Ecuador | Nummer 594 - Dezember 2023

„Wir müssen die Welt yasunisieren!”

Interview mit dem ecuadorianischen Wirtschaftswissenschaftler und Aktivisten Alberto Acosta

Am 20. August dieses Jahres haben sich die Ecuadorianer*innen in einem Referendum mehrheitlich für das Ende der Erdölförderung im Yasuní-Nationalpark ausgesprochen. Über das Ergebnis des Referendums, die daraus resultierenden finanzpolitischen Maßnahmen und dessen Bedeutung für die internationale Gemeinschaft sprachen die LN mit dem Wirtschaftswissenschaftler und Aktivisten Alberto Acosta.

Interview: Valeria Bajaña Bilbao & Anika Pinz

Bei den Präsidentschaftswahlen in Ecuador am 15. Oktober siegte der Mitte-Rechts-Kandidat Daniel Noboa mit einer klaren Mehrheit. Wie äußerte sich Noboa zum Volksentscheid vom 20. August und was bedeutet seine Position für dessen weitere Umsetzung?
Das Ergebnis vom 20. August war ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Ecuadorianer Umweltfragen sehr ernst nehmen. Mit einer Zustimmung von 60 Prozent für das Ende der Erdölförderung im Yasuní-Nationalpark und 70 Prozent für den Schutz des Naturreservats Chocó Andino und gegen Bergbau stimmten mehr Menschen als für beide Kandidaten der letzten Runde der Präsidentschaftswahlen zusammen. Während des Wahlkampfes hat sich Noboa gegen die Erdölförderung in Yasuní ausgesprochen. Er hat sich jedoch nicht zum Schutz der Natur oder der in freiwilliger Isolation lebenden Bevölkerung bekannt. Er hält die Erdölförderung ganz einfach für ein schlechtes Geschäft. Als Alternative zum Ende der Erdölförderung nannte er den groß angelegten Bergbau.

Welche rechtlichen Mittel stehen zur Verfügung, um das Ergebnis des Referendums durchzu-setzen, falls die Regierung ihrer Pflicht nicht nachkommt?
Die Anwälte der Initiative Yasunidos haben bereits eine Anfrage beim Verfassungsgericht eingereicht und dieses gebeten zu überprüfen, ob der Wille der ecuadorianischen Bevölkerung respektiert wird. Eine zivilgesellschaftliche Beobachtungs- und Ombudsstelle ist in Planung, um die Entscheidungen der Regierung und der Nationalversammlung zu überprüfen. Dieser sollen Vertreter verschiedener zivilgesellschaftlicher Gruppen, aber auch Fachleute im Bereich der Erdölförderung angehören.

Welche Rolle werden die Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in diesem Prozess spielen?
Die Zivilgesellschaft muss Druck auf den neu gewählten Präsidenten Noboa ausüben, um sicherzustellen, dass der Wille der Bevölkerung umgesetzt wird. Wir müssen uns durch das komplexe Gefüge der Rechtsprechung bewegen und auf die Einhaltung der Verfassung drängen. Gegebenenfalls müssen wir auf die Straßen zurückkehren, um zu protestieren. In einem Rechtsstaat sollte der Wille der Bevölkerung umgesetzt werden. Wie das geschieht, ist eine andere Frage, aber der Wille muss befolgt werden.

Wie viel Geld geht dem ecuadorianischen Staat durch das Ende der Ölförderung im Yasuní-Nationalpark verloren und wodurch können diese fehlenden Einnahmen kompensiert werden?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Zunächst müssen wir sehen, wie viel der ecuadorianische Staat wirklich an der Ausbeutung des Yasuní gewinnen würde. Die Zahl schwankt zwischen 300 und 400 Millionen Dollar pro Jahr. Das entspricht einem Prozent des Staatshaushalts. Das ist nichts.
Das Ganze ist eine Frage des richtigen Umgangs mit den Finanzen. Die Steuerschulden der 500 größten Schuldner belaufen sich in Ecuador auf zwei Milliarden Dollar. Die 25 größten Schuldner haben Rückstände in Höhe von 734 Millionen Dollar. Das ist nur ein erster Überblick. Dann gibt es eine Reihe von Steuervergünstigungen und Entschädigungen, die im Jahr 2021 20 Prozent des Staatshaushaltes ausmachen, 6,3 Milliarden Dollar. Das Problem dabei ist, dass der Großteil dieser Vergünstigungen an die reichsten Wirtschaftsgruppen geht. Das Geld ist also da. Es geht darum, es anders zu verteilen und von einem Grundprinzip auszugehen: Derjenige, der am meisten hat, muss auch den größten Steuerbeitrag leisten. Aber nehmen wir an, wir lösen das Geldproblem. Was wir tun müssen, ist, die Produktions- und Verbrauchsmuster zu ändern. Wir brauchen eine post-extraktivistische Gesellschaft bzw. Wirtschaft.

