politik wider: Der Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro, Sérgio Cabral Filho, bezeichnete Abtreibung als geeignetes Mittel zur Verbrechensbekämpfung, da die armen Bevölkerungsschichten „Fabriken von Delinquenten“ seien.
Das eindringlichste Symbol für die „Politik der öffentlichen Sicherheit“ Cabrals findet sich in den Garagen der Polizei von Rio de Janeiro: der caveirão (wörtlich: großer Totenkopf). Das doppelt gepanzerte, acht Tonnen schwere Fahrzeug kostet rund 55.000 Euro, der Name rührt von seiner makabren „Verzierung“ her: ein auf ein Schwert gespießter Totenkopf. Früher wurde das Panzerfahrzeug nur von einer Spezialeinheit der Polizei genutzt. Heute kommt es immer häufiger auch bei Einheiten der Zivil- und Militärpolizei zum Einsatz. Ausgestattet mit Lautsprechern, seitlichen Schießscharten und einem Geschützturm bietet es Platz für bis zu zwölf schwer bewaffnete PolizistInnen. Diese können aus dem Fahrzeug die Favela-BewohnerInnen verbal angreifen und auch auf sie schießen, ohne dabei erkannt zu werden. Trotz diverser Anzeigen kam es bisher noch in keinem einzigen Fall, in dem ein solches Panzerfahrzeug zum Einsatz kam, zu einer Verhandlung.
Auch im nationalen Vergleich ist die Zahl der bei Polizeieinsätzen getöteten Personen in Rio de Janeiro extrem hoch. Besonders zynisch empfinden die Favela-BewohnerInnen dabei das hohe Maß an Straflosigkeit für die PolizistInnen. Als juristisches Mittel wird Notwehr genutzt. Durch angebliche Notwehr in quasi allen Fällen, in denen ein/e PolizistIn eine/n Verdächtige/n tötete, entgehen die PolizistInnen strafrechtlicher Verfolgung für unrechtmäßig begangene Morde. Allein im ersten Halbjahr 2008 wurden 700 Fälle von Notwehr registriert. Auf dem Tribunal kamen nun die Mütter zu Wort, deren Söhne durch Schüsse von Milizen oder PolizistInnen starben. Manche brachen in Tränen aus, als sie die Situation schilderten, andere riefen mit wuterfüllter Stimme: „Ich habe nun nichts mehr zu verlieren, da das wichtigste in meinem Leben bereits ausgelöscht wurde – jetzt werde ich kämpfen!“
Um seine Politik zu rechtfertigen, beschwört der offizielle Diskurs eine bürgerkriegsähnliche Situation herauf. Marcelo Freixo von der Menschenrechtsorganisation Justiça Global sieht das jedoch anders: „Wir befinden uns nicht im Krieg, es gibt keine Krise. Hier wird öffentliche Angst erzeugt, um das Konzept der öffentlichen Sicherheit zu verkaufen.“
Dabei wird der Drogenhandel als Staatsfeind gebrandmarkt. Außer Acht gelassen werden allerdings die komplexen Verflechtungen zwischen Polizei, Politik und Drogenhandel. Beim Tribunal zeigte Maurício Campos vom Netzwerk gegen Gewalt auf, dass die DrogenhändlerInnen in der Regel Bestechungsgelder an PolizistInnen zahlen, um sich vor Verfolgung zu schützen. Im Zuge der „Verhandlungen“ über die Höhe der Bestechungsgelder kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppierungen von Polizei und Drogenhandel – die Leidtragenden sind in der Regel die Favela-BewohnerInnen, die dabei zwischen die Fronten geraten.
Warum aber investiert der brasilianische Staat jährlich knapp 1,5 Milliarden Euro in den Apparat der „öffentlichen Sicherheit“, obwohl der Drogenhandel durch Repression kaum einzudämmen ist? Mauricio Campos sieht darin einen tieferen Grund: „Die Ausgestoßenen der Gesellschaft, die potenziell revoltieren könnten, sollen unter Kontrolle gehalten werden.“ Die wirtschaftlichen Krisen der 1980er und die Einführung neoliberaler Reformen in den 1990er Jahren hätten viele Menschen in die Arbeitslosigkeit oder den informellen Sektor gezwungen und von der Basisversorgung abgeschnitten. In den letzten Jahren verschärfe sich nun die Polizeigewalt in extremem Maße. Die Sicherheitskräfte und Politik konstruierten ein neues, altes Feindbild: „den armen Schwarze aus der Favela“.
In der Abschlusssitzung am letzten Tag des Tribunals fasste der Ankläger Plínio de Arruda Sampaio die Kriminalisierung der marginalisiertem Bevölkerungsschichten als fundamentalen Anklagepunkt gegen den brasilianischen Staat zusammen, der abschließend von allen Anwesenden für schuldig befunden wurde.
Doch es blieb nicht bei der bloßen Auflistung der Menschenrechtsverletzungen. Einer der Programmpunkte des Tribunals bestand in dem Treffen der Familienangehörigen von Opfern dieser Gewalt, bei dem insbesondere Mütter die Möglichkeit hatten, ihre Wut und ihren Schmerz auszutauschen. Der Termin für das nächste landesweite Treffen im März nächsten Jahres in Bahia ist bereits festgelegt.
Ein eindeutiges Zeichen, dass die Gewalt gegen schwarze Jugendliche in den Favelas weitergeht und dass etwas dagegen unternommen werden muss, ist der Tod des achtjährigen Matheus. Während das Tribunals tagte, wurde er im Complexo da Maré in Rio de Janeiro von einem Polizisten der Militärpolizei erschossen, angeblich im Zuge eines Schusswechsels mit DrogendealerInnen. Doch, so bringt es die Mutter eines anderen getöteten Kindes auf den Punkt: „Es gibt keine zwei Seiten, es geht um das Recht auf Leben!“
// Birgit Hoinle, Sarah Lempp

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