Lula geht – das System bleibt
Eine Bilanz zum Ende der achtjährigen Amtszeit des brasilianischen Regierungschefs
Den meisten BrasilianerInnen geht es zum Ende der Amtszeit Lulas wirtschaftlich besser als vor acht Jahren – dies dürfte die entscheidende Grundlage für den Erfolg Lulas sein. Zwischen 2003 und 2008 wurden zehneinhalb Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen; die Arbeitslosenquote sank von 12,3 auf etwa acht Prozent; 24 Millionen BrasilianerInnen haben die statistische Armutszone verlassen; die extreme Armut wird durch das Programm „bolsa família“ und eine kleine allgemeine Mindestrente effektiv gelindert. Die Regierung wird nicht müde diese und weitere Erfolgszahlen anzuführen.
Aber worauf beruht dieser Erfolg? Für die Opposition ist entscheidend, dass Lula die stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik seines Vorgängers, Fernando Henrique Cardoso, einfach fortgesetzt hat. Richtig daran ist, dass die Regierung Lula gerade in ihrer ersten Phase nach dem Amtsantritt des Präsidenten die makroökonomische Kontinuität betonte und die restriktive Geldpolitik der Zentralbank unterstützte. Das Primat der Inflationsbekämpfung durch Hochzinspolitik wurde zwar zeitweise gelockert, aber prinzipiell beibehalten.
Tatsächlich erklärt sich der Erfolg der Regierung nicht aus der einfachen Fortsetzung des Status Quo, sondern aus einer Kombination von orthodoxer Kontinuität mit neuen Elementen. Sie markieren für die TheoretikerInnen der Regierung einen grundlegenden Wechsel. Denn etliche Elemente charakterisieren die ökonomischen Komponenten des „Systems Lula“ besonders: So beendete die Regierung die Welle der Privatisierungen. Die größtenteils staatliche Erdölfirma Petrobras und die im Staatsbesitz befindlichen Banken wie Banco do Brasil und Caixa Economica werden zu wichtigen Akteuren der Regierung. Hinzu kommt eine explizit aktive Rolle des Staates mittels großer Investitionsprogramme. Die Entwicklungsbank BNDES wurde massiv mit Kapital ausgestattet und ist inzwischen die größte Entwicklungsbank des Kontinents. Dabei versuchte die Regierung darauf zu achten, dass der Zugang zu Krediten gerade für Geringerverdienende erleichtert wurde. Die Infrastruktur wurde auch durch Sonderprogramme zur Elektrifizierung ausgeweitet, und die Wohnungsbauprogramme erregen öffentlichkeitswirksam erhebliche Sympathien in der Bevölkerung. Nicht zu unterschätzen sind die Dimensionen, die die systematische Anhebung des staatlich festgesetzten Mindestlohnes für breite Bevölkerungsschichten hat.
Während zu Beginn der Regierungszeit Lulas die Wahrung der Stabilität Vorrang hatte, steht nun die Beschleunigung des Wachstums mit Hilfe eines aktiven Staates im Mittelpunkt. In der von Lula zu seiner möglichen Nachfolgerin aufgebauten Präsidentschaftskandidatin Dilma Rousseff, ist das Wachstumsparadigma personifiziert: Dilma wurde als Managerin des „Programms zur Beschleunigung des Wachstums“ (PAC) populär.
Ihre Feuertaufe hat die neue Wirtschaftspolitik Lulas in der Krise seit 2008 erlebt. Brasilien hat die Wirtschaftskrise viel besser überstanden als viele andere G-20-Länder, mit relativ geringen Kosten für antizyklische Programme. Für 2010 wird ein Wachstum von etwa fünf Prozent erwartet – ein für Brasilien und die Regierung optimaler Wert.
Aber es wäre verkürzt, Lulas Popularität nur durch die ökonomische Bilanz zu erklären. Entscheidende Bedingung für die Regierungsfähigkeit Lulas war ein strategisches Bündnis mit wichtigen Gruppen der traditionellen politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes. Die Notwendigkeit eines solchen Bündnisses zeigte sich vor allem in der Korruptionskrise, die im Jahre 2004 die Regierung erschütterte. Erst die langfristige politische Allianz mit der PMDB, der Großpartei regionaler Eliten, sicherte die politische Stabilität der Regierung Lula. Das heißt aber auch, dass die Macht mit den traditionellen Eliten geteilt werden muss. Beispielhaft dafür ist die zentrale Rolle, die der Ex-Präsident José Sarney übernommen hat. Im Gegenzug musste Lula ihn trotz schwerer Korruptionsanschuldigungen stützen. Dieser Skandal hat die Glaubwürdigkeit der Arbeiterpartei PT zutiefst erschüttert. Für viele ist die PT nun zu einer weiteren Partei des traditionellen Systems geworden.
Bedeutend ist das Bündnis mit dem Agrobusiness, das sich zu einer wichtigen Stütze des System Lula entwickelte. Auch hier lässt sich eine beispielhafte Figur benennen: der „Sojakönig“ Blairo Maggi, der als Gouverneur des Bundesstaates Mato Grosso zu einem zuverlässigen Verbündeten Lulas wurde. Einbezogen in das System Lula wurden auch die Gewerkschaften. Die wichtigsten Dachverbände sind mit Regierungsämtern bedacht und mittels milliardenschwerer Förderungsprogramme eingebunden worden. Widerstand ist daher von größeren Gewerkschaften kaum zu erwarten. Die zentrale Leistung des Systems Lula ist die Einbeziehung unterschiedlichster ökonomischer und politischer Akteure in ein wachstumsorientiertes Entwicklungsmodell.
