Musik | Nummer 237 - März 1994

Virtuose Gedanken

Jazz auf Kuba: Interview mit dem kubanischen Pianisten Gonzalo Rubalcaba

Verrückterweise erschließt sich Musik manchmal nicht über die Ohren, sondern dann, wenn man die MusikerInnen sieht. Früher konnten mich Gonzalo Rubalcabas Platten und CD’s nicht begeistern. Was überall als Virtuosität des heute 30jährigen Pianisten gelobt wurde, klang mir nach: Höher, schneller, weiter. Bei einem Konzert in Berlin sah ich ihn, und er nahm mich vom ersten Augenblick an gefangen.
Seither höre ich auch auf CDs in seinem Klavierspiel dieses Aufblitzen einer Salsa-Clave mitten im Bebop, sehe seine Finger auf den Tasten hin und herfliegen – und höre die Idee dahinter, die er im folgenden Interview “Virtuosität der Gedanken” nennt. Gonzalo Rubalcaba verbindet die seltene Tugend, über Politik persönlich reden zu können, mit einer Menge konzeptioneller Gedanken über seine Musik. Erstaunlich ist Rubalcabas Bezug auf die klassische kubanische Musik. Von der konnte ich einiges gerade zum ersten Mal hören: im Film “Erdbeeren und Schokolade”, der auch in diesem Heft besprochen wird. Dort spielt der Schwule dem Revolutionär und dem Publikum die “alten Kubaner” vor. Der Film sei an dieser Stelle nochmal empfohlen, und zwar ganz ausdrücklich wegen seiner Musik! Gonzalo Rubalcaba würde sich sicher anschließen.

Interview: Karin Gabbert

LN: Was für ein Jazz-Leben konnte sich auf Kuba überhaupt unter der Blockade der USA entwickeln?
Gonzalo Rubalcaba: Auf Kuba gibt es eine Tradition des Jazz, der in den 40er Jahren begann. Seitdem haben einige Leute auf Kuba ihre eigenen Gruppen gegründet und andere sind zu Bands in die USA gegangen. Aber es hat immer eine original kubanische Verbindung mit der Jazz-Welt gegeben. Das heißt, niemals die kubanischen Traditionen aufzugeben. Die frühen Jazzer hatten nur eine musikalische Inspiration. Seit Ende der 50er Jahre gibt es auf Kuba immer mehr akademisch ausgebildete Musiker mit einer viel ausgefeilteren musikalischen Sprache.
In den letzten dreißig Jahren hat der Staat sehr viel in gute musikalische Ausbildungen investiert. Es ist immer eine klassische Ausbildung. Aber das war in der Geschichte der kubanischen Musik immer so. Beispielsweise waren alle Komponisten für Klaviermusik um die Jahrhundertwende gleichzeitig perfekte klassische und populäre Musiker. Diese Vielseitigkeit gehört schon zu unserer Tradition. Und ich glaube, daß es ein großes Glück ist, daß die kubanischen Musiker immer von sich aus oder gezwungenermaßen klassische Musik studiert haben. Aus diesem Grund gibt es ein tiefes musikalisches Verständnis und technische Fähigkeiten, die die populäre Musik davor bewahren, zu einfach zu werden. Die Resultate bei der populären Musik sind ambitionierter, intelligenter.

Aber braucht das nicht gerade der Jazz auch einen Austausch mit internationalen MusikerInnen?
Das jährliche Jazz-Festival wurde mit der Zeit zur Plattform für die kubanischen Jazz-Musiker. In diesen 14 Jahren kamen immer mehr wichtige Musiker aus dem Ausland, weil sie auf Kuba spielen wollten. Das Land hatte niemals genug Geld, um sie zu bezahlen. Aber die ausländischen Musiker wollten die kubanischen Musiker, das kubanische Publikum und Kuba als solches kennenlernen. Das war für alle sehr wertvoll. In den letzten beiden Jahren ist die Situation wegen der schlechten Wirtschaftslage schwieriger geworden. [Anm.: 1994 ist das Festival zum ersten Mal ausgefallen.] Es gibt immer weniger Konzerte auf Kuba. Die Gründe sind bekannt: Es gibt zuwenig Treibstoff, Strom und Verkehrsmittel. Es ist fast unmöglich, als Musiker zu arbeiten. Und das ist schade: Leute, denen das Land es ermöglicht hat, künstlerisch zu wachsen, haben es schwer, wenn sie anfangen wollen zu arbeiten.

