Ecuador | Nummer 599 - Mai 2024

Bestandsaufnahme eines lebenden Toten

Ecuador steckt in einer Sackgasse fest

Laut einer im Jahr 2023 veröffentlichten Studie der Corporación Latinobarómetro glauben nur noch 49 Prozent der Lateinamerikaner*innen an die Demokratie. 2010 waren es noch 67 Prozent. Die Korruption, die Lateinamerika plagt, ist für diesen Vertrauensverlust in erster Linie verantwortlich. Ecuador ist dafür ein Beispiel – Ein Meinungsartikel zum Thema.

Von Sebastián Ortiz, Quito (Übersetzung: Tininiska Zanger Montoya)

Ecuador scheint in eine Sackgasse geraten zu sein. Wir Ecuatorianer*innen haben uns daran gewöhnt, inmitten eines großen Korruptionsgebirges zu leben, das verhindert, dass die Sonnenstrahlen der Demokratie hindurchscheinen können. Die Korruption ist allgegenwärtig und erscheint uns inzwischen als „Normalität“. In den Nachrichten, die uns täglich neue Skandale präsentieren, wird das besonders deutlich: Bestechung, überhöhte Preise, Veruntreuungen von Geldern sowie die Aufteilung von Ministerien und Krankenhäusern.

In den letzten sechs Monaten ist in Ecuador sehr viel passiert: Gewaltwellen, die Erhöhung der Mehrwertsteuer, illegaler Bergbau, Stromausfälle, ein Referendum, die Kürzung des Gesundheits- und Bildungsbudgets sowie diplomatische Konflikte wie etwa die Stürmung der mexikanischen Botschaft in Quito. Seit mehr als zehn Jahren hat es in Ecuador keinen Fortschritt gegeben. Im Gegenteil, wir haben einen wirtschaftlichen, arbeitsrechtlichen, sozialen und politischen Rückschritt erlebt. Unsere „neue Normalität“ ist dieser Rückschritt bei unseren Rechten.

Seit dem Amtsantritt Ende November 2023 des derzeitigen Präsidenten Ecuadors, Daniel Noboa, stand Ecuador mehrfach im Fokus der medialen Aufmerksamkeit. Im Wesentlichen sind es jedoch drei Ereignisse, die für die soziopolitische Entwicklung des Landes von entscheidender Bedeutung sein könnten: die Welle der Gewalt, die Stürmung der mexikanischen Botschaft und das kürzlich durchgeführte Verfassungsreferendum zur Verschärfung von Sicherheitsmaßnahmen. Die Sicherheit ist aktuell das beherrschende Thema im Land. Ecuador hat sich zu einem der gewalttätigsten Länder der Region entwickelt. Im Jahr 2023 gab es 40 Morde pro 100.000 Einwohner*in. In der jüngsten öffentlichen Erklärung der ecuadorianischen Innenministerin Mónica Palencia heißt es dazu: „Die Sicherheitslage (im Jahr 2024, Anm. d. Übers.) hat sich so sehr verbessert, dass wir in der vergangenen Woche (vom 15. zum 21. April) nur 99 Tote zu beklagen hatten.“ Beunruhigend an dieser Aussage ist ihre Überzeugung, dass der „Plan Fénix“ des Präsidenten Wirkung zeigt.

Am 22. April wurden zwei zerstückelte Leichen in einem Auto nördlich von Quito gefunden. Die ecuadorianische Generalstaatsanwältin Diana Salazar untersucht einen Zusammenhang mit Morddrohungen gegen sich, denen sie sich immer wieder ausgesetzt sieht. In Verbindung damit könnte stehen, dass in den frühen Morgen­stunden desselben Tages bekannt wurde, dass Colón Pico, alias „Captain Pico“, festgenommen und den Behörden übergeben worden war. Der Anführer der kriminellen Lobos-Bande war am 8. Januar, ein Tag bevor Präsident Daniel Noboa den „internen bewaffneten Konflikt“ ausrief, aus dem Gefängnis von Riobamba geflohen.

