Brasilien – Diagnose einer Krise
– oder wie auch der Rezensent selbige bekam.
Natürlich ist es nicht einfach, auf 150 Seiten die komplexe Situation des ewigen “Schwellenlandes” Brasilien zu analysieren. Das Buch bietet eine Reihe von wichtigen Informationen, Statistiken und Daten. Wöhlcke spricht viele Faktoren an, in der Beschreibung der sozialen Situation und der politischen Kultur des Landes ist ihm weitgehend zuzustimmen. Leider entwickelt sich Wöhlcke, der in der Vergangenheit viel besseres zu Brasilien produziert hat, zu einem Prediger seiner eigenen Überzeugungen. Diese werten den Gehalt der “Diagnose” radikal ab. Ohne auf alle Einzelheiten des Buches einzugehen, will ich drei Punkte herausgreifen, in denen Wöhlcke mehr als fragwürdige Auffassungen vorträgt.
Wöhlcke – der Rufer in der Wüste?
1. Wöhlcke sieht in der demographischen Entwicklung Brasiliens einen Schlüssel für das Verständnis der Entwicklungsprobleme des Landes – und sich als Rufer in der Wüste. “Die Problematik des Bevölkerungswachstums wird in Brasilien nicht angemessen wahrgenommen. In der öffentlichen Diskussion spielt sie praktisch keine Rolle, teils wird sie ignoriert, teils tabuisiert.”(S. 47) Tabubrecher Wöhlcke weiß hingegen von der relativen Überbevölkerung in Brasilien zu berichten: “Die Bevölkerung ist zu groß im Verhältnis zur sozio-ökonomischen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft, das heißt, die Art der Raum- und Ressourcennutzung verhindert eine befriedigende Versorgung der gesamten Bevölkerung”. (S.47/49) Dies treffe eben auf Brasilien zu. Warum ist aber daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß nicht die sozio-ökonomische Leistungsfähigkeit wachsen sondern die Bevölkerung sich vermindern solle? Wöhlcke setzt weitgehend darauf, daß der common sense seine Ausführungen schon für richtig halten werde. Sein Hauptargument lautet: Die arbeitsfähige Bevölkerung wird in elf Jahren um 2,3 Millionen zunehmen, “Es erscheint völlig ausgeschlossen, daß der Arbeitsmarkt diesen Zuwachs aufnehmen kann.” (S.49) Nun, Brasilien hat trotz Bevölkerungswachstum zur Zeit eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten seiner Geschichte. Wöhlcke reduziert die schwierige Entwicklung des Arbeitsmarktes auf einen Faktor. Warum erwähnt er in diesem Zusammenhang nicht, daß nach offiziellen Schätzungen mindestens zehn Prozent aller 10- bis 17-Jährigen in den Arbeitsmarkt integriert sind? Allein die Einhaltung aller arbeitsrechtlichen Regelungen und die Verwirklichung der Schulpflicht würde schon Platz machen für den größten Teil der zukünftig in den Arbeitsmarkt Eintretenden. Aber Wöhlcke will ja nicht differenzieren, sondern die “sich abzeichnende demographische Katastrophe” an die Wand malen. In diesem Kapitel sinken seine Aussagen auf das Niveau eines Propagandawerkes. Fast müßig zu erwähnen, daß Wöhlcke die Massensterilisationen verschweigt. Erörtert wird auch nicht, wie drastisch der Rückgang der Geburtenrate ist. Nach jüngsten Zahlen gebärt jede Frau im Durchschnitt 2,4 Kinder, nahe also der einfachen Reproduktionsrate. Ein Teil des von Wöhlcke angeführten Bevölkerungswachstums hat gar nichts mit der Geburtenrate zu tun, sondern mit dem Anwachsen der Lebenserwartung. Das heißt, in den nächsten Jahren werden sich die sozialen Probleme in Brasilien verschieben, es wird eine deutliche Entlastung im Bildungswesen geben, dafür eine Krise der Altersversorgung. Ach, es ist schon ein Kreuz, immer wieder gegen die demagogische Konstruktion der Bevölkerungsexplosion ausgerechnet in Brasilien anzuargumentieren!
