ALLES DREHT SICH UM DIE MAS
An der Bewegung zum Sozialismus scheiden sich vor den Wahlen die Geister
Luis Arce, der Präsidentschaftskandidat der Bewegung zum Sozialismus (MAS), war unter Präsi-dent Evo Morales (2006–2019) Wirtschaftsminister und gilt in Bolivien als einer der Architekten der Wirtschaftspolitik der vergangenen 13 Jahre. Unter dem Label economía comunitaria („kommunitäre Wirtschaft”) wurden strategische Unternehmen wie das Erdgasunternehmen YPFB verstaatlicht, ein System von staatlichen Subventionen, wie die „Rente der Würde“ für arme Bevölkerungsteile, aufgebaut, und versucht, die Industrialisierung voranzutreiben. Insbesondere durch die Verarbeitung des im Salzsee Salar de Uyuni reichlich vorhandenen Lithiums erhoffte sich Bolivien einen Modernisierungsschub.
Die Fernsehdebatte der Kandidat*innen war ein Novum in der jüngeren Geschichte des Landes
Die Fernsehdebatte unter Präsidentschaftskandidat*innen war ein Novum in der jüngeren Geschichte des Landes, sie fand erstmals seit 18 Jahren statt. Der Gegenspieler von Arce, der neoliberale Ex-Präsident Carlos Mesa (2003-2005), schlug ein staatliches Programm zur Schaffung von Arbeitsplätzen vor. Langfristig, so steht es im Wahlprogramm, will Mesa die Wirtschaft aus der Abhängigkeit von Rohstoffverkäufen herausführen und sie „diversifizieren“.
Die weiteren Kandidat*innen sind im aktuellen Wahlkampf eher Randfiguren. Alle gehören dem Anti-MAS-Lager an und stellen vor allem für Carlos Mesa ein Problem dar. Denn je zersplitterter das Lager ist, umso besser stehen die Chancen für Luis Arce von der Bewegung zum Sozialismus, die Wahl bereits in der ersten Runde zu gewinnen. Nach dem bolivianischen Wahlrecht gewinnt ein*e Kandidat*in in der ersten Runde, wenn er*sie 40 Prozent der Wähler*innenstimmen erhält und gleichzeitig zehn Prozentpunkte Vorsprung vor dem*der Zweitplatzierten hat.
Durch den Rückzug von De-Facto-Präsidentin Jeanine Áñez aus dem Rennen um die Präsidentschaft Mitte September ist die Zersplitterung des Lagers zwar etwas geringer geworden, dennoch kann sich Carlos Mesa nicht sicher sein, dass er es mit Arce in eine Stichwahl schafft. Nur dann kann er sich Chancen auf einen Sieg ausrechnen. Die letzten Umfragen gaben ein unklares Bild ab. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ciesmori Anfang Oktober lag Luis Arce sechs Prozentpunkte vor Mesa. In einer Stichwahl, die auf dieses Ergebnis folgen würde, würde Carlos Mesa laut der Befragung gewinnen. Anders sieht es dagegen bei der Umfrage des Instituts CELAG aus. Hier erhält der Kandidat der Bewegung zum Sozialismus in der ersten Runde 44,4 Prozent und würde Carlos Mesa, der 34 Prozent erhält, mit 10,4 Prozentpunkten Vorsprung in der ersten Runde schlagen.
Die MAS gibt sich bereits siegessicher und spricht von einem „versteckten Stimmverhalten“. Ihrer Meinung nach geben viele, die die Bewegung zum Sozialismus wählen würden, diesen Umstand nicht an und mit diesen Stimmen würde man auf jeden Fall gewinnen. Geht es um die Mobilisierungsfähigkeit, liegt die ehemalige Regierungspartei auf jeden Fall vorne. Sie ist die einzige politische Kraft, die in der Lage ist, im ganzen Land Anhänger*innen in großen Mengen zu mobilisieren, während die anderen Kandidat*innen allenfalls regional begrenzt größere Menschenansammlungen zustande bringen.
Die Wahl wird die Spaltung des Landes nicht beenden
Genau das Vertrauen in transparente Wahlen wird mittlerweile jedoch von beiden Seiten untergraben. Die MAS spricht davon, dass „Familienangehörige“ der jetzigen Regierung die Wahlbehörde kontrollieren würden und diese kein Interesse an freien Wahlen hätten. Auf der anderen Seite warnte Innenminister Murillo den Generalsekretär der OAS, Luis Almagro, vor einem möglichen Wahlbetrug und vor durch die MAS angezettelte politische Unruhen.
Unter diesen Vorzeichen ist es eher unwahrscheinlich, dass nach den Wahlen Ruhe in das südamerikanische Land einkehrt. Je näher die Wahl rückt, umso höher wird die Nervosität. Denn beide Seiten misstrauen sich im höchsten Maße. Das macht eine friedliche Amtsübergabe nach den Wahlen unwahrscheinlich. Der Vorsitzende der Wahlbehörde, Salvador Romero solle „transparente Wahlen garantieren, weil das Volk sie braucht. Sollte das nicht geschehen, wird das Volk sich erheben“, meinte der Vorsitzende der „Interkulturellen“, Henry Nina. Die indigene Organisation gehört dem Einheitspakt verschiedener Campesino- und Indigenenorganisationen an, der sich in der Regierungszeit von Morales gespalten hatte und nach seinem Sturz wieder zusammenfand. Für den Einheitspakt wie für viele Gewerk- schafter*innen des bolivianischen Gewerkschaftsverbands COB kommt nur eine Regierung Morales in Frage. Viele Anhänger*innen der anderen Kandidaten*innen fürchten dagegen die Rückkehr der MAS an die Regierung. Deswegen ist es wahrscheinlich, dass die Wahl die Spaltung des Landes, die zur aktuellen politischen Krise geführt hat, nicht beenden wird.