Dem alten Chico wird das Wasser abgegraben
Das Projekt zur Umleitung des São Francisco-Flusses vertreibt Tausende von Menschen
Die AnwohnerInnen nennen ihn liebevoll den „Alten Chico“. Der 3.000 km lange Fluss São Francisco gilt als Lebensader des Nordostens Brasiliens. Er ist der einzige Fluss in den trockenen Gebieten der Region, der ganzjährig Wasser führt. Somit ist er die Lebensgrundlage für 12 Millionen Menschen, die in seinem Einzugsbereich wohnen.
Im Rahmen des Umleitungsprojekts baut das brasilianische Militär zwei Kanäle, die das Wasser des São Francisco von südlicheren Bundesstaaten des Nordostens Minas Gerais, Espirito Santo, Bahia, Sergipe, Pernambuco und Alagoas in die nördlicheren Staaten Paraíba, Piauí, Rio Grande do Norte und Ceará umleiten sollen.
Paradoxerweise sind das Ziel des Wassers Flüsse und Staudämme, in denen sich bereits die größten Wasservorräte der Region befinden. Die Bundesstaaten Ceará, Paraíba und Rio Grande do Norte, in die das Wasser geleitet werden soll, verfügen über mehr Wasserressourcen als die Staaten, von denen das Wasser abgezweigt wird.
Im Dezember 2004 war im Ceará bereits ein Verbindungskanal zwischen dem Fluss São Francisco und dem kleineren Fluss Castanhão gebaut worden. Im Zuge des Kanalbaus verschwanden Gemeinden am Flussrand schrittweise von der Landkarte. Die AnwohnerInnen haben den natürlichen Zugang zu Wasser seitdem verloren. Die 57 Familien der Gemeinde Quilômetro 79 wurden gegen eine geringe Entschädigung zwangsumgesiedelt. Nur zwei Familien sind geblieben. Sie leben am Rand des Kanals, in einer betonierten Flusslandschaft. „Wir haben am Flussrand gewohnt und leben heute mehr als einen Kilometer entfernt von ihm. Wir haben keinen Zugang zu Wasser. Wenn wir einen Eimer Wasser aus dem Kanal schöpfen, vertreibt uns die Polizei. Und wir haben kein Einkommen mehr“, erzählt Ivaneide in einem Dokumentarfilm des Bündnisses des Ceará für eine neue Kultur der Wassernutzung.
Infrastruktur gibt es keine mehr. Die Schule der Gemeinde wurde geschlossen und wird jetzt nur noch von den Bauarbeitern für die Mittagspause genutzt. Virgolino, einer der wenigen übriggebliebenen BewohnerInnen, zeigt auf eine tonnenartige, in den Himmel ragende weiße Konstruktion: „Diese Zisterne wurde für unsere Gemeinde gebaut. Sie ist bis jetzt nicht in Funktion, denn infolge der Enteignung sind alle Familien weggezogen. Nur zwei haben dem Druck der großen Unternehmen, die hier Obst anbauen wollen, standgehalten“, erzählt er. Dort, wo vorher die Häuser der Gemeinde standen, befinden sich jetzt Obstplantagen, die mit dem Wasser aus dem Kanal bewässert werden. Tag und Nacht fahren Baufahrzeuge an den Häusern vorbei. Ununterbrochen sei Maschinenlärm zu hören, klagt Ivaneide. Das Leben sei hier unerträglich geworden. Fischer und Kleinbäuerinnen und -bauern haben ihre Einkommensquelle verloren. Nostalgisch spricht Rogério vom den „Alten Chico“, mit dem er noch bis vor wenigen Monaten sein Reisfeld bewässerte.
Das Beispiel der Gemeinde Quilômetro 79 veranschaulicht die Interessenkonflikte zwischen den AnwohnerInnen des Flusses und Kleinbäuerinnen und -bauern auf der einen Seite und großen Agroexporteuren auf der anderen. Durch das Großprojekt sind etliche Familien von Zwangsumsiedlungen bedroht. Außerdem finden die Bauarbeiten zum Teil auf dem Teritorium von 32 indigenen Gruppen statt, in dem etwa 70.000 Indigene leben.
Es gab bereits zahlreiche Proteste von den BewohnerInnen der Flussgemeinden, Landlosen und Indigenen. Die Indigenen denunzieren die Verletzung ihrer in der brasilianischen Verfassung garantierten Territorialrechte, die durch die Besetzung durch das Militär und den Bau des Kanals praktisch außer Kraft gesetzt werden.
