Film | Nummer 332 - Februar 2002

Auf der Suche nach den verlorenen Worten

Der chilenische Dokumentarfilm La última huella von Paola Castillo

Bettina Bremme

Wenn Cristina, auf ihre Krücke gestützt, die Kapelle an sich vorbei ziehen lässt, die mit Rummtata zum chilenischen Nationalfeiertag aufmarschiert, wirkt die alte Frau wie ein Zaungast in ihrem eigenen Leben. Dabei waren Jahrtausende lang Cristinas Vorfahren, die Yaganes, auf diesem Zipfel Erde die einzigen Zeugen menschlicher Existenz. Ringsum gab es nichts als zerklüftete Fjorde und ein eisiges Meer, das den äußersten Punkt Amerikas von den Südpolgletschern trennte. Eine Zeit, die immer mehr im Nebel der Geschichte verschwindet. Jetzt heißt der Ort Villa Ukika, die Leute hören auf Nachnamen wie Calderón, und von einst 7.000 Yaganes sind nur noch Cristina und ihre Schwester Ursula übrig geblieben.
La última huella (Die letzte Spur) lautet der Titel eines chilenischen Dokumentarfilms, der im Forum der Berlinale zu sehen ist. Man könnte ihn auch „Auf der Suche nach den verlorenen Worten“ nennen. Mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit spürt die Regisseurin Paola Castillo in Interviews, die sie mit den BewohnerInnen von Villa Ukika führt, der Sprache der Yaganes nach. Als läge hierin der Schlüssel zur Erinnerung: „Wald“, „Himmel“, „Meer“, „Wolke“, „Sonnenuntergang“, „Stern“. Es geht um die einfachen und doch so fundamentalen Begriffe, um die Welt zu beschreiben und sie dadurch zu einem Teil des eigenen Lebens zu machen. Der Film lauscht Ursula und Cristina, wie sie altvertraute Worte aus ihrem Erinnerungsschatz hervorkramen und untermalt dies mit Aufnahmen, die von der unwirtlichen Schönheit der Landschaft künden. Die Kamera schaut ihnen und anderen alten Leuten über die Schulter, wenn diese Fotos längst verblichener Verwandter betrachten und dabei versuchen, sich an deren Namen zu erinnern. Wenn Ursula sich, mit Thermojacke bewehrt, auf einen modernen Kutter begibt, werden alte Schwarzweißaufnahmen eingeblendet: Indios in traditioneller Kleidung rudern über den Fjord.
La última huella ist ein leiser, zärtlicher und elegischer Film. Der Rhythmus pulsiert fast unmerklich im fließenden Wechsel zwischen reportagehaften Szenen und meditativen Betrachtungen. Mal werden Alltagsszenen dokumentiert, wie etwa die Landung einer Fähre voller Touristen, denen die Schwestern ihre selbst geflochtene Körbe zum Kauf anbieten. In anderen Momenten wiederum gibt der Film sich ganz der herben, unzugänglichen Schönheit der Landschaft hin.
In hiesigen Gefilden ist die Geschichte der Yaganes quasi unbekannt. Um so interessanter der Zufall, dass sie auf der diesjährigen Berlinale noch an einer weiteren Stelle auftauchen, nämlich in dem argentinischen Spielfilm Todas las azafatas van al cielo (Alle Stewardessen kommen in den Himmel;Panorama). Dort lassen sich zwei Großstadtmenschen, die im äußersten Süden gestrandet sind, vom mitternächtlichen Fernsehprogramm sanft berieseln. Über den Bildschirm flimmert ein uralter Dokumentarfilm mit Yaganes, die im Kanu übers Wasser gleiten.
Zurück zu La última huella: Was bedeutet es, heutzutage einen Film über die Yaganes zu machen? Geht es um Erinnerungs- und Trauerarbeit? Geht es um eine Anklage gegen die für ihr Verschwinden Verantwortlichen? Glaubt man Ursulas und Cristinas Erzählungen, so lebten sie früher im Einklang miteinander und mit der Natur: Die Frauen gebaren, im seichten Meereswasser hockend, ihre Kinder. Die Alten wurden respektiert. Alle sprachen eine Sprache.
Heute, so zeigt der Film, ist die (Klang-)Welt der Yaganes etwas, das wie ein kostbares museales Gut konserviert werden muss. Besonders interessant sind die Passagen, in denen die Filmemacherin die jüngeren Leute aus Villa Ukika, die durchweg Mestizen sind, nach ihrer Herkunft fragt. Da sitzen die Männer und Frauen mit ihren Kindern vor der Kamera und versuchen, sich an Worte aus der Sprache der Yaganes zu erinnern. Doch nur einzelne Brocken kommen ihnen in den Sinn. „Wir sind ein Volk ohne Geschichte“, resümiert einer der Männer traurig. Deshalb hat sich einer der Nachfahren der Yaganes in den Kopf gesetzt, mit Hilfe von Ursula und Cristina ein Wörterbuch zusammenzustellen. Wie können die mestizischen Nachfahren der Yaganes die Erinnerung retten und gleichzeitig ihren Platz in der modernen Gesellschaft finden? Diese Frage schwebt gegen Ende von La última huella wie ein unsichtbares Rauchzeichen über den ärmlichen Häuschen von Villa Ukika. Stoff für weitere Filme.

La última huella; Regie: Paola Castillo; Chile 2001; Farbe, 63 Minuten. Der Film wird im Forum der Berlinale (6. bis 17. Februar 2002) gezeigt.

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