Die heutigen Probleme sind “hausgemacht”
2. Wöhlcke, früher selbst ein Verfechter der Dependenztheorie, argumentiert heftig dafür, daß die heutigen Probleme im wesentlichen hausgemacht sind, also nicht auf externe Faktoren wie Verschuldung oder internationales Wirtschaftssystem zurückzuführen seien. In vielen Punkten hat Wöhlcke recht, aber hier wie im ganzen Buch ist eher die verkürzende Mischung aus Wahrheiten und Unterlassungen ärgerlich. So fehlt in diesem Zusammenhang gänzlich eine Analyse der multinationalen Konzerne, die in Brasilien zentrale Wirtschaftsbereiche, beispielsweise die Autoindustrie, monopolisieren. Die Betonung der inneren Faktoren wiederholt sich in dem Abschnitt über Umweltpolitik. Bei der Aufzählung der Umweltprobleme erwähnt Wöhlcke nie die internationale Verwicklung. So ist das katastrophale Besiedlungsprogramm in Amazonien, POLONOROESTE, mit Weltbankgeldern finanziert worden, wie auch zahlreiche Staudammprojekte. Anstatt hier die Verschränkung von nationalen und internationalen Kapital- (oder von mir aus auch Entwicklungs-) strategien zu analysieren, verfällt Wöhlcke schließlich auch noch auf die Mär, daß die Kleinbauern und -bäuerinnen die Hauptverursacher für die Abholzungen im Regenwald seien.
Einziger Beleg für diese kühne Behauptung, die den Ergebnissen der brasilianischen Forschung widerspricht, ist “eine Tischvorlage des Geographen G. Mertins” (Anmerkung 128). Mit kruden Halbwahrheiten auf völlig unzureichender Daten- und Literaturbasis wird so an einem Bild gestrickt: “Umweltzerstörung wird nicht durch die Weltwirtschaft…erzwungen, sondern sie ist das Resultat einer Mischung von Nonchalance, Unwissenheit, Korruption, destruktiver Mentalität, unzureichender Umweltpolitik und administrativer Überforderung.” (S.98) Das Strickmuster ist immer dasselbe: Die Karikatur einer Analyse (“durch Weltwirtschaft erzwungen”) wird zurecht zurückgewiesen, um sich dann dem fröhlichen Bad in den (zumeist traurigen) Phänomenen zu widmen. Hier erscheint das Buch selbst als eine Mischung von Nonchalance und Unwissenheit.
3. Das Kapitel über Zivilgesellschaft und Entwicklung ist mehr als schwach. Wer meint, nun hier irgendetwas von den sozialen Bewegungen Brasiliens zu erfahren, wird enttäuscht. Statt von dieser für das gesellschaftliche Leben so fundamentalen Entwicklung der Basisbewegungen, der Rekonstruktion authentischer Gewerkschaften, zu erfahren, müssen die LeserInnen das zum Ende des Buches immer ärgerliche werdende Lamentieren ertragen: “Man beobachtet weiterhin einen verbreiteten Verlust bzw. einen modischen Verfall der Ästhetik und einen Verfall der guten Sitten.” Ja, die drohten spätestens auf dieser Seite 102 auch dem Rezensenten abhandenzukommen. Wie die sozialen Bewegungen fehlen auch Lula und die Arbeiterpartei (PT) völlig bei der Analyse des politischen Systems. Ah nein, nicht ganz, auf S.108 können plötzlich “radikale Kräfte” – eben die PT – eine Sammlung der politischen Kräfte in der Mitte stören.
Die List mit der falschen Karte
Das Buch ist schlecht. Daß man’s noch schlechter machen kann zeigt, so vermute ich, das Lektorat. Es fügt dem Buch eine Karte bei, in der die längst nicht mehr existierenden Territorien Amapá, Rondonia und Roraima fröhliche Urstände feiern, dafür aber der 1989 eingerichtete Bundesstaat Tocantins fehlt. Die Quelle verweist auf das Jahr 1991! Oder war es eine List? Sollte die Qualität der Karte ein Hinweis auf die Qualität des Buches sein?
Manfred Wöhlcke, Brasilien Diagnose einer Krise, Becksche Reihe, München 1994