50 Jahre LN | Editorial | Jubiläumsnummer 588 - Juni 2023 | LN | Nummer 308 - Februar 2000

Die Hauptstadt stellt sich vor

Am Sonntag, den 19. Dezember führten ca. 600 Polizeibeamte, einige von ihnen vermummt, im gesamten Gebäudekomplex des Mehringhofs eine brachiale Hausdurchsuchung durch. Als Vorwand dienten die Aussagen des Kronzeugen der Bundesanwaltschaft, Tarek M.. Dieser behauptete, daß sich im Mehringhof ein „Lager für Sprengstoff“ und eine sogenannte „Koordinationszentrale“ der als terroristisch bezeichneten Organisation „Revolutionäre Zellen“ (RZ) befinden würde. In diesem Zusammenhang waren unmittelbar zuvor zwei im Mehringhof tätige Leute in ihren Wohnungen unter dem Vorwurf der „Mitgliedschaft“ in der genannten Organisation verhaftet worden. Sie werden von dem Kronzeugen beschuldigt, in den Jahren 1986/87 an Aktionen der RZ gegen die „imperialistische Flüchtlingspolitik“ und das „Abschiebungsregime“ teilgenommen zu haben, die inzwischen jedoch verjährt sind. Die Polizei zerstörte in dieser von ihr selbst so bezeichneten ersten Angriffswelle Schlösser und Türen des Mehringhofs im Werte von 100.000 DM, fand aber nichts.
Sie traf lediglich auf die letzten Gäste einer von der Boliviengruppe im FDCL veranstalteten Party. Diese hatte – neben Fun und guter Laune – den Zweck, Geld für die freiwillige Ausreise eines Bolivianos zu sammeln, dem schon durch die Behörden die Ausweisung angedroht worden war. Die Polizisten und die GSG 9-Beamten nahmen alle zwanzig Partygäste fest und überprüften stundenlang ihre Personalien. „Kein Anruf nach draußen war erlaubt, keine Unterhaltung untereinander, dafür gab´s aber Schläge und Beleidigungen“ (zitiert aus der Pressekonferenz vom Mehringhof am 21.12.99). Die Polizei nahm sieben Leute in Gewahrsam, nur weil ihr Aufent-haltsstatus unklar war. Bei einem von ihnen wurde sogar eine Hausdurchsuchung vorgenommen, bei der eine weitere Person mit der gleichen Begründung festgenommen wurde. Das vorläufige Ende dieser deprimierenden Geschichte: Inzwischen sind drei Bolivianos Opfer dieses „Abschiebungsregimes“ geworden, das die RZ bekämpfen wollte.
Die Bundesanwaltschaft (BAW) führte den größten Polizeieinsatz gegen den Mehringhof in dessen 20 jähriger Geschichte in einer Art und Weise durch, die in den 70er Jahren gewiß als „faschistisch“ bezeichnet worden wäre. Dabei fahndet die BAW nach dem Gespenst einer Gruppe namens „Revolutionäre Zellen“, die sich bereits um die Jahreswende 1991/92 als politisch übergreifender Zusamenhang auflöste. Trotzdem verhaftet die BAW unter anderem einen Mitarbeiter aus der Flüchtlingsunterstützungsarbeit: Harald von der “Forschungsstelle Flucht und Migration” und drei Bolivianos, um sie – als „illegal“ deklariert – abzuschieben.
So oder so: Die Bundesanwaltschaft versucht nicht nur, den Mehringhof in der Öffentlichkeit mit fantasierten Bombenbauspekulationen als eine Art „Terrorzentrale“ zu stigmatisieren. Ablauf und Form der zerstörungswütigen Durchsuchungsaktion machen deutlich, daß in der neuen Hauptstadt kein Platz für die ist, die „für ein breites Spektrum linker Politik, von linksliberal bis linksradikal (einstehen), das nicht in einen Begriff (zu fassen ist)“ (ebd.).
Dieses Spektrum läuft nun in den eindimensionalen Verhältnissen des globalen Kapitalismus Gefahr, inhaftiert oder außer Landes gewiesen zu werden.
Die RZ werden ihre Gründe gehabt haben, die Form ihres Kampfes zu beenden und ihre Orga-nsiation aufzulösen; bestimmt lag es nicht daran, daß das Thema Flüchtlingspolitik keinen Grund mehr zum Kämpfen gegeben hätte.
Das Vorgehen der BAW, angeblich gegen die RZ, hat die Abschiebung von drei Bolivianos zur Folge. Das ergibt einen Zusammenhang, den man mit Zynismus „ironisch“ nennen könnte.
Die LN-Redaktion schließt sich der Forderung nach Freilassung der von der Bundesanwaltschaft am 19.12.1999 Inhaftierten an und bittet um Spenden auf das Spendenkonto.
Stichwort: Freilassung: Martin Poell / Postbank Berlin, BLZ 100 100 10 / Konto-Nr. 2705-104 Weitere Informationen gibt es im Internet unter: www.freilassung.de

Alte Texte neu gelesen – dieses Editorial erschien in LN 308 (Februar 2000) und wurde in der Jubiläumsausgabe 588 zu 50 Jahren LN erneut abgedruckt.

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