Diana Salazar steht im Zentrum der Auseinandersetzung, weil sie für eine Untersuchung namens „Metastasis“ verantwortlich ist. Diese wurde nach dem Tod des mächtigen Drogenbosses Leandro Norero im Oktober 2022 eingeleitet. Dabei handelt es sich um eine umfassende Untersuchung über geheime Absprachen zwischen Drogenhändler*innen und Regierungsbeamt*innen. Diese hat, so die Generalstaatsanwältin, ein Korruptionsnetzwerk aufgedeckt, das aus Richter*innen, Politiker*innen, Polizist*innen, Militärs und Mafiabossen besteht. Der ecuadorianische Staat steckt also tief im Sumpf der Korruption.

Doch damit nicht genug: Inmitten der gewalttätigen Welle von Morden, Entführungen und Verschwindenlassen in Ecuador, die kein Ende zu nehmen scheint, kam der Präsident auf die Idee, zusätzlich noch einen internationalen Konflikt anzuzetteln.


Polizei erhält den Befehl, die mexikanische Botschaft zu stürmen

Bei einer Pressekonferenz am 4. April gab der derzeitige Präsident Mexikos, Manuel López Obrador, seinen Landsleuten ein Beispiel dafür, wie Berichterstattung eigentlich nicht gehandhabt werden sollte, indem er eine Geschichte aufbauschte und vereinfachte. Er sprach über die Ermordung des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio während des vergangenen Wahlkampfs in Ecuador. „Die Wahlen in Ecuador verliefen auf sehr seltsame Weise. Die Kandidatin der progressiven Kräfte hatte einen Vorsprung von etwa zehn Prozentpunkten. Dann wurde plötzlich ein Kandidat (Fernando Villavicencio) ermordet, der sich negativ über die führende Kandidatin geäußert hatte. Und diese (Luisa González, die Kandidatin des Correismo), fällt in den Umfragen. Und der Kandidat, der in den Umfragen an zweiter Stelle lag (Daniel Noboa), steigt auf, aber die Kandidatin, die nach diesem Mord verdächtigt wird, setzt ihren Wahlkampf unter, wie ich meine, sehr schwierigen Umständen fort.“ Der ecuadorianische Präsident reagierte prompt auf Lopez Obradors Äußerungen. Er erklärte die mexikanische Botschafterin in Ecuador, Raquel Serur, zur Persona non grata und gab ihr 72 Stunden Zeit, das Land zu verlassen.

In der Nacht des 5. April kam es dann vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zu einem in der Geschichte der Region beispiellosen Ereignis. Daniel Noboa gab der Polizei den Befehl, die mexikanische Botschaft zu stürmen, um Jorge Glas festzunehmen. Glas hatte sich seit Dezember 2023 in der mexikanischen Botschaft aufgehalten und Asyl beantragt. Ihm wird Veruntreuung von Geldern während seiner Amtszeit als Vizepräsident von 2013 bis 2017 vorgeworfen. Dafür wurde er zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Nach vier Jahren Haft war Glas im November 2022 vorzeitig gegen Auflagen freigelassen worden.

Bei der Festnahme von Glas handelt es sich um einen klaren Verstoß gegen das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen, das Ecuador unterzeichnet hat. Die Regierungschefs mehrerer Länder verurteilten den Sturm auf die Botschaft. Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) veröffentlichte ein Statement. Zahlreiche internationale politische Organisationen und Persönlichkeiten fordern Sanktionen gegen Ecuador. Ein Präzedenzfall soll vermieden werden, denn er könnte schwerwiegende Folgen auf regionaler Ebene haben. Nicht einmal die schlimmsten lateinamerikanischen Diktaturen haben mit dieser diplomatischen Konvention gebrochen.

Warum hat sich Daniel Noboa zu diesem willkürlichen Schritt entschlossen? Die Antwort darauf ist nicht einfach, aber es gibt sie. Am 21. April 2024 wurde in Ecuador ein Referendum zur Verschärfung der Maßnahmen für öffentliche Sicherheit durchgeführt, auf das er seit Beginn seiner Amtszeit drängt. Wäre Jorge Glas nach Mexiko geflohen, hätte Noboa an Popularität einbüßen und das berühmte Referendum verlieren können. Die Regierung konzentrierte sich bei der Befragung am 21. April auf zwei Themen im Bereich Sicherheit und Wirtschaft: Arbeitszeit und internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Nach Ansicht verschiedener Analyst*innen sollte das genau denen dienen, die im Mittelpunkt der Interessen des Präsidenten und der Machtgruppen stehen, mit denen er regiert: Geschäftsleute und Oligarch*innen.