Die Regierung des Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva schenkte den Protesten aber bisher keine Beachtung. Ebenso wenig schienen Präsident Lula die Hungerstreiks des katholischen Bischofs Dom Luiz Cappio aus Bahia 2005 und 2007 zu beeindrucken, mit denen dieser seinen Protest gegen das Projekt zum Ausdruck brachte. „Ich muss mich zwischen dem Leben des Bischofs und dem der Bevölkerung entscheiden“, erklärte der brasilianische Präsident 2007 vor der Presse.
Das Argument, das Ziel der Umleitung des Flusses sei es, die Wasserversorgung der Bevölkerung in den trockenen Gebieten des Nordostens zu verbessern, schien von Anfang an unglaubwürdig. Zwei Jahre nach Beginn der Bauarbeiten ist offensichtlich, dass die Kanäle nicht durch die trockensten Gebiete führen werden und der größte Teil des umgeleiteten Wassers der Großindustrie zugutekommen wird. Nicht von Dürren bedrohte Kleinbäuerinnen und -bauern bekommen das Wasser, sondern GroßgrundbesitzerInnen, die Früchte in Monokulturen anpflanzen und Shrimps für den Export züchten.
„Wir sind gegen das Projekt, weil es darauf abzielt, die Produktion von Agrotreibstoffen auszuweiten. Dadurch wird die Nutzung von Wasser verändert, das eigentlich dafür da ist, Menschen und Tiere zu versorgen. Mit diesem Projekt wird aber sehr viel Geld in die Versorgung der Industrie mit Wasser investiert. Die Bevölkerung in der halbtrockenen Region braucht das Wasser für die Produktion der Lebensmittel, die sie anpflanzt“, erklärte Bischof Cappio den Lateinamerika Nachrichten Mitte Mai in Berlin. Auf Einladung der katholischen Hilfsorganisation Misereor war Cappio nach Deutschland gekommen, um für Unterstützung der Proteste gegen die Umleitung zu werben.
Im Dezember 2007 autorisierte das Oberste brasilianische Gericht die Fortführung der Bauarbeiten. Daraufhin reichte die Partei für Sozialismus und Freiheit PSOL eine Verfassungsbeschwerde ein, die das Dekret in Frage stellte und sich auf die Verletzung der Rechte indigener Gruppen bezog. Über diese Beschwerde ist bis heute nicht entschieden worden. Einer der Richter des Obersten Gerichts, Carlos Ayres Brito, der am Fluss São Francisco in Sergipe aufgewachsen ist, erklärte allerdings vor kurzem wütend im lokalen Radio Sertão 24 horas: „Die Umleitung des Flusses São Francisco zu fördern entspricht der Entnahme einer Bluttransfusion eines Kranken, der sowieso schon geschwächt ist.“ Berichten des Radiosenders zufolge wurde er wegen seiner Kritik bereits von Geschäftsleuten aus der Bewässerungs- und Bauindustrie bedroht. Der Präsident des Komitees für Wasserressourcen, Antônio Thomaz da Matta Machado, bezeichnete die Umleitung in Sertão 24 horas als „Katastrophe für das Ökosystem“. Die Geschwindigkeit des Flusses werde erheblich verringert, insbesondere während der Regenzeit. Dadurch würde das natürliche Gleichgewicht des Flusses gestört und die Reproduktion von Fischen gefährdet.
Das ökologische Gleichgewicht des São Francisco, in den seit Jahrzehnten Abwässer aus Städten, Industrien und dem Berg- und Ackerbau geleitet werden, ist sowieso erheblich gestört. Die AnwohnerInnen klagen über das Schwinden des Fischbestandes, den Rückgang der fruchtbaren Schwemmgebiete, über vergiftetes Wasser und sich zunehmend ausbreitende Sandbänke. Infolge der Abholzung der Wälder versiegen natürliche Wasserquellen und die Ufer erodieren. Angesichts dieses Zustandes wundere er sich darüber, wie es möglich sei, dass die Umweltbehörde Ibama eine vorläufige Genehmigung für das Projekt erteilt habe, obwohl es gegen zahlreiche gesetzlich festgelegte Umweltbestimmungen verstoße, erklärte Machado.
Im Zuge der Bauarbeiten hat sich der Dauerkonflikt zwischen den „Empfängen“ des Wassers und den „Gebern“ zugespitzt. „Einige Staaten werden stark von diesem Projekt profitieren, zum Beispiel Ceará. Der Gouverneur Cid Gomes ist für das Projekt. Die politische Gruppe, die dort an der Macht ist, besteht aus Industriellen, die Shrimpfarmen, Obstplantagen und Bewässerungsunternehmen besitzen. Diese Geschäftsleute, also die lokale Oligarchie, ist mit der Regierung verbündet und verteidigt das Projekt. Ähnlich ist die Situation in Paraíba. In Pernambuco ist die Regierung in dieser Frage gespalten, denn „einige Politiker sind der Meinung, Pernambuco sollte sein Wasser nicht mit anderen Staaten teilen, da es über am wenigsten Wasser in ganz Brasilien verfügt“, erklärte der Berater für Wasserressourcen der Regierung von Pernambuco, João Domingos, den LN.
