Brasilien | Nummer 250 - April 1995

Brasilien – Diagnose einer Krise

– oder wie auch der Rezensent selbige bekam.

Der bekannte brasilianische Anthropologe Roberto da Matta stellt seinen jüngsten Essay über Brasilien ein Motto von Tom Jobim voran: “Brasilien ist nichts für An­fänger”. Manfred Wöhlcke ist alles andere als ein Anfänger. Sein Versuch, die Krise (was auch sonst!?) Brasiliens AnfängerInnen verständlich zu machen, ist sicherlich löblich, das Ergebnis leider mehr als ärgerlich. Das Buch ist ein Beispiel dafür, wie drastisch auch Nicht-AnfängerInnen (oder “einer der hervorragenden deutschen Brasilien Experten”, wie es im Klappentext heißt) daneben hauen können.

Thomas W. Fatheuer

Natürlich ist es nicht einfach, auf 150 Seiten die komplexe Si­tuation des ewigen “Schwel­len­landes” Brasilien zu analysieren. Das Buch bietet eine Reihe von wichtigen Informatio­nen, Stati­stiken und Daten. Wöhlcke spricht viele Faktoren an, in der Beschreibung der so­zialen Si­tuation und der politi­schen Kul­tur des Landes ist ihm weitge­hend zuzustimmen. Leider ent­wickelt sich Wöhlcke, der in der Vergangenheit viel besseres zu Brasilien produziert hat, zu ei­nem Prediger seiner eigenen Überzeugungen. Diese werten den Gehalt der “Diagnose” radi­kal ab. Ohne auf alle Einzelhei­ten des Buches einzugehen, will ich drei Punkte herausgreifen, in denen Wöhlcke mehr als frag­würdige Auffassungen vorträgt.
Wöhlcke – der Rufer in der Wüste?
1. Wöhlcke sieht in der de­mographischen Entwicklung Brasiliens einen Schlüssel für das Verständnis der Entwick­lungsprobleme des Landes – und sich als Rufer in der Wüste. “Die Problematik des Bevölkerungs­wachstums wird in Brasilien nicht angemessen wahrgenom­men. In der öffentlichen Diskus­sion spielt sie praktisch keine Rolle, teils wird sie ignoriert, teils tabuisiert.”(S. 47) Tabubre­cher Wöhlcke weiß hingegen von der relativen Überbevölke­rung in Brasilien zu berichten: “Die Bevölkerung ist zu groß im Verhältnis zur sozio-ökonomi­schen Leistungsfähigkeit der Ge­sellschaft, das heißt, die Art der Raum- und Ressourcennutzung verhindert eine befriedigende Versorgung der gesamten Be­völkerung”. (S.47/49) Dies treffe eben auf Brasilien zu. Warum ist aber daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß nicht die sozio-ökonomische Leistungsfähigkeit wachsen sondern die Bevölke­rung sich vermindern solle? Wöhlcke setzt weitgehend dar­auf, daß der common sense seine Ausführungen schon für richtig halten werde. Sein Hauptargu­ment lautet: Die arbeitsfähige Bevölkerung wird in elf Jahren um 2,3 Millionen zunehmen, “Es erscheint völlig ausgeschlossen, daß der Arbeitsmarkt diesen Zu­wachs aufnehmen kann.” (S.49) Nun, Brasilien hat trotz Bevölke­rungswachstum zur Zeit eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten seiner Geschichte. Wöhlcke re­duziert die schwierige Entwick­lung des Arbeitsmarktes auf einen Faktor. Warum erwähnt er in diesem Zusammenhang nicht, daß nach offiziellen Schätzungen mindestens zehn Prozent aller 10- bis 17-Jährigen in den Ar­beitsmarkt integriert sind? Allein die Einhaltung aller arbeitsrecht­lichen Regelungen und die Ver­wirklichung der Schulpflicht würde schon Platz machen für den größten Teil der zukünftig in den Arbeitsmarkt Eintretenden. Aber Wöhlcke will ja nicht diffe­renzieren, sondern die “sich ab­zeichnende demographische Katastrophe” an die Wand ma­len. In diesem Kapitel sinken seine Aussagen auf das Niveau eines Propagandawerkes. Fast müßig zu erwähnen, daß Wöhl­cke die Massensterilisationen verschweigt. Erörtert wird auch nicht, wie drastisch der Rück­gang der Geburtenrate ist. Nach jüngsten Zahlen gebärt jede Frau im Durchschnitt 2,4 Kinder, nahe also der einfachen Reprodukti­onsrate. Ein Teil des von Wöhl­cke angeführten Bevölkerungs­wachstums hat gar nichts mit der Geburtenrate zu tun, sondern mit dem Anwachsen der Lebenser­wartung. Das heißt, in den näch­sten Jahren werden sich die so­zialen Probleme in Brasilien ver­schieben, es wird eine deutliche Entlastung im Bildungswesen geben, dafür eine Krise der Al­tersversorgung. Ach, es ist schon ein Kreuz, immer wieder gegen die demagogische Konstruktion der Bevölkerungsexplosion aus­gerechnet in Brasilien anzuar­gumentieren!
