Alle Mädchen fallen aus den Wolken
“Auch wenn die Liebe nicht zu erklären ist, dann lässt sie sich wohl beweisen; ein Liebersbeweis kommt dabei in seinem Wert der Liebe gleich“, Mao
Der in Schwarz-Weiß gedrehte, in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Aus heiterem Himmel laufende Film beginnt atemberaubend langsam. Die Kamera begleitet Marcia bei der Bewältigung ihres Alltags, dem die Liebe abhanden gekommen ist. Die Protagonistin kehrt von der Arbeit heim, verbringt einen leeren Abend, legt sich schlafen, steht, ohne mit der Wimper zu zucken, am nächsten Morgen wieder auf, weint, macht sich erneut auf den Weg zur Arbeit. Mit ihrem schweren Körper steht sie in einem Dessous-Laden neben einer spirrligen Kollegin, gähnend lehnt sich den beiden der Tag entgegen. Bis Marcia Mittagspause macht. Denn da wird sie, mitten im Zentrum von Buenos Aires, Opfer einer Entführung.
Kleinkriminelle beim Zeitvertreib
Ein herumstreunendes Lesbenpärchen schaltet sich in das Geschehen ein und der Film gewinnt allmählich seine Spannung, sein Tempo und auch seinen Witz. Die Kamera beobachtet die beiden bei ihrem kleinkriminellen Zeitvertreib und kurz darauf kreuzt sich ihr Weg mit dem Marcias. Kurzerhand erklärt eine der beiden der Dessous-Verkäuferin ihre Liebe, weist ihr dabei ohne Umschweife den Weg zum Sex. Ein skurriler Moment, in dem sich die Protagonistin rhetorisch zwar behaupten kann. Dennoch werden die beiden lesbischen Punks sie nicht mehr gehen lassen – im Nu sitzt sie gefesselt in einem gekaperten Taxi. Mao und Lenin, so die Namen der beiden Räuberinnen, haben Marcia einen Wunsch entlocken können und wollen diesen als Beweis für die Wahrhaftigkeit der geschworenen Liebe umsetzen: Marcia soll zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer sehen.
Roadmovie mit wechselnden Landschaften
Nach einer an wechselnden Landschaften und desolaten Gestalten vorbei führenden Reise, entfaltet sich Marcia wie eine große traurige Blume. Fortan begleitet sie Mao und Lenin freiwillig, und die drei gelangen in die Stadt Rosario, in der Lenins Großtante Blanca wohnt. In deren Haus lässt sich Marcia schließlich von Mao verführen. Als sie danach jedoch wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen wird, tut sich ein Abgrund auf, der tiefer ist als jener, an dem sie vor ihrer Entführung stand. Sie irrt durch das leere Haus der Großtante. Aber auch alle anderen Figuren irren umher, so dass sich dieser Moment des Filmes zu einem von den außerordentlichen Frauen getanzten Reigen verwirkt: die schöne verwitterte Großtante (mitsamt ihren Hühnern), eine zarte Untermieterin, die drei Reisenden.
Ausklinken aus der Zeit
Auf einer gemeinsamen Fahrt auf dem unwirklichen Fluss, an dem Rosario liegt, stirbt Blanca. Kontrastreiche Fotografien illustrieren die Trauerarbeit der erschrockenen Zurückgebliebenen. Hier erreicht der Film seinen ästhetischen Höhepunkt und klinkt sich aus der Zeit aus. Dieses Innehalten inmitten des Unterwegsseins der drei Hauptfiguren, das für jede zu einer Suche nach sich selbst geworden ist, verweist auch das Publikum in die Trostlosigkeit. Auf eine magische Weise jedoch gibt es gleichzeitig Geborgenheit. Die turbulent-kontemplative Initiationsfahrt Marcias, in die ‘andere’, wenngleich ebenso enttäuschende Liebe, Maos und Lenins Reise in die Realität jenseits eines verzogenen „Metropolen-Vagabundismus“ endet in einer wiederum atemberaubenden Stille des Auseinderdriftens der Figuren und ihrer Gefühle.
Tan de repente ist alles andere als ein stereotyper Coming-Out-Film. Was er erzählt, lässt sich selbstverständlich auch in den Rahmen eines Ereignisses stellen, das bisher einmalig ist in Lateinamerika: im Dezember 2002 wurde in Buenos Aires nach langem Kampf der dortigen Schwulen- und Lesbenverbände ein für die Hauptstadt geltendes Gesetz verabschiedet, das erstmals homosexuelle Partnerschaften anerkennt. Hierauf aber verweist der Film nur am Rande; immerhin berührt er – wenn auch die unverhüllte Darstellung lesbischer Identität bereits ein wichtiger Schritt ist – das Thema auf eine in erster Linie bizarre Weise.
Tan de repente geht weiter; es handelt sich bei Lermans Film um ein Werk, das vor allem demonstriert, was Stranger than… love ist: der Tod, der Verlust eines Anderen nach einem flüchtigen Beieinandersein. Er nämlich überbietet die Liebe in seiner Hartnäckigkeit wie der Schatten das Licht in dem wunderbaren Gesicht Blancas, wenn sie zu einer fortgeschrittenen Stunde in ihrer letzten Nacht noch einmal mit großen Zügen an einer Zigarette schmokt.
Tan de repente, Regie: Diego Lerman, Argentinien 2002, 90 Minuten.