Wird Ecuador in Hinblick auf die Umsetzung des Referendums dem Vorbildcharakter gerecht werden können, über den in den vergangenen Wochen so viel gesprochen wurde?
Das Ergebnis des Volksentscheids steht im Einklang mit den Kämpfen in vielen anderen Ländern. Es ist sehr wichtig, dass dieses Ergebnis befolgt wird. Aber wir müssen noch weiter gehen. Das Amazonasgebiet darf nicht länger ausgebeutet werden, und die Forderungen der Bewohner dieser Region müssen gehört werden. Das Beispiel Yasuní muss zu einem Werkzeug für breitere und tiefgreifendere Prozesse werden. Wir müssen die Welt „yasunisieren“. Dabei geht es nicht nur um Fragen der Nachhaltigkeit. Soziale Gerechtigkeit und ökologische Gerechtigkeit gehen Hand in Hand. Ohne soziale Gerechtigkeit kann es keine Gerechtigkeit für die Umwelt geben und umgekehrt. Für diesen Wandel ist eine enorme internationale Solidarität unverzichtbar. Wir müssen anfangen, Netzwerke des Widerstands zu knüpfen. Wir brauchen eine Art ökologische Internationale, die uns dabei hilft, den Aufbau von Alternativen zu stärken.

Wie kann eine solche ökologische Internationale dazu beitragen, den Volksentscheid umzusetzen und die vorgeschlagenen Alternativen zu fördern?
Wir brauchen diese ökologische Internationale erstens, um die Menschen zu unterstützen, die seit langem organisiert sind und für die Erfüllung des Referendums kämpfen, und zweitens, um über eine neue Alternative nachzudenken. Eine Initiative, bei der der Grundsatz gilt, dass diese Art von Prozess gemeinsam mit den Ländern durchgeführt wird, die den größten Anteil an der Umweltverschmutzung haben. Auf der Grundlage des Prinzips der gemeinsamen, aber differenzierten Mitverantwortung. Dann müssen wir sehen, wie der Rückbau der Ölinfrastruktur finanziert werden kann. Woher bekommen wir die Mittel, um zu überwachen, dass diese Aufgabe auch tatsächlich durchgeführt wird? Woher bekommen wir internationale Unterstützung und Experten, die uns bei diesen Prozessen begleiten? Nicht nur Techniker, die die Infrastruktur zurückbauen, sondern auch Experten für Wiederaufforstung und für Biodiversität, die die Prozesse in Ecuador unterstützen? Wir müssen anfangen, weltweit Netzwerke des Widerstands zu weben.

Welchen Herausforderungen wird sich der neu gewählte Präsident Daniel Noboa neben der Umsetzung des Volksentscheids stellen müssen?
Wir erleben in Ecuador gerade eine sehr komplexe Situation. Ecuador ist die einzige Wirtschaft in Südamerika, die ihr Niveau von vor der Pandemie noch nicht wieder erreicht hat und in der die Armut weiter zunimmt. Es ist eine Wirtschaft, in der fünf Millionen Menschen mit weniger als drei Dollar pro Tag leben. Von extremer Armut sind fast zwei Millionen Menschen betroffen, die mit weniger als einem Dollar und 70 Cent pro Tag auskommen müssen. Währenddessen gibt es eine erschütternde Konzentration von Reichtum. Sie nimmt mitten in der Krise weiter zu. Die Reichen sind noch reicher geworden. Außerdem haben wir es mit einer Situation extremer Gewalt zu tun. Ecuador entwickelt sich zu einem der gewalttätigsten Länder Lateinamerikas und der Welt. Die Frage der sozialen Sicherheit und die Reaktion auf die Unsicherheit ist zentral, dieses Problem wird weder durch Populismus noch durch Militarisierung der Straßen gelöst. Deswegen ist es wichtig, dass die sozialen Bewegungen klare Forderungen stellen, die als Basis für weitere Kämpfe dienen. Und wir werden sehen müssen, ob diese sozialen Bewegungen die nötigen Kapazitäten haben, für die Wahlen 2025 einen Kandidaten oder eine Kandidatin aufzustellen.

Wie kann sichergestellt werden, dass das Ergebnis des Volksentscheids inmitten all der anderen Probleme nicht in Vergessenheit gerät?
Es ist notwendig, klare Forderungen zu stellen, wie die Erfüllung des Referendums vom 20. August. In der jetzigen Konjunktur müssen die sozialen Bewegungen, das Kollektiv Yasunidos, die verschiedenen Umweltgruppen und indigenen Bewegungen ihre Einheit bewahren. Sie müssen wachsam bleiben, da es bisher keine klaren Signale gibt, die zeigen, dass das Ergebnis des Referendums respektiert wird.

Kurz gesagt, die Situation in Ecuador ist sehr kompliziert…
Die Präsidentschaftswahlen vom 15. Oktober waren vorgezogen. In einem Jahr befinden wir uns schon wieder im Wahlkampf. Die Probleme sind zu komplex, um sie in 18 Monaten zu lösen. Die neue Regierung wird kurzfristige Maßnahmen ergreifen, ohne die zugrunde liegenden Probleme zu lösen. Über die Wahlen hinaus müssen wir uns darum bemühen, eine Gegenmacht von unten aufzubauen. Dazu braucht es solide Grundlagen, die es uns ermöglichen, von den Machthabern Veränderungen und Umgestaltungen zu fordern. Die sozialen Bewegungen, Indigene, Umweltbewegungen, Gewerkschaften und feministische Bewegungen müssen eine breite Front bilden, um sich der extraktivistischen, kolonialen, patriarchalen und der neoliberalen Politik entgegenzustellen.

ALBERTO ACOSTA

war von Januar bis Juni 2007 Minister für Energie und Bergbau im Kabinett von Rafael Correa._Von 2007 bis 2008 war er Präsident der_verfassungs-gebenden Versammlung und trug maßgeblich zur Verankerung der Rechte der Natur in die ecuadorianische Verfassung bei. Acosta_ist Ökonom, Nachhaltigkeitstheoretiker und Aktivist.

Foto: privat

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren