50 Jahre LN | Aktuell | Jubiläumsnummer 588 - Juni 2023 | LN

// 50 Jahre Leidenschaft

Das Vorwort aus unserer Jubiläumsausgabe zu 50 Jahren LN!

Die Redaktion

Mit LN-Covern durch 50 Jahre Zeitschriftengeschichte Für die Jubiläumsausgabe haben wir in unseren Archiven gestöbert

Wir können es selbst kaum glauben: Am 28. Juni 1973 erschien die erste Ausgabe unserer Zeitschrift, heute blicken wir auf ganze 50 Jahre Lateinamerika Nachrichten! Und wer als aufmerksame*r LN-Leser*in auf dieser ersten Seite das klassische Editorial vermisst, weiß: Diese Ausgabe ist keine gewöhnliche!

Unser Jubiläum nehmen wir zum Anlass, die Entwicklung der LN Revue passieren zu lassen. In diesem Heft wollen wir einen Blick darauf werfen, woher wir kommen, wer wir heute sind und was uns umtreibt. In den vergangenen Monaten haben wir nicht nur unsere Geburtstagsparty geplant, sondern auch in Archiven gestöbert, mit ehemaligen LN-Redakteur*innen gesprochen und natürlich miteinander diskutiert. Heute freuen wir uns, die Ergebnisse dieser intensiven Recherche mit Euch, unseren Leser*innen, teilen zu können.

Doch wie erzählt man die 50jährige Geschichte einer Monatszeitschrift? Hier soll es nicht nur um uns gehen: Einschneidende Momente der jüngeren Geschichte Lateinamerikas und ihr Einfluss auf die Linke in der Bundesrepublik Deutschland haben uns besonders interessiert. Dafür blicken wir im ersten Teil auf Editorials aus den vergangenen 50 Jahren. Diese kurzen Texte sind besonders aussagekräftig, weil sie von der gesamten Redaktion geschrieben und diskutiert wurden. Sie stehen also dafür, wie die Redaktion von damals dachte, welche thematischen Schwerpunkte sie setzte und wie sie sich zu diesen positionierte.

Dass die LN von Beginn an klare Positionen bezogen haben, wird schon in der Gründungsgeschichte deutlich: Der Putsch am 11. September 1973 und das gewaltsame Ende des Projektes Allendes in Chile – an dessen 50. Jahrestag in diesem Jahr erinnert wird – trafen in der BRD auf eine politisierte Jugend, die sich bereits während des Vietnamkriegs mit sogenannten Dritte-Welt-Themen beschäftigt hatte. Kurz vor dem 11. September gründete eine Gruppe Interessierter in Hessen die Chile-Nachrichten als Solidaritätsprojekt und wichtige Informationsquelle. Diese wurden später in Lateinamerika Nachrichten umbenannt.

Der Idee der kritischen Solidarität sind die LN treu geblieben. Doch an den Editorials lassen sich im Laufe der Jahre immer wieder Neuorientierungen ablesen: Der in den 1970er und 80er Jahren starke Bezug auf die Befreiungsbewegungen trat in den 90ern immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen liegt der Schwerpunkt heute stärker auf Themen wie dem Kampf gegen Neoliberalismus, für Umweltschutz und indigene Rechte, gegen Autoritarismus und für Rechte von FLINTA* (Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre, trans und agender Personen). Gleichzeitig werden neue linke (Regierungs-)Projekte und die Rolle der BRD in der Berichterstattung weiterhin kritisch begleitet.

Es geht nicht nur um die Vergangenheit

Der zweite Teil unseres Jubiläumshefts könnte wohl mit „Wir über uns” überschrieben sein – auch wenn es natürlich um deutlich mehr geht. Einerseits um die großen Fragen: Wie funktioniert unsere Redaktionsarbeit? Was bedeutet journalistisches Arbeiten für uns? Wie konnten sich die LN so lange als offenes Kollektiv halten? Oder auch: Warum spielt der Kulturteil heute eine größere Rolle als früher? Andererseits geht es um das Verhältnis zwischen LN und linken Solidaritätsbewegungen: Wie war das, als die GSG-9 im Jahr 1999 unsere Etage im Mehringhof stürmte? Wie hat Christian Ströbele in den 1980er Jahren das Geld für Waffen nach El Salvador gebracht?

Doch es geht nicht nur um die Vergangenheit, denn – wir haben noch viel vor! In den letzten Jahren sind wir multimedialer geworden: Podcasts, soziale Medien, Gesprächsrunden im digitalen Raum zu aktuellen Ereignissen und ein Dokumentarfilm anlässlich unseres Geburtstages, um nur einiges zu nennen.
Ein wenig Spaß darf auch nicht fehlen: Rätselfans können gern versuchen, unser Kreuzworträtsel zu knacken. Statistik- und Geschichtsbegeisterte können in der Mitte des Heftes eine kleine Zeitreise mit den wichtigsten Daten und Zahlen zu LN unternehmen.

Zeitschrift in Eigenregie Von Artikelideen bis zur Verschickung der Hefte, hier im Oktober 2022 (Foto: Jan-Holger Hennies)

Doch wer ist das eigentlich, die LN-Redaktion, und wer schreibt die Beiträge? Zur Zeit zählt unser ehrenamtliches Redaktionskollektiv rund 20 Personen in ständig wechselnder Konstellation. Wir sind unterschiedlich alt und sozialisiert und haben verschiedene Bezüge zu Lateinamerika. Doch uns eint das Engagement und die Leidenschaft für eine kritisch-solidarische Berichterstattung in Eigenregie. Wie schon zu Gründungszeiten versteht sich unsere Redaktion als ehrenamtliches und offenes Kollektiv: Jede*r kann bei LN mitmachen und jede*r kann sich einbringen – ganz ohne Chefredaktion. Diese Struktur bringt seit der ersten Stunde ein Kommen und Gehen von Redakteur*innen mit sich. Das lässt sich auch 50 Jahre nach der Entstehung der Zeitschrift als produktives Chaos beschreiben und ist manchmal ziemlich anstrengend. Es könnte aber auch einer der Gründe sein, warum es uns als ehrenamtliches Kollektiv überhaupt noch gibt: Wir befinden uns in einem stetigen Prozess der Erneuerung! Die LN haben sich professionalisiert In 50 Jahren sahen die LN immer wieder anders aus: Das Cover war lange schwarz-weiß, dann mit farbigem Umschlag, irgendwann klassisch schwarz und rot und zum 8. März oft in Lila. Die erbittertsten Diskussionen in der Redaktion waren und sind bis heute nicht unbedingt immer inhaltlicher Natur, sondern betreffen technische oder praktische Neuerungen. In die Geschichte eingegangen sind so die Debatten über die „Computerisierung“ der Redaktionsarbeit und die Nennung der Namen von Autor*innen. Die LN haben sich durch solche Entscheidungen nicht nur verändert, sondern auch professionalisiert: „Höherer journalistischer Anspruch, wesentlich höherer Aufwand in Sachen Layout – die Arbeit an einer Ausgabe der LN ist nicht weniger geworden, sondern mehr“, hieß es schon vor 25 Jahren.

Seit unserer Gründung im Juni 1973 verstehen wir uns als Zeitschrift für kritische Gegenöffentlichkeit als Teil der Linken. Wir wollen unsere Stimmen in den Dienst derjenigen stellen, die in den dominierenden Medien gar nicht oder nur entstellt auftauchen: Aktivist*innen sozialer Bewegungen, Feminist*innen und LGBTIQ+, Schwarze, Indigene, People of Colour – all jene, deren Kämpfe gegen soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Unterdrückung viel zu wenig Beachtung finden.
Neben unseren politischen Überzeugungen schweißt uns die Freude an der praktischen Arbeit rund um die Heftproduktion zusammen. Selbst in Momenten größter Erschöpfung bei der Fertigstellung der neuen Ausgabe am sogenannten Umbruchwochenende, die sich nicht selten bis in die frühen Morgenstunden zieht, überwiegt die Motivation, eine interessante und notwendige Ausgabe zusammenzustellen. Neue Leute können schnell einsteigen: Die „Alten“ geben ihre Kenntnisse über das Layouten, Übersetzen und Schreiben ständig weiter, die „Neuen” lernen so, eine Zeitschrift herzustellen – vom ersten Brainstorming bis zur Verschickung. Auch deswegen war die Coronapandemie, während der die Redaktionssitzungen online stattfinden mussten, eine harte Zeit; sie hat aber auch die eine oder andere längst überfällige (digitale) Neuerung angestoßen.

Lange überfällig war auch ein Prozess, den wir Anfang dieses Jahres begonnen haben. Die LN wenden sich mit ihrer Berichterstattung zwar an eine hiesige Öffentlichkeit. Das darf jedoch nicht bedeuten, dass Lateinamerikaner*innen in unserer Redaktion und als Autor*innen noch immer unterrepräsentiert sind. Das wollen wir aktiv ändern und haben nun intensiveren Kontakt mit politische Gruppen der lateinamerikanischen Diaspora aufgenommen (siehe LN 587, Mai 2023). In den kommenden Monaten wollen wir gemeinsam weiter überlegen, wie wir stärker zusammenarbeiten können – und was sich dafür in unserer Arbeitsweise und der Zeitschrift ändern muss. Nur so können die LN in einer vernetzten Welt Menschen aus Lateinamerika und dem deutschsprachigen Raum zusammenbringen, um politische Kämpfe gemeinsam zu führen.

Apropos „gemeinsam“: Wir möchten in diesem Heft auch einige wichtige Menschen und Organisationen erwähnen, die LN in den vergangenen 50 Jahren begleitet haben. Zuallererst das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL), unsere „Schwesterorganisation“, mit der wir unser 50. Jubiläum gemeinsam feiern. In den vergangenen 50 Jahren haben LN und FDCL zusammen vieles auf die Beine gestellt – in den letzten Jahren vor allem Dossiers zu relevanten Schwerpunktthemen.
Ein riesengroßer Dank geht natürlich an alle, die diese 50 Jahre LN mit jeder neuen Ausgabe möglich gemacht haben: alle, die Texte organisiert, korrigiert, gelayoutet, Fotos geschossen und diskutiert, Essen gekocht und nach dem Umbruchwochenende das Chaos beseitigt haben. Und natürlich an alle ehrenamtlichen LN-Autor*innen. Über die Jahre hat sich ein weitgespanntes Netzwerk von Autor*innen in und aus Lateinamerika entwickelt, die uns mit Texten und Ideen versorgen und das Heft Monat für Monat möglich und interessant machen. Ein ebenso herzliches Dankeschön gilt unseren Abonnent*innen, denn Ihr sichert die Zukunft von LN.

Seit Beginn geht es den LN darum, auf kapitalistische Interessen zu blicken

Seit Beginn geht es den LN darum, auf kapitalistische Interessen zu blicken, auch der Bundesrepublik in Lateinamerika sowie auf ihre Mitverantwortung für Unterdrückung. Beispielhaft dafür stehen Waffenlieferungen nach Mexiko an die dortigen Repressionsorgane oder die gewaltsame Unterdrückung des Widerstands gegen extraktivistische und Infrastrukturprojekte, von denen auch und gerade europäische und deutsche Konzerne profitieren. Anders als uns Apologet*innen eines grünen Kapitalismus verklickern wollen, werden soziale Ungleichheiten infolge neoliberaler Politik größer. Es sind die Menschen im Globalen Süden, die die Folgen des im Norden zum großen Teil verursachten Klimawandels eher und mit größerer Wucht zu spüren bekommen. Unterdessen feiern rechte und Fake News-Kampagnen von Chile bis Spanien Erfolge. Politische Entwicklungen wie die aktuelle Verschärfung des Asylrechts in der EU können wir nur mit Sorge beobachten und versuchen, einer nach rechts rückenden Mehrheit durch gemeinsame Kämpfe etwas entgegenzuhalten.

Eine solidarische, kritische und unabhängige Berichterstattung ist heute und wird auch in Zukunft unverzichtbar sein. Diese Erkenntnis kollidiert mit praktischen Fragen: Wie können wir angesichts steigender Kosten unsere Finanzierung garantieren? Einfache Lösungen gibt es für diese Frage nicht, wir begeben uns aber gern auf die Suche – zusammen mit euch: Was wünscht Ihr euch? Wie würdet Ihr die LN in fünf oder zehn Jahren gerne lesen wollen? Denn eins steht für uns fest: Wir planen für die nächsten 50 Jahre!

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