Nummer 359 - Mai 2004 | Peru

Zwischen Guatemala und Argentinien

Der schwierige Umgang mit der Wahrheit über Kriegsverbrechen in Peru

Acht Monate sind vergangen, seit die peruanische Wahrheitskommission ihren Abschlussbericht über die Verbrechen des Bürgerkriegs vorlegte. Acht Monate der Untätigkeit: Hunderttausende von Verstümmelten, Vertriebenen oder Kriegswaisen warten vergebens auf staatliche Hilfen. Die Kriegsverbrechen der Armee bleiben ungesühnt. Schlimmer noch: sie werden in ihrem Umfang wider besseren Wissens von allen staatlichen Institutionen und den großen Parteien geleugnet.

Rolf Schröder

Teresa erzählt gern aus ihrem Leben. Die Mutter von fünf Kindern wohnt mit ihrer Familie in Milagro, einem kleinen Dorf von Asháninka-Indígenas im peruanischen Amazonas-Tiefland. Sie ist Gästen gegenüber freundlich und offen. Doch sie verstummt, sobald das Thema auf den Bürgerkrieg kommt, der zwischen 1980 und 1992 das Land erschütterte. Fast acht Prozent des etwa 50.000 Menschen zählenden Asháninka-Volkes überlebten den vom Leuchtenden Pfad deklarierten Volkskrieg nicht. Die Asháninkas hatten Pech: Ihr traditionelles Siedlungsgebiet liegt zwischen den Provinzen Ayacucho und Junín, den damaligen Hochburgen des Leuchtenden Pfads. Deshalb zog sich die maoistische Guerrilla dorthin zurück, wenn sie von der Armee bedrängt wurde. „Ich würde Ihnen gern etwas vom Krieg erzählen, aber ich kann nicht. Gott sei Dank sind wir noch am Leben!“ Teresa bricht in Tränen aus.
Wie Teresa geht es auch den anderen DorfbewohnerInnen. Selbst als vor einem Jahr VertreterInnen der peruanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission in Milagro auftauchten und Zeugenaussagen der Kriegsopfer aufnehmen wollten, war kaum jemand zum Sprechen bereit. Germán, Teresas Ehemann, entrüstet sich: „Warum fragen die uns nach der Vergangenheit? Wir wollen sie vergessen. Bei uns in der Gemeinde leben Leute, die damals mit dem Leuchtenden Pfad kämpften und ihre eigenen Brüder töteten. Jetzt bereuen sie ihre Taten. Wir haben ihnen verziehen und sie wieder aufgenommen, so schmerzhaft das war. Soll ich sie jetzt bei der Wahrheitskommission denunzieren?“

Mehr Tote denn je
In Milagro gibt es kein Fernsehen und keine Zeitungen. Deshalb wissen weder Germán, Teresa oder die anderen EinwohnerInnen, was im Abschlussbericht der Wahrheitskommission steht, den diese im August 2003 vorgelegt hat. Sie werden auch kaum ermessen können, was 70.000 Bürgerkriegstote für ihr Land bedeuten, denn sie sind nicht gewohnt, mit Zahlen und Statistiken umzugehen. So viele Opfer hat es seit der peruanischen Unabhängigkeit in allen in- und externen Konflikten nicht gegeben. Die Asháninkas litten besonders unter den Gewalttaten des Leuchtenden Pfads, der alle PeruanerInnen als Gegner betrachtete, die ihm Widerstand entgegensetzten. Insgesamt, so stellte die Wahrheitskommission fest, gingen zwischen 1980 und 1992 etwa 45.000 Tote auf das Konto des Leuchtenden Pfads. Die Armee und in weit geringerem Maße auch die Polizei, die große Teile der verarmten Landbevölkerung für subversiv hielten, massakrierten fast 20.000 Menschen.
Andere Kriegsgeschädigte wollen nicht vergessen wie Germán und Teresa, sondern sich mit der unbewältigten Vergangenheit auseinandersetzen. Doris Calixto zum Beispiel. Ihr Mann wurde von der Armee verschleppt und ermordet, sie selbst mehrfach gefoltert. Heute ist sie Vorsitzende einer der insgesamt 110 Vereinigungen von Familienangehörigen der Opfer, die sich vor allem für staatliche Reparationen und strafrechtliche Verfolgung der KriegsverbrecherInnen stark machen. „Für uns war die Arbeit der Wahrheitskommission sehr fruchtbar“, urteilt Doris, „denn das Ausmaß der Gewalt in diesem Krieg war uns nicht bekannt. Jetzt fordern wir auf dieser Grundlage Gerechtigkeit.“ Doch in einem Punkt ist sie sich mit Teresa und Germán einig: „Vom Staat können wir nicht viel erwarten. Der hat sich bisher nicht gerührt.“
Zur Erinnerung: Als die Wahrheitskommission im August 2003 ihren Abschlussbericht vorlegte, schockierte sie die Öffentlichkeit nicht nur mit dem Zahlenmaterial über den Krieg. Sie bescheinigte der Armee systematische Menschenrechtsverletzungen und übergab der Staatsanwaltschaft eine Fülle von Beweismaterial gegen Offiziere. Darüber hinaus bat sie den Präsidenten, sich im Namen des Staates bei den Opfern zu entschuldigen, und empfahl kollektive und individuelle Reparationen sowie drastische Strukturreformen in Armee und Polizei. Zahlreiche PolitikerInnen rechter Parteien sahen das Ansehen der Armee verunglimpft und reagierten ablehnend bis diffamierend auf den Bericht. Fakt ist aber: Während tausende AnhängerInnen des Leuchtenden Pfads in den Gefängnissen verschwanden – zum Teil ohne Beweise und mit jahrzehntelangen Freiheitsstrafen –, versehen die Massenmörder in Uniform weiter ihren Dienst oder leben unbehelligt im Ruhestand.

Toledo reagiert (nicht)
Die Regierung, etwas zwischen die Fronten geraten, wartet ab. Auch wenn sie das selbst bestreitet. Präsident Toledo, der den Bericht der Kommission zunächst zwei Monate lang unbeachtet liegen ließ, findet nämlich, er habe sich bereits im Namen des Staates entschuldigt. Nur bat er nicht für systematische Menschenrechtsverletzungen der Armee, sondern nur für „Exzesse“ um Verzeihung, und rief damit bei den Angehörigen der Opfer noch mehr Empörung hervor. Toledo behauptet auch, bereits die Zahlung von Reparationen eingeleitet zu haben. Er verweist dabei auf den so genannten Plan für Frieden und Entwicklung, der Infrastrukturmaßnahmen für Regionen mit extremer Armut vorsieht. So wird zum Beispiel eine Straße zwischen der Provinzhauptstadt Ayacucho und dem Tropendorf San Francisco gebaut, in einer Region, die besonders unter dem Krieg litt. Doch das nahe gelegene Dorf Lucanamarca, in dem der Leuchtende Pfad 1983 62 Einwohner massakrierte, erhält keinen Centavo. Auch nicht der etwas südlicher gelegene Ort Accomarca, wo das Militär 1985 nach Vergewaltigungen und Folterungen 69 Menschen ermordete. Wahr ist vielmehr: Die Gelder des Planes für Frieden und Entwicklung fließen in Regionen mit Drogenanbau; die Regierung versucht lediglich, die Ausgaben als Reparationen zu verkaufen.
Der Präsident rühmt sich, noch mehr getan zu haben. Vor kurzem rief er eine multisektorielle Kommission auf hohem Niveau für die Umsetzung der Empfehlungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission ins Leben. Dazu Carlos Iván Degregori, Ex-Mitglied der Wahrheitskommission: „Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz: Je länger der Name eines Gremiums ist, umso wahrscheinlicher wird es untätig bleiben.“ Die Besetzung der neuen Kommission deutet darauf hin, dass Degregori Recht hat. Während fast jedes Ministerium mit einer Person präsent ist – unter anderen das Kriegsministerium –, sind die Familienangehörigen der Kriegsopfer gar nicht vertreten. Selbst Menschenrechtsorganisationen stellen nur einen einzigen Delegierten.

