Argentiniens Kampf gegen die Haare
Qualifikation für die Fußballweltmeisterschaft – Teil II
Summa summarum war Argentinien in den letzten 20 Jahren die erfolgreichste lateinamerikanische Mannschaft. Zweimal Weltmeister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist allerdings der Wurm drin. Bei der Qualifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 gegen Kolumbien die höchste Heimschlappe in der Länderspielgeschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Dopings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den verletzten Caniggia bereits im Achtelfinale aus. Der Trainer Alfredo Basile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Daniel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeistertruppe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Weltmeisterkapitän von 1986. Der Grund: Passarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als erster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spielen durfte er indes nicht, seiner Meinung nach wegen Maradona, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswegen für José Luis Brown als Libero plädierte. Jedenfalls stellte Trainer Carlos Bilardo Brown auf, Argentinien wurde Weltmeister und die Intimfeindschaft Passarella-Maradona nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas erste Amtshandlung war denn auch zielgerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hätten in der Nationalmannschaft fortan nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in erster Linie galt: dem ohrberingten Maradona und dessen langmähnigem Freund Caniggia. Eine glatte Überreaktion, war doch Maradona wegen seines Dopingvergehens ohnehin 15 Monate gesperrt und damit für die Nationalmannschaft kein Thema. Caniggia wiederum war in Europa wieder einmal auf Vereinssuche un es war äußerst unklar, ob er überhaupt weiter für die Auswahl spielen wollte. Überreaktion aber insbesondere deswegen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mannschaft, Mittelfeldspieler Fernando Redondo und Torjäger Gabriel Batistuta lange Mähnen zierten.
Der Trainer als Frisör
Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einlegen, Redondo machte klar, daß seine langen Haare ein Teil seiner Persönlichkeit seien und er unter diesen Bedingungen nicht weiter spielen würde, Batistuta besuchte hingegen flugs den Frisör und ließ sich die Haare schneiden. Für ihn stand auch am meisten auf dem Spiel. Schließlich war er auf dem besten Wege, Maradona als Rekordtorschütze der Nationalmannschaft zu verdrängen, Pausen à la Caniggia kämen da ungelegen.
Die Krise geht weiter
Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wurde zum Fehlschlag. Maradona ließ sich von seinem Ferienort einfliegen, begutachtete die Spiele und lästerte über die Darbietungen. Vor allem die blamable 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Munition. Das unglückliche Ausscheiden gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Haussegen hing schief. Nur noch ein knappes Jahr bis zur Qualifikation und der argentinische Fußball in der großen Sinnkrise. Zwei Turniere hintereinander frühzeitig gescheitert, die einstige Turniermannschaft par excellence begann an sich zu zweifeln.
Ein haariger Kompromiß
Maradonas Sperre war unterdessen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Europa, Benfica Lissabon, war Caniggia wegen unmotivierten Auftritten bei den Fans derart in Ungnade gefallen, daß er auf offener Straße eine Abreibung verpaßt bekam. Daraufhin kehrte er der europäischen Diaspora den Rükken, zumal Maradona bei Boca Juniors sehnsüchtig auf seinen erklärten Lieblingsmitspieler wartete. Wenn sie zusammen spielten, harmonierten sie wie Zwillinge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, beziehungsweise wegen roter Karten gesperrt. Titel blieben so für Argentiniens populärsten Club Boca Juniors de Buenos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zunehmend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifikationsspiel gegen Bolivien benennen und Caniggia spielte immer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fußballfan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unverzichtbar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kompromißbereit. Um ganze drei Zentimeter ließ er sich die Haare schneiden. Passarella konnte an dieser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Caniggia ins Aufgebot. Alles in Butter, da sich das Problem Redondo wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Argentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Favorit schien wieder auf den Erfolgspfad zurückgekehrt zu sein.
Ecuadors bolivianische Taktik
Nach dem Heimspiel in Buenos Aires stand das Auswärtsspiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Weltmeisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Bolivien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flachlandbewohner aus Argentinien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und klimatischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Meter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella bezeichnete die Höhe als zusätzlichen Spieler Ecuadors. Mit 20 Litern Sauerstoff sollte dieser zusätzliche Spieler bekämpft werden. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Carlos Morales behielt Recht: „Batistuta und Caniggia werden Schwindelanfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen können“. Das argentinische Stürmerduo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Niederlage die logische Konsequenz. Ecuador hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bisherigen fünf Heimspiele gewonnen, nur gegen die Allklimaspieler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Auswärtsbilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vierten Platz.
Zurück in der Krise
Das nächste Auswärtsspiel Argentiniens war nun in Perus Hauptstadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Argentinier ein torloses Unentschieden retten. Neben dem Torwart Burgos war Abel Balbo der auffälligste Spieler Argentiniens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer halben Stunde duschen gehen. Caniggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: „Ich schäme mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht gespielt habe. Ich suche keine Entschuldigungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Entschuldigungen suchen.“ Vorerst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Verein in Europa und befindet sich nun wieder in Verhandlungen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturmpartner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im nächsten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länderspieltorrekord von 34 zu überbieten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch gestohlen. Im Tor Paraguays steht nämlich José Luis Chilavert, Torhüter und Torjäger in einer Person. Der Keeper des argentinischen Vereins Velez Sarsfield hatte vor dem Spiel angekündigt, einen Treffer zu versenken. Nichts ungewöhnliches für Chilavert, der schon über 30 Elfmeter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnappte sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit einem Freistoß zum 1:1 Endstand. Argentinien war schwer getroffen. Ausgerechnet der Gastarbeiter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punktspiels eine leichte Tätlichkeit begangen, die nun schwer geahndet wurde. Mehrere Monate Ausschluß vom Spielbetrieb lautete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kündigte seinen Weggang aus Argentinien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chilavert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich verlor er seinen Nimbus als unfehlbarer Elfmeterschütze und versiebte gleich deren zwei in einem Punktspiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Abschluß der Vorrunde hinter Kolumbien an zweiter Stelle steht, punktgleich mit dem Ersten und geradezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußtsein war heftig angeknackst, gegen Mannschaften wie Peru und Paraguay nicht zu gewinnen, war reichlich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das venezolanische Team kein Länderspiel gewinnen können, von Punkten bei Qualifikationsspielen ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zurücktrat. Gegen Argentinien langte es immerhin zu einem Führungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Venezolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Treffer nicht, das Ziel Selbstbewußtsein für die anstehenden Spiele zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brachten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmeichelhafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letzten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellenführer Kolumbien. Unterdessen glänzte der wiedergenesene Redondo beim designierten spanischen Meister Real Madrid während Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch einige Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball bezeichnet, jammerte er nun gegenüber dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: „Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Argentinien haben keinen Maradona mehr, das ist viel schlimmer.“ Maradona zu berufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war dieser vereinslos und zudem hatte er in seiner vorerst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich aufmerksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elfmeter hintereinander verschossen hatte. Von den gegnerischen Fans verspottet, von Selbstzweifeln geplagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Erholung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Vertragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Redondo. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er seine Haare mindestens um drei Zentimeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem wegen einer Formkrise nicht mal berufen worden, so daß Argentinien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damaligen langhaarigen Leistungsträger Redondo, Batistuta und Caniggia antrat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen stehen seitdem wieder auf Kurzhaarschnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.