Mit dem Verlust des direkten Zugangs zum Fluss wird Wasser für die Bevölkerung in den nordöstlichen Bundesstaaten zu einem teuren Gut. Die Kosten für aufbereitetes Wasser aus der Leitung sind infolge der Kommerzialisierung des Wassers von 0,05 auf 14 Cent pro Liter gestiegen. Dies ist fast unbezahlbar für die größtenteils einkommensschwachen Familien im Nordosten. Die Industrie muss hingegen nur 6 Cent pro Liter Wasser bezahlen. „Die Ableitung ist ein gigantisches Unterfangen, das dem Präsidenten Lula Stimmen bringen und als Prestigeobjekt dienen soll. Das Ergebnis wird das teuerste Wasser der Welt sein“, erklärte der Eremitenpriester Dom Tomás Balduino aus Goiás im Januar in einem Interview mit der Zeitschrift Istoé.
Selbst die Weltbank war nicht bereit, zur Finanzierung des Projektes beizutragen. In einem vertraulichen Gutachten kommt sie zu dem Ergebnis, das Projekt habe „eine kommerzielle Ausrichtung“ und „weltweite Erfahrungen [würden] die Annahme nahe legen, dass seine Verbindung mit der armen Bevölkerung eher schwach ausgeprägt“ sei. Eine andere Feststellung besagt, die „zuverlässige Wasserversorgung für den persönlichen Bedarf der Haushalte [sei] im gesamten Nordosten Brasiliens durch – technische – Alternativen zu einem Bruchteil der für das Großprojekt veranschlagten Kosten zu gewährleisten“.
Wegen seines Engagements gegen das umstrittene Umleitungsprojekt der brasilianischen Regierung zur Rettung des Flusses São Francisco wurde Bischof Cappio am 9. Mai in Freiburg von der Kant-Stiftung mit dem Kant-Weltbürgerpreis bedacht. In seiner Lobrede auf Cappio erklärte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler (SPD), Lula wolle durch das Ableitungsprojekt die Bevölkerung in den nördlichen Bundesstaaten des trockenen brasilianischen Nordostens mit Wasser versorgen. Der Priester befürchte aber, bisherigen Flussanrainern würde das Wasser abgegraben. Die anwesenden Nichtregierungsorganisationen reagierten irritiert auf diese Aussagen.
Das bundesweite Netzwerk der Brasilien-Solidaritätsgruppe Kooperation Brasilien (KoBra) veröffentlichte eine Pressemitteilung, in der es erklärte, der Widerstand gegen das umstrittene Großprojekt gehe nicht auf einen Konflikt zwischen armen Menschen verschiedener Regionen zurück. Es handele sich um einen Konflikt zwischen der exportorientierten Großindustrie und der Bevölkerung in unmittelbarer Nähe zum Fluss, der der Zugang zu Wasser verwehrt bleibe. Cappio stellte in seiner Dankesrede klar, das Staudammprojekt diene lediglich der „sicheren Wasserversorgung riesiger Obstexportunternehmen, der Produktion von Agrotreibstoffen, Krabben und Stahl“. Das Projekt sei „die Ausgeburt eines Systems, mit dem versucht wird, von der Situation der Armen und den Klimaveränderungen zu profitieren, um genauso ungerecht und unökologisch weitermachen zu können wie bisher.“
Durch die Deutschlandreise Cappios sind das Ableitungsprojekt am São Francisco und dessen soziale und ökologische Folgen zumindest international bekannter geworden. Sollte sich der nationale und internationale Druck auf die brasilianische Regierung weiterhin verstärken, so wird es Präsident Lula immer schwerer fallen seine Behauptung, er wolle den São Francisco retten, zu rechtfertigen. Inwiefern internationaler Druck die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des Obersten Gerichtshofes beschleunigen oder die Richter dazu bewegen kann, der Forderung nach einer öffentlichen Anhörung der Bevölkerung stattzugeben, bleibt abzuwarten.
Rettet den Regenwald und Kooperation Brasilien e.V. haben eine Email-Protestaktion gestartet. Auf der Internetseite: http://www.kooperation-brasilien.org kann ein Brief an die RichterInnen des Obersten Verfassungsgerichts in Brasilien unterzeichnet werden.