Guatemala | Nummer 601/602 - Juli/August 2024

Rückkehr in den Frühling

Die sozialdemokratische Regierung Arévalos kämpft seit über sechs Monaten gegen widrige Umstände und den „Pakt der Korrupten“

In Guatemala spricht man von einer Rückkehr in den Frühling durch die Wahl des Sozialdemokraten Bernardo Arévalo im vergangenen Jahr. Dieser Frühling blühte erstmals zwischen 1944 und 1954 auf, als die ersten demokratisch gewählten Präsidenten Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz in Folge der Oktoberrevolution an die Regierung kamen und das Land nach Jahrzehnten der Diktatur demokratisierten. Damals wie heute haben die gewählten Regierungen mit den Interessen der Eliten zu kämpfen.

Von Carlos Ernesto Cano (Übersetzung: Tininiska Zanger Montoya)
Mission Demokratie retten Proteste vor dem Obersten Gerichtshof in Guatemala (Foto: Festivales Solidarios)

Der erste politische Frühling der 40er und 50er Jahre währte nicht lange. Die US-Regierung putschte mit Hilfe der CIA, anderer zentralamerikanischer Regierungen und antikommunistischer Militärs aus Guatemala. Sie stürzten den progressiven Militär Jacobo Árbenz im Juni 1954 und verurteilten ihn zu einem Leben im Exil in mehr als zehn verschiedenen Ländern, bis er 1971 in Mexiko starb.

In den zehn Jahren des demokratischen Frühlings wurden beispiellose Fortschritte erzielt: die Einführung eines Arbeitsgesetzes, eines Sozialversicherungssystems und des Frauenwahlrechts sowie eine Landreform, bei der Land an Indigene und Bäuer*innen verteilt wurde sowie der Bau von Straßen, Wasserwegen und Bildungseinrichtungen. Die guatemaltekische Gesellschaft erinnert sich daran. Sie bewahrt diesen demokratischen Fortschritt in ihrem kollektiven Gedächtnis. Zusammen mit anderen Faktoren führte dies am 20. August 2023 zur Wahl von Bernardo Arévalo, Sohn von Juan José Arévalo. Der sozialdemokratische Kandidat nutzte das politische und historische Kapital seines Vaters, um die Wahl zu gewinnen.

Dieser wichtige Wahlsieg der Sozialdemokratie in Guatemala erfolgt in einem Land, das seit 2017 unter einer Diktatur der Justiz leidet. Die Drahtzieher dieser Diktatur sind der Oberste Gerichtshof, das Verfassungsgericht, das Staatsministerium und die Richter*innen. Die Institutionen, die für die Verwaltung der Justiz zuständig sind, waren dazu übergegangen, politische Gegner*innen, indigene, studentische und soziale Aktivist*innen zu kriminalisieren, ins Exil zu treiben und zu ermorden. Dieser juristische Angriff galt auch Journalist*innen und Justizmitarbeiter*innen. Derzeit befinden sich mehr als 200 Personen im Exil.

Die Zivilgesellschaft, die indigenen Völker und vor allem die einfachen Menschen sind dieser Diktatur der Justiz, die im Land als „Pakt der Korrupten“ bekannt ist, überdrüssig. Die Müdigkeit hat sich bei den Wahlen im vergangenen Jahr gezeigt: Die Menschen stimmten massiv für die sozialdemokratische Option, die sich auf einen Anti-Diktatur-Diskurs stützte und die Korruption, ein zentrales Element der Diktatur, frontal bekämpfen wollte. Der „Pakt der Korrupten“ versuchte, den Amtsantritt der neu gewählten Regierung durch einen juristischen Staatsstreich zu verhindern. Die indigenen Völker verhinderten dies jedoch und retteten die Wahlen, indem sie mehr als 106 Tage lang friedlich demonstrierten, um die fragile Demokratie Guatemalas zu schützen.

Nach einem turbulenten und unruhigen Regierungswechsel, der seit dem ersten Wahlgang im vergangenen Jahr fast sechs Monate gedauert hat, wurden Bernardo Arévalo und Karin Herrera am 15. Januar dieses Jahres vereidigt. Sie versprachen Veränderungen, vor allem in Bezug auf Korruption und Straflosigkeit.

Seit dem Amtsantritt von Arévalo und Herrera ist es zu einer Reihe von juristischen und gerichtlichen Übergriffen gekommen, angeführt von der Staatsanwaltschaft und dem Verfassungsgericht, das eigentlich für die Einhaltung der Verfassung in Guatemala zuständig ist. Beide Institutionen, die vom sogenannten “korrupten Pakt” kooptiert wurden, haben die Arbeit der neu gewählten Regierung in den letzten sechs Monaten untergraben.

Auch die Legislative hat dazu beigetragen, die Versprechen der Exekutive für die Entwicklung des Landes anzugreifen und zu unterminieren. Die Wahlversprechen der Regierung Arévalo rücken durch die Angriffe der anderen „demokratischen Kräfte” in immer weitere Ferne. Darüber hinaus hat die Regierung Arévalo mit der Verankerung der Mafia in der Regierungsstruktur, insbesondere in der Exekutive, zu kämpfen – ein Erbe der Regierungen von Jimmy Morales und Alejandro Giammattei. Diese Strukturen sind der Regierung Arévalo ein Dorn im Auge: Unzählige Posten, Verträge und Ernennungen wurden von den beiden Ex-Präsidenten gefördert, um Kollaborateur*innen und Informant*innen in Schlüsselpositionen der öffentlichen Verwaltung zu bringen.

Hinzu kommt die Forderung ehemaliger Militärs und ehemaliger Mitglieder der zivilen Selbstverteidigungspatrouillen, im Land als exPAC bekannt. Sie verlangen eine Entschädigung für die Dienste, die sie in den 70er bis 90er Jahren für das Land geleistet haben, um die guatemaltekische Gesellschaft vor dem Gespenst des Kommunismus zu schützen, das damals über Mittelamerika schwebte. Diese Ex-Militärs und Ex-Milizionäre waren maßgeblich am Völkermord an der Maya-Bevölkerung beteiligt.

Seit einem halben Jahr ist die Regierung von Arévalo und Herrera an der Macht. Langsam macht sich in der Bevölkerung Desinteresse und Ungeduld gegenüber der Regierung breit. Die Straflosigkeit und die Korruption, rebrände der letzten Monate und die bevorstehende Regenzeit könnten der neuen Regierung des zweiten demokratischen Frühlings zum Verhängnis werden. Denn die politischen Zeiten sind nicht unbedingt kompatibel mit den Zeiten der indigenen Völker und der übrigen guatemaltekischen Gesellschaft.

Guatemala kann als Schlupfwinkel für die Demokratie in der Region betrachtet werden. Sollte sich die Regierung Arévalo konsolidieren, könnte sie eine Atempause von den autoritären Systemen bieten. Wenn der guatemaltekische Frühling wieder auflebt, würde er als Gegengewicht zur Diktatur des „coolsten Diktators“ der Welt in El Salvador und zur muffigen Autokratie Daniel Ortegas in Nicaragua dienen: Zwei Diktatoren, die in der Form antagonistisch erscheinen, im Kern aber beide durch und durch autoritär sind.

Guatemala könnte das Land des ewigen Frühlings werden, nicht als Symbol oder touristischer Slogan, sondern als ein Land, in dem der Frühling für die große Mehrheit der Bevölkerung eine Realität ist. Aber nur, wenn die Regierung Arévalo das auch will und umsetzt. Noch hat sie die Unterstützung der Bevölkerung.

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