Die zu diesem Komplex gehörige Frage E lautete: „Sind Sie damit einverstanden, die Verfassung der Republik zu ändern und das Arbeitsgesetzbuch zu reformieren, um befristete und Zeitarbeitsverträge zu ermöglichen, wenn sie zum ersten Mal zwischen demselben Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgeschlossen werden, ohne die erworbenen Rechte der Arbeitnehmer gemäß Anhang 4 zu beeinträchtigen?“ Dies wurde zu einem Hauptpunkt in einer von Regierungsgegner*innen angestoßenen Debatte, dass Noboa einen geplanten Rückschritt bei den Arbeitsrechten plane.

Die Ironie der Situation besteht darin, dass Daniel Noboa mitten im Präsidentschaftswahlkampf im Juli 2023 in einem Video noch mit Überzeugung verkündet hatte: „Wir können nichts an den Arbeitsrechten ändern, denn das wäre ein Rückschritt.“ Es war absehbar, dass die Opposition diese Vorlage aufgreifen würde. Noboa hatte sich mit seiner Demagogie selbst ein Bein gestellt.


Im Referendum wurden wichtige Fragen mit „Nein“ beantwortet

Die für Noboa ebenfalls bedeutsame Referendumsfrage D lautete: „Stimmen Sie zu, dass der ecuadorianische Staat die internationale Schiedsgerichtsbarkeit als Methode zur Beilegung von Investitions-, Vertrags- oder Handelsstreitigkeiten anerkennen sollte?“ Diese Frage war nach Ansicht von Expert*innen für Noboa und seine Machtgruppen von Interesse, da im Falle eines „Ja” zu dieser Frage nur seine Familienmitglieder und seine multinationalen Unternehmen davon profitieren würden. Denn allgemein bekannt ist, dass die Noboa-Gruppe die Álvaro Noboa, dem Vater von Daniel Noboa gehört, nach Angaben des damaligen Direktors der ecuadorianischen Steuerbehörde SRI, Francisco Briones, dem Staat rund 88 Millionen Dollar an Steuern schuldet.

Diese beiden Fragen des Referendums, die für die Regierung Noboa von zentraler Wichtigkeit waren, wurden allerdings mit einem klaren „Nein“ beantwortet – die restlichen neun Fragen dagegen mit „ja“. Damit sind die eigentlichen Absichten des Präsidenten gescheitert. Gleichzeitig zwingt ihn das Referendum, seine Versprechen zur Verbesserung der Sicherheit in einem von Gewalt geprägten Land einzulösen. Andernfalls wird er den Unmut der Bevölkerung auf sich ziehen.

Angesichts der Unsicherheit, die Ecuador plagt, war es zu erwarten, dass bei den neun Fragen zur Sicherheit das „Ja“ überwiegen würde. Die Menschen leben in Angst. Ohne zu zögern haben sie dafür gestimmt, dass die Streitkräfte, die schon vor dem Referendum auf den Straßen patrouillierten, dies auch weiterhin tun sollen, nun aber unter dem Schutz des Gesetzes.

Diese Verfassungsänderung bekämpft nicht nur die Unsicherheit im Land. Die Streitkräfte erhalten auch die Legitimation, die Nationalpolizei bei „inneren Unruhen“, also bei Volksaufständen, zu unterstützen. Dies bedeutet, dass jeder Versuch einer Demonstration oder eines Protestes, der aus Unzufriedenheit mit der Politik der gegenwärtigen Regierung resultiert, als Bedrohung angesehen werden kann.

Die Serie unglücklicher Ereignisse ist noch nicht lange her und entwickelt sich weiter. Die Bevölkerung wartet immer noch auf die internationalen Sanktionen nach der Stürmung der Botschaft. Und wir müssen noch lange warten, bis die neuen Gesetze in Kraft treten und wir sehen, ob sie wirklich so funktionieren, wie der Präsident es sich vorstellt oder uns glauben machen will. Wir haben also noch einen sehr langen Weg vor uns, was die Sicherheitsfrage betrifft, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung nachts wachhält.
Wobei die Nacht auch noch eine weitere Herausforderung bereithält: Ich habe diesen Text bei Kerzenlicht geschrieben, denn die Stromausfälle lassen uns keine Ruhe.

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