Ohne Kraft und Willen
Die Hoffnungen auf Reparationen, auf Behandlung von Kriegstraumata, auf Stipendien oder materielle Hilfen für hunderttausende Waisen, Verstümmelte oder Vertriebene werden sich wohl nicht erfüllen. Carlos Iván Degregori weiß warum: „Der Regierung fehlt der Wille. Sie ist nicht einmal zu symbolischen Reparationen bereit, die nichts kosten. Sie könnte Straßen nach ermordeten Personen benennen, Erinnerungsstätten auf Friedhöfen einrichten oder einen nationalen Gedenktag ausrufen. Nichts dergleichen geschieht!“ Dabei wäre es vermutlich nicht einmal schwer, an internationale Gelder zu gelangen. „Die Regierung könnte sagen: Wir legen 50 Millionen Dollar auf den Tisch,“ schlägt Degregori vor. „Mit diesem Geld würde sie bei internationalen Gremien mit Sicherheit größere Beträge loseisen. Selbst Gremien wie die Weltbank oder die Interamerikanische Entwicklungsbank haben signalisiert, dass sie etwas zuschießen würden.“
Die Regierung schiebt die Verantwortung auf andere. An die Armee wurde der Auftrag weitergegeben, sie solle sich selbst reformieren. Miguel Jugo, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Aprodeh (Asociación Pro Derechos Humanos), ahnt, was dabei herauskommt: „Die Generäle bestreiten die Verbrechen der Armee und sind nicht wirklich davon überzeugt, dass sich etwas ändern muss. Sie bestehen auf allgemeiner Wehrpflicht und wollen uns weismachen, dass wir uns bewaffnen müssen, weil wir von Chile bedroht werden.“ Jedenfalls haben Armeesprecher unmissverständlich klar gemacht, dass Soldaten nicht vor Zivilgerichte, sondern vor Militärtribunale gehören, egal welcher Verbrechen sie sich schuldig gemacht haben. Eine schon länger in Angriff genommene Polizeireform stagniert ebenfalls. Zwar müssen die PolizistInnen in ihrer Ausbildung neuerdings Menschenrechtskurse belegen, doch Miguel Jugo urteilt insgesamt: „Es geht nur mit bleiernen Füßen voran. Eine so schwache Regierung wie diese hat nicht die Kraft zu einer wirklichen Reform.“

Aufstieg eines Mörders
Aber Regierung und Armee werden in ihrer Untätigkeit noch von einer Institution übertroffen: der Staatsanwaltschaft. Die Wahrheitskommission übergab ihr insgesamt 70 Fälle von Kriegsverbrechen. Nur beschäftigten die Staatsanwälte sich gar nicht erst damit. Stattdessen schickten sie die Akten an ihre Provinzfilialen in Ayacucho und Junin weiter, wo sie nun verstauben. Ganze zwei Fälle, in denen die Beschuldigten zufällig keine Militärs, sondern Polizisten sind, wurden aufgenommen. Beispielhaft für die Haltung der Justiz ist der Fall des ehemaligen Leutnants Telmo Hurtado, der sich für die Vergewaltigungen und das Massaker von Accomarca zu verantworten hat. Die Beweise sind in diesem Fall so eindeutig, dass kurz nach der Tat sogar ein Militärgericht aktiv wurde. Hurtado verbrachte zwei Jahre in einem Armeegefängnis mit Pool und Tennisplatz und wurde nach Ablauf seiner Strafe zum Hauptmann befördert. Die Staatsanwaltschaft argumentiert nun, Hurtado sei für die ihm zu Last gelegten 69 Morde bereits verurteilt worden und könne deshalb nicht erneut vor Gericht gestellt werden.
Die Mörder in Uniform werden vorerst davon kommen. Der einzige Hoffnungsschimmer: Die Organisationen der Familienangehörigen reichten das Material über einige der schlimmsten Armeeverbrechen an die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) in Washington weiter. Diese könnte die peruanische Justiz anweisen, doch noch tätig zu werden. Für das Versagen der Staatsanwaltschaft trägt die Regierung einmal mehr Mitverantwortung. Die Wahrheitskommission hatte die Bildung einer Spezialabteilung in der Justiz angeregt, die sich mit dem Thema der Kriegsverbrechen befassen sollte. Vergeblich.

