Mexiko | Nummer 355 - Januar 2004

Am Rand von Mexiko, am Rand von NAFTA

Chiapas kämpft mit den Nebeneffekten der Freihandelszone

Der Zeitpunkt war trefflich gewählt. Der zapatistische Aufstand begann am 1. Januar 1994 simultan mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA. NAFTA hat an der Marginalisierung der chiapanekischen Bevölkerung nichts geändert. Im Gegenteil: Als agrarisch geprägtes Gebiet ist Chiapas vom Niedergang des mexikanischen Agrarsektors besonders betroffen. Der seit Dezember 2000 auf der Agenda der Regierung stehende Plan Puebla Panama (PPP) wird daran nichts Wesentliches ändern.

Marting Ling

Die mexikanische Regierung verknüpfte große Hoffnungen mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA), die Zapatistische Befreiungsarmee (EZLN) keine. Die EZLN behielt recht. Selbst das zentrale Ziel, mehr Jobs um jeden Preis, wurde netto weitgehend verfehlt. Zu diesem Ergebnis kommt die gerade erschienene Hintergrundstudie Promise and Reality der privaten Carnegie Stiftung für internationalen Frieden. Auch wenn es keine exakten Zahlen gebe, so hätten die zusätzlichen Arbeitsplätze im Exportindustriesektor bestenfalls die Verluste im Agrarsektor wettmachen können, werden die ersten zehn Jahre NAFTA bilanziert. Der Agrarsektor Mexikos, in dem fast jeder fünfte Mexikaner arbeitet, wird als großer Verlierer des Abkommens ausgemacht. Von den 8,1 Millionen Arbeitsplätzen Ende 1993 seien Ende 2002 nur noch 6,8 Millionen übrig geblieben. Sicher keine ausschließliche Folge von NAFTA, denn auch im Rahmen von Abkommen mit der Welthandelsorganisation (WTO) hat Mexiko Liberalisierungsschritte im Agrarbereich unternommen. Angesichts der überragenden Rolle der USA als Handelspartner auch in der Landwirtschaft sei dennoch ein Großteil der Jobverluste NAFTA zuzuschreiben, folgert die Studie.

Campesinos sehen kein Land
Nicht zuletzt die Zapatisten hatten von Anbeginn darauf aufmerksam gemacht, dass NAFTA die Existenzgrundlage vieler mexikanischer Bauern und Bäuerinnen untergraben würde. Vor allem die rund drei Millionen Maisbauern und -bäuerinnen samt ihrer Familien haben unter der Liberalisierung zu leiden. Insgesamt hängt die Existenz von 18 Millionen Menschen an der Maisproduktion. Die Maispreise fielen indes seit 1994 um 70 Prozent. Der Grund: importierter, hochsubventionierter Mais aus den USA. Über 100 Millionen Dollar Maissubventionen entfallen allein auf US-Produzenten für den mexikanischen Markt. Fairer Wettbewerb ist etwas anderes. Immer mehr klein- und mittelständischen campesinos wird so schleichend die Existenzgrundlage entzogen, liegen doch schon ihre Produktionskosten über den Preisen, zu denen die US-amerikanischen Agrarmultis anbieten.
Für viele Familien in ländlichen Regionen wie Chiapas wird das Überleben immer schwieriger. Neben einem Ausbau und Diversifikation der Subsistenzproduktion, setzen viele auf Migration. Entweder im Binnenland in Richtung Maquiladoras (Lohnveredelungsbetriebe) oder informeller Sektor im Norden oder gleich in Richtung gelobtes Hochlohnland USA. Dort gibt es durchschnittlich den sechsfachen Stundenlohn für vergleichbare Arbeit. NAFTA sollte die Migration in die USA eindämmen, erhofften sich die Politiker. Auch dieses Ziel wurde verfehlt. 400.000 MexikanerInnen machen sich Jahr für Jahr legal oder illegal in die USA auf. Die Überweisungen der gut zehn Millionen in den USA lebenden MexikanerInnen steigen von Jahr zu Jahr. Nach rund zehn Milliarden Dollar 2002 kommen dieses Jahr zwölf Milliarden US-Dollar zusammen. Eine Summe, die fast an die Erlöse aus dem Ölexport heranreicht.

Verlierer Chiapas
Auch wenn der Agrarsektor generell in Mitleidenschaft gezogen wurde, trifft es die Kleinbauern und -bäuerinnen am härtesten. In den südlichen und südöstlichen Regionen wie Chiapas oder Oaxaca überwiegt die Anzahl kleiner Farmen in der Größe von zwei bis fünf Hektar. Schon traditionell sind in Mexiko kleine Farmen durch erschwerten Kreditzugang benachteiligt. Die Exportorientierung wegen des Freihandelsabkommens hat diese Kluft vergrößert.
Gefördert werden kommerzielle Großfarmen, die Gemüse oder Früchte für den US-Markt produzieren. Die Grundnahrungsmittel anbauenden campesinos werden dagegen durch die US-Konkurrenz selbst vom heimischen Markt verdrängt. Kaum 18 Prozent der Haushaltseinkommen stammen bei Bauernfamilien, die Land in Gemeindeeigentum (ejido) bebauen, aus der Landwirtschaft, schätzen die Autoren der Carnegie-Studie. Der Rest wird informell oder durch Überweisungen eingenommen.
Die Armut bringt gravierende ökologische Schäden mit sich. 630.000 Hektar Wald wurden jährlich seit 1993 in den südlichen Regionen Mexikos abgeholzt – um Brennholz zu gewinnen oder Flächen für den durch die sinkenden Einkommen steigenden Bedarf an Subsistenzanbau.
Doch nicht nur die Armut ist Grund für die ökologische Schädigungen. Obwohl Mexiko 1998 den Import von genmanipuliertem Maissaatgut untersagt hat, sind Teile Mexikos bereits kontaminiert. Dadurch steht die Artenvielfalt beim Mais, als dessen Geburtsland Mexiko gilt, auf dem Spiel.

Plan Puebla Panama
Dass der Süden Mexikos und Chiapas von NAFTA nicht profitiert hat, ist auch die Meinung von Präsident Vicente Fox. Schließlich gibt ihm das ein Argument für sein Lieblingsprojekt Plan Puebla Panama, mit dem seiner Meinung nach „die Früchte der Globalisierung in allen Teilen Mexikos ankommen“. Am PPP arbeitet die Regierung Fox seit Dezember 2000. Das mit den mittelamerikanischen Staaten Belize, Guatemala, El Salvador, Honduras, Guatemala, Nicaragua, Costa Rica und Panama vereinbarte Entwicklungsprogramm soll die Region zwischen dem südmexikanischen Bundesstaat Puebla und Panama durch den Anschluss an den Weltmarkt von der Armut befreien. Eine Devise wie einst bei NAFTA. Konkret beinhaltet der Plan Investitionsanreize für multinationale Konzerne. Die sollen zudem durch das niedrige Lohnniveau im mexikanischen Süden geködert werden, das noch 40 Prozent unter dem der Maquilas im Norden liegt. Von dort wurden seit 2000 weit über 200.000 Arbeitsplätze in Richtung Asien, vor allem China verlagert. In der Tat sind die niedrigeren Lohnkosten ein schlagendes Argument für einen Industriezweig, der in Mexiko 97 Prozent seiner Produktionsmittel importiert. Entwicklungsökonomisch ist dies aber ein großes Manko der Maquilaindustrie, weil einheimische Wertschöpfungsketten durch die Einbindung von Zulieferern fast vollständig entfallen – einschließlich der damit einhergehenden Beschäftigung und Einkommen.
Neben dem Lohnargument will der PPP mit der Vermarktung der regionalen Biodiversität und dem Ausbau von Infrastruktur und Monokulturen Anreize bieten. Und obwohl Florencio Salazar, der PPP-Koordinator von Fox erklärte, dass das Hauptziel des Programms darin bestünde, den Menschen mehr Möglichkeiten zu eröffnen, sind eben diese nicht in die Planung einbezogen. Als die zapatistische Führung 2001 ihren Marsch in die Hauptstadt antrat, um für das „Gesetz für indigene Rechte und Kultur“ einzutreten, drohte der mexikanische Unternehmerverband Copamex damit, den PPP platzen zu lassen, falls die Regierung auf die Forderung der Zapatisten eingehe. Mit Erfolg: Das verwässerte Indígena-Gesetz sieht kein Mitspracherecht für die betroffenen Bauern und Bäuerinnen sowie die Gemeinden vor. Vom PPP kann sich die Bevölkerung sowenig erwarten wie von NAFTA. Bestenfalls prekäre, formelle Arbeitsplätze. Schlimmstenfalls und wahrscheinlicher wird der PPP zur forcierten Bekämpfung der EZLN benutzt. Selbst Salazar gibt offen zu, dass dies eine mögliche Konsequenz sein könne. Aber wie gesagt, eigentlich gehe es darum, „den Menschen mehr Möglichkeiten zu eröffnen“.

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