Du hast erzählt, daß alle kubanischen Musiker eine klassische Ausbildung haben. Hast Du auch klassisches Klavier studiert?
G.R: Ja, ich fing mit acht Jahren an. Eigentlich wollte ich Schlagzeug lernen. Aber dafür war ich noch zu jung. Außerdem gab es gerade Probleme mit dem Fachbereich Percussion in Havanna. Meine Mutter erklärte mir also, ich müßte zwischen Geige und Klavier wählen. Es gab zwar ein Klavier bei uns zu Hause, aber für mich war das irgendein Möbelstück, außerdem fand ich Klavierspielen unglaublich schwer. Ich entschied mich nur meiner Mutter zuliebe dafür. Sie sagten mir, daß ich nach drei Jahren Schlagzeug spielen lernen könnte, also lernte ich beides. Denn nach drei Jahren fing ich das Instrument an zu mögen. Später studierte ich dann noch Komposition. Die erste Etappe der Ausbildung dauert vier bis sechs Jahre, dann kommt die Mittelstufe und danach kannst Du noch studieren.

Und wie kamst Du zur populären Musik oder zum Jazz?
Das ging schon mit zwölf oder dreizehn Jahren los. In das Haus meiner Eltern kamen immer Musiker, und es wurden viele Platten aus den 50er Jahren gehört: Bud Powell, Thelonios Monk, aber auch die Kubaner aus dieser Zeit, die etwas mit Jazz zu tun hatten: Frank Emilio, Peruchina. Im Haus wurde geübt, es gab Feste und dabei spielten wir. Später ging ich mit einem Schulfreund zu Konzerten von Irakere oder Emiliano Salvador. Und 1977 gründete ich eine Gruppe namens Da Capo in meiner Schule. Die Gruppe war wie ein Labor, wir probierten alles aus, es war irgendwie experimentell, wir brannten nur so vor Energie.
Ab 1984 hatte ich eine professionelle Gruppe “Projecto” und 1985 kam Dizzy Gillespie zum zweiten Mal zum Jazzfestival. Damals arbeitete ich im “Parisien”, einer Art von Cabaret im Hotel Nacional, in dem die Künstler wohnten, die zum Festival gekommen waren. An jenem Abend kam Dizzy genau dahin, als ich gerade aufhörte zu spielen. Er kam auf die Bühne und lud mich ein, am nächsten Tag bei seinem Konzert mitzuspielen. Ich suchte Dizzies Stück “Con Alma” aus, wir spielten, die CBS filmte, und das war der Startschuß.

Dizzy war wie ein Vater für viele Musiker und hat vielen jungen Jazzern aus den USA und Lateinamerika geholfen, nicht?
G.R: 1987 lud er mich zum Jazz-Festival nach Montreux ein. Das letzte Mal trafen wir uns 1990 auf Kuba. Er hat sehr viel dabei geholfen, auf mich aufmerksam zu machen.

Hast Du auf Kuba populäre Tanzmusik gespielt? Gestern auf dem Konzert hörte es sich so an, als ob Du darin Routine hättest.
Ja, als ich anfing, professionell zu arbeiten, spielte ich bei den Van Van. Die Van Van sind seit 15 oder 20 Jahren die populärste Gruppe auf Kuba. Ihr Leiter, Juan Formell, ist ein Chronist der kubanischen Lebensauffassung in den letzten 15 Jahren. Ich habe mit ihnen während des Karnevals 1984 und auf dem Son Festival 1983 gespielt. Außerdem habe ich mit vielen populären Sängerinnen und Sängern gespielt.