Gilt also: Tudo dominando – alles unter Kontrolle? Fast. Die bürgerliche Opposition, angeführt von der rechts-sozialdemokratischen Partei PSDB und ihrem Präsidentschaftskandidaten José Serra hat große Schwierigkeiten, die Regierung anzugreifen und Alternativen vorzuschlagen. Sie verspricht Ähnliches, bei größerer Kompetenz im Management. Dies hat sich bisher nicht als Erfolgsrezept bewiesen. Die linke Abspaltung der PT, die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), errang zwar Achtungserfolge in den politischen Debatten, bleibt aber doch am Rande der Bedeutungslosigkeit. Im politischen Spektrum hat sich 2010 die ehemalige Umweltministerin Marina Silva, Kandidatin der Grünen Partei (PV), als dritte Kraft (mit Umfrageergebnissen von etwa 8 Prozent) etabliert.
Es ist kein Zufall, dass der Widerspruch zum System Lula am ehesten in der ökologischen Frage aufbricht. Das wachstumsorientierte Entwicklungsmodell Brasiliens sieht in „Umweltfragen“ lediglich ein Hindernis, das es zu überwinden gelte. Des öfteren hat sich Lula aggressiv und abfällig über UmweltschützerInnen beschwert, denen Kröten und Fischche wichtiger seien als der Fortschritt des Landes. Tatsächlich ist die Entwicklungsstrategie an einem Punkt angelangt, an dem ein einfaches Weitermachen zu schwersten Umweltkonflikten führt. Die brasilianische Energieerzeugung beruht auf Wasserkraft, und das Ausbaupotential dieser Energiequelle liegt in Amazonien. Die jüngste Entscheidung, einen der größten Staudämme der Welt, Belo Monte, mitten im Amazonasgebiet zu bauen, hat lokalen und globalen Widerstand provoziert (s. LN 429).
Damit nicht genug: Als Ergänzung zum Strom aus Wasserkraft will Brasilien sein Atomprogramm wiederaufleben lassen und – neben dem bereits gestarteten Bau des Atomkraftwerks Angra 3 bei Rio de Janeiro (s. LN 411/412) – drei neue Atommeiler im Nordosten bauen. Dies sind Grundsatzentscheidungen gegen ein dezentrales Energiemodell. In durchaus altlinker Tradition setzt das brasilianische Entwicklungsmodell auf die strategische Partnerschaft mit den großen Baukonzernen, die zu einer wichtigen Finanzierungsquelle des Wahlkampfes des Regierungslagers geworden sind.
Auch die strategische Allianz mit dem Agrobusiness hat weitreichende Konsequenzen. Das brasilianische Exportmodell beruht immer stärker auf dem Export von Rohstoffen oder nur schwach verarbeiteten Produkten. Brasilien ist ein großer Exporteur von Soja, Fleisch, Zucker, Zellulose, Aluminium und Eisenerz – alles Produkte, die durch eine intensive Ausbeutung natürlicher Ressourcen gewonnen werden. Verschärft wird diese Tendenz noch durch den rasanten Ausbau des Anbaus von Zuckerrohr für die Produktion von Ethanol, zunächst primär für den internen Markt. Brasilien definiert sich damit zusehends als Agrar- und Rohstoffgroßmacht – mit allen Konsequenzen, die das für die Ökosysteme des Landes hat. Die „Ökologiefrage“ hat also nichts mit Naturschutz zu tun, sondern steht im Kern der Konflikte, die das brasilianische Entwicklungsprojekt provoziert.
Der Zugriff auf die erhaltenen Ökosysteme und der Ausbau der exportorientierten Monokulturen provoziert wachsenden Widerstand, etwa gegen neue Großstaudämme. Aber die öffentliche Wahrnehmung dieser unzähligen lokalen Konflikte ist unzureichend und bruchstückhaft – so konstituieren sie keinen nationalen Gegenpol zum System Lula. Dazu wären nur die größeren sozialen Bewegungen der Vía Campesina fähig: die Landlosenbewegung MST und die Bewegung der Staudammopfer MAB. Beide bewegen sich aber auf einem schmalen Grad zwischen Widerstand und Unterstützung der PT und der Regierung. So erklärte João Pedro Stedile vom MST offen seine Unterstützung für Dilma Roussef: „In diesem Szenario glauben wir, dass Dilma ein besseres Kräfteverhältnis ermöglicht, um soziale Errungenschaften weiterzutragen.“
Die extreme Rohstoffabhängigkeit wirft aber nicht nur die Frage nach dem Konfliktpotential, sondern auch nach der Zukunftsfähigkeit auf. Ist die brasilianische Entwicklung der letzten Jahre nicht auch eine Ressourcenblase, die dann zerplatzt, wenn die natürlichen Grenzen des Wachstums spürbarer werden? Statt einen neuen Entwicklungsweg zu denken, setzt die Regierung wohl eher auf eine neue Rohstoffrunde. Die große Hoffnung sind nun die riesigen Offshore-Ölfelder, die unter einer dicken Salzschicht vor Brasiliens Küste liegen (s. LN 426). Die neuen Perspektiven auf Ölförderung haben die ökologische Kritik nicht erleichtert – zu groß ist nun die Hoffnung auf baldigen Reichtum. Neuer Brennstoff, um ein altes Entwicklungsmodell weiterzuführen. Und wohl auch eine gute Energiebasis für eine Weiterführung des „System Lula“ – ohne ihn als Präsidenten.