Die heutigen Probleme sind “hausgemacht”
2. Wöhlcke, früher selbst ein Verfechter der Depen­denztheorie, argumentiert heftig dafür, daß die heutigen Probleme im wesentlichen hausgemacht sind, also nicht auf externe Fak­toren wie Verschuldung oder in­ternationales Wirtschaftssystem zurückzuführen seien. In vielen Punkten hat Wöhlcke recht, aber hier wie im ganzen Buch ist eher die verkürzende Mischung aus Wahrheiten und Unterlassungen ärgerlich. So fehlt in diesem Zu­sammenhang gänzlich eine Analyse der multinationalen Konzerne, die in Brasilien zen­trale Wirtschaftsbereiche, bei­spielsweise die Autoindustrie, monopolisieren. Die Betonung der inneren Faktoren wiederholt sich in dem Abschnitt über Um­weltpolitik. Bei der Aufzählung der Umweltprobleme erwähnt Wöhlcke nie die internationale Verwicklung. So ist das kata­strophale Besiedlungsprogramm in Amazonien, POLONOR­OESTE, mit Weltbankgeldern fi­nanziert worden, wie auch zahl­reiche Staudammprojekte. An­statt hier die Verschränkung von nationalen und internationalen Kapital- (oder von mir aus auch Entwicklungs-) strategien zu analysieren, verfällt Wöhlcke schließlich auch noch auf die Mär, daß die Kleinbauern und -bäuerinnen die Hauptverursacher für die Abholzungen im Regen­wald seien.
Einziger Beleg für diese kühne Behauptung, die den Er­gebnissen der brasilianischen Forschung widerspricht, ist “eine Tischvorlage des Geographen G. Mertins” (Anmerkung 128). Mit kruden Halbwahrheiten auf völ­lig unzureichender Daten- und Literaturbasis wird so an einem Bild gestrickt: “Umwelt­zerstörung wird nicht durch die Weltwirt­schaft…erzwungen, sondern sie ist das Resultat einer Mischung von Nonchalance, Unwissenheit, Korruption, de­struktiver Menta­lität, unzurei­chender Umweltpo­litik und ad­ministrativer Über­forderung.” (S.98) Das Strick­muster ist im­mer dasselbe: Die Karikatur ei­ner Analyse (“durch Weltwirt­schaft erzwungen”) wird zurecht zurückgewiesen, um sich dann dem fröhlichen Bad in den (zumeist traurigen) Phänomenen zu widmen. Hier erscheint das Buch selbst als eine Mischung von Nonchalance und Unwis­senheit.
3. Das Kapitel über Zivilge­sellschaft und Entwicklung ist mehr als schwach. Wer meint, nun hier irgendetwas von den sozialen Bewegungen Brasiliens zu erfahren, wird enttäuscht. Statt von dieser für das gesell­schaftliche Leben so fundamen­talen Entwicklung der Basisbe­wegungen, der Rekonstruktion authentischer Gewerkschaften, zu erfahren, müssen die LeserIn­nen das zum Ende des Buches immer ärgerliche werdende La­mentieren ertragen: “Man beob­achtet weiterhin einen verbreite­ten Verlust bzw. einen modi­schen Verfall der Ästhetik und einen Verfall der guten Sitten.” Ja, die drohten spätestens auf dieser Seite 102 auch dem Re­zensenten abhandenzukommen. Wie die sozialen Bewegungen fehlen auch Lula und die Arbei­terpartei (PT) völlig bei der Analyse des politischen Systems. Ah nein, nicht ganz, auf S.108 können plötzlich “radikale Kräfte” – eben die PT – eine Sammlung der politischen Kräfte in der Mitte stören.
Die List mit der falschen Karte
Das Buch ist schlecht. Daß man’s noch schlechter machen kann zeigt, so vermute ich, das Lektorat. Es fügt dem Buch eine Karte bei, in der die längst nicht mehr existierenden Territorien Amapá, Rondonia und Roraima fröhliche Urstände feiern, dafür aber der 1989 eingerichtete Bun­desstaat Tocantins fehlt. Die Quelle verweist auf das Jahr 1991! Oder war es eine List? Sollte die Qualität der Karte ein Hinweis auf die Qualität des Bu­ches sein?

Manfred Wöhlcke, Brasilien Diagnose einer Krise, Becksche Reihe, München 1994

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