Deine Art zu arrangieren, erinnert mich an eine Richtung des jungen schwarzen Jazz in den USA, wie sie zum Beispiel Steve Coleman spielt. Ich meine damit diese Art, musikalische Formen zu brechen und sie neu anzuordnen. Hast Du etwas mit diesen Musikern zu tun?
Das ist ein Produkt des ausgehenden Jahrhunderts. Es wird viel resümiert. Zu diesem extremen Zeitpunkt fallen Dir alle Informationen des Jahrhunderts auf die Schultern. Das kann günstig sein, aber Dich auch blind machen, weil Du nicht weißt, wohin.

Du meinst, wenn es bereits soviele Formen gibt, dann weißt du nicht, wohin, um Neues zu entdecken?
Genau. Musiker wie Steve Coleman sind auf der Suche nach einer neuen universellen Sprache, dem Ausdruck einer Idee. Die Wurzeln kommen dann später sowieso wieder zum Vorschein, in den Mustern, die du in der Kindheit gelernt hast oder durch deine Entwicklung in einer bestimmten Gesellschaft. Das Problem liegt in dem unterschiedlichen Zugang zu den verschiedenen musikalischen Sprachen. Alles erscheint neu, alles ist wertvoll, und ich habe nur Angst vor einer unüberlegten Collage, die nichts mehr sagt.
Auf der anderen Seite glauben die Jugendlichen zu wenig an das Alte. Du kannst nicht nach vorne gucken, ohne zu sehen, welche Wege schon zurückgelegt wurden. Aber es gibt auch großes Glück. Das ist einfach die lateinamerikanische Musik, die kubanische Musik. Ich habe immer gesagt, daß dies ein jungfräulicher Kontinent ist. Du gehst aufs Land, suchst in der Folklore, oder suchst in der Stadt, und jeden Tag wirst du viele Quellen für neue Inspirationen finden. Dieser Kontinent ist noch kein bißchen müde geworden bei der Suche nach einer musikalischen Sprache. Es gibt auch viel zu schreiben, wir haben noch viele Revolutionen vor uns, viele Anliegen, auch viele Katastrophen. Das alles zählt. Man sollte nicht nur die schönen Seiten beachten.

Wirst Du manchmal wütend, wenn die Kritiker Dich als Kubaner natürlich als temperamentvoll und feurig bezeichnen und Dich folkloristisch betrachten?
Mich macht wütend, wie wenig bekannt die Folkore ist. Sie ist das einzige Kriterium, das in der Karibik und in Afrika angelegt wird. Aber niemals hat es wirklich eine philosophische Annäherung an die Kunst der Folklore gegeben. Erstens, weil man die Folklore nicht kennt, und zweitens, weil man sie unterschätzt. Ich bin nicht wütend, es macht mich traurig. Nicht um mich, denn wenn Du deine Sache überzeugt machst, verliebt bist, in das, was Du tust, und verantwortlich, dann machst Du alles mit Liebe. So verstehe ich Liebe. Auch wenn ich nicht aufhöre zu träumen, ist für mich das Nachdenken wichtig. Und Virtuosität erfordert sehr viel Aufmerksamkeit. Eben wegen ihres großen Effekts. Aber man sieht immer nur ihre technische Seite, das ist die leichte, äußere Seite. Was vergessen wird, ist die Virtuosität des musikalischen Denkens. Es hat wenig Kritiker gegeben, die sich auf meine musikalische Sprache beziehen.