Die Ignoranz der
PolitikerInnen
Die parlamentarische Opposition ist nicht besser als die Regierung. Das ist kein Wunder, denn fast alle großen Parteien waren in die Kriegsverbrechen verstrickt. Da ist die Acción Popular, deren Gründer Fernando Belaúnde zwischen 1980 und 1985 die Amtsgeschäfte im Präsidentenpalast führte, während einer Zeit, in der die Armee die grausamsten Massaker beging. Doch ehemalige Minister dieser Regierung, darunter der voraussichtliche Präsidentschaftskandidat Valentín Paniagua, bestritten dies während einer Anhörung vehement. Da ist ferner die sozialdemokratische APRA, die zwischen 1985 und 1990 die Regierungsverantwortung trug. Auch ihr Vorsitzender, der damalige Präsident Alan García, verharmlost die Morde der Armee. Aus gutem Grund, denn ihm selbst klebt Blut an den Händen: 1989 gratulierte er in Los Molinos vor surrenden Kameras der Armee dazu, 58 MRTA Guerilleros erschossen zu haben, und stieg anschließend über deren Leichen. Später sagten Überlebende aus, dass einige der RebellInnen sich zuvor ergeben hatten. Außerdem ordnete García, der als aussichtsreicher Kandidat für die Wahlen im Jahr 2006 gilt, möglicherweise selbst die Ermordung von 260 Gefangenen des Leuchtenden Pfads in den Haftanstalten El Frontón und Lurigancho im Jahre 1986 an.
„Peru liegt irgendwo zwischen Guatemala und Argentinien,“ sagt Carlos Iván Degregori. Aber das stimmt nur in geografischer Hinsicht. So wie Degregori es meint, ist es mehr Hoffnung als Wahrheit. Denn der ehemalige Kommissionär weiß natürlich, dass sich in Argentinien bei der Aufarbeitung der Verbrechen während der Militärdiktatur etwas bewegt. In Peru ist dagegen nicht zu erkennen, dass die Uhren anders laufen als in Guatemala, wo sich ebenfalls eine Wahrheitskommission bildete, aber Massenmörder wie Efraín Rios Montt sogar als Parlamentspräsident oder als Präsidentschaftskandidat zugelassen werden. Degregori zeigt sich dennoch gedämpft optimistisch: „Wir haben hier zwar keine Mütter vom Plaza de Mayo, aber in den Provinzen, dort wo der Krieg stattfand, organisieren sich die Menschen. Ich kann gar nicht so viele Einladungen annehmen, wie ich bekomme, um über die Arbeit der Wahrheitskommission zu informieren. Vielleicht braucht die Aufarbeitung noch ein wenig Zeit.“
Leider nur reicht die unheimliche Allianz der WahrheitsfälscherInnen von der Armee und den großen Parteien bis in die Medien. So inszenierten Fernsehen, Funk und Presse im Juli letzten Jahres, kurz bevor die Wahrheitskommission ihren Bericht abgab, eine wochenlange Kampagne über eine angebliche Rückkehr des Leuchtenden Pfads. In Wirklichkeit hatten sich ein paar hundert Guerrilleros schon Anfang der 90er Jahre in die unzugänglichen Regionen um den Rio Ene zurückgezogen. Dabei ist es geblieben und nach dem Urteil Degregoris ist der Leuchtende Pfad heute „äußerst schwach“. Die Kampagne hatte trotzdem Erfolg: Eine von der Regierung anschließend verfügte Aufstockung des Militäretats wurde Meinungsumfragen zufolge von der Mehrheit der Bevölkerung begrüßt. Die Wahrheitskommission war in der Defensive. Das ist sie bis heute.

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