Dann frage ich Dich mal danach: Wie hast Du in der anderthalbstündigen Gesamtkomposition in Deinem Konzert die Formen zusammengesetzt?
Ich hab ja schon darüber geredet, wie wichtig ich eine akademische Ausbildung finde. Die meisten Musiker, die populäre Musik machen, darunter verstehe ich auch Jazz, legen oft keinen Wert auf die Form. Es gibt das Vorurteil: Wenn Du zuviel Wert auf die formalen Aspekte legst, dann bist Du weniger emotional. Ich glaube an beides, an die Gefühle, an die Leidenschaft, an die Improvisationsfähigkeit der Menschen, aber ich glaube auch an die Organisation. Und organisieren heißt nicht mehr, als sich mit der Form zu beschäftigen. Wenn du etwas neu ordnest, klingt es anders, auch wenn die Worte die gleichen sind, wie immer. Das ist die Grundidee unseres Arrangements, das wir gestern gespielt haben.

Hast Du schon eine Idee, wohin Du mit Deinen Kompositionen gehen willst?
Das traue ich mich nie zu sagen. Ich habe Angst, daß ich meine Idee mit Worten noch nicht ausdrücken kann. Obwohl ich viele Theorien entwickele, ist die Praxis für mich das absolute Ergebnis. Aber ich sage mal was zu meiner Idee über die kubanische Musik. Ich finde, daß sie von den Kubanern selbst schlecht behandelt worden ist. Es werden zuviele Klischees davon gespielt, was als kubanische Musik bekanntgeworden ist. Diese Klischees werden immer funktionieren, so wie in Romanen, so wie in Telenovelas, so wie in Diskursen vor den Massen. Du weißt einfach, einige Sätze, einige Wendungen kommen immer bei den Leuten an. Und das wird zuviel benutzt. Es sind keine ernsthaften neuen Ideen vorgestellt worden.

Was ist aus den Musikern der “neuen Trova” geworden? Aus Silvio Rodríguez, Pablo Milanes?
Die Trova hält sich auf eine Weise. Aber mit weniger Einfluß.

Wegen der gewandelten politischen Situation oder aus künstlerischen Gründen?
G.R. Beides. Es passiert immer das gleiche, bei allen künstlerischen Phänomenen: Namen tauchen auf, Leute werden berühmt, entweder, weil sie sich außerhalb der sozialen Realität stellen, oder weil sie gegen sie rebellieren. Genau das haben Silvio Rodríguez, Pablo Milanes, Noel Nicola, Sarah Gonzales in den 70er und 80er Jahren getan. Sie wurde zur Avantgarde dieser Bewegung, zur revolutionären Seite des kubanischen Liedes. Die Trova drückte eine Generation voller Fragen und Zweifel aus, kritisierte viele Aspekte der damaligen kubanischen Gesellschaft. Diese Etappe hat ihre Funktion erfüllt und die Zeiten haben sich geändert, die Gesellschaft hat sich geändert und die Beziehungen des Landes zur Welt haben sich geändert. Und jetzt tauchen neue Namen auf. Die Geschichte wiederholt sich. Leute wie Carlos Varela, Santiago Feliu. Sie haben es schwer, weil sie so selten öffentlich auftreten können. Entweder können sie aus wirtschaftlichen Gründen nicht spielen oder weil einige Sektoren des Landes finden, daß diese Art von Kunst gegen die revolutionären Prinzipien verstößt. Der Kampf der Generationen ist ein historisches Problem.

Aber wenn die Trova die Avantgarde der Revolution war, warum werden nun die neuen Sänger kritisiert, nicht revolutionär genug zu sein?
G.R. Das ist einfach. wenn Du wirklich revolutionär bist, entstehen viele Widersprüche. Das ist logisch. Wenn du aufhörst, Dich weiterzuentwickeln, hörst du auf, revolutionär zu sein. Dann tauchen die neuen Generationen auf, die sich der neuen Zeit verpflichtet fühlen. Wir reden hier von einer sozialen Revolution. Carlos Varela mit seiner neuen Sprache hat gezeigt, daß er sehr kritisch ist, aber auch, daß er eifersüchtig über die Erfolge der Revolution wacht. Das ist keine Rebellion gegen alles. Es ist eine analytische, bewußte, gewissenhafte Rebellion. Und das ist Teil eines revolutionären Denkens.

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