Nummer 312 - Juni 2000 | Uruguay

Aufarbeitung in Bewegung

Neue Hoffnungen bei der Frage der Menschenrechte

Staatspräsident Jorge Batlle von der konservativen Colorado- Partei gibt Anlass zur Hoffnung in der Aufarbeitung der Diktatur.15 Jahre nach dem Ende der Militärherrschaft sollen endlich Fälle der Verschwundenen aufgeklärt werden.

Stefan Thimmel

Schweigend, aber optimistischer als in den Jahren zuvor marschierten am 20. Mai ca. 70.000 UruguayerInnen durch das Zentrum der Hauptstadt Montevideo, um an die Verhafteten und die Verschwundenen der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 zu erinnern. Unter dem Motto „Wo sind sie? Die Wahrheit ist möglich und notwendig!“ wurde der Zug von den Familienangehörigen der ca. 160 „Verschwundenen“ angeführt. Mit dem zum fünften Mal stattfindenden Marsch sollte auch an die am 20. Mai 1976 in Argentinien ermordeten uruguayischen Senatoren Zelmar Michelini und Héctor Gutiérrez Ruiz erinnert werden.
Die Hoffnung, dass nun, nach fünfzehn Jahren Demokratie, das Schicksal der Verschwundenen endlich aufgeklärt werden könnte, gründet sich auf Jorge Batlle, den neuen Staatspräsidenten von der konservativen Colorado-Partei seit dem 1. März 2000.
In den gut zwei Monaten der Amtszeit von Batlle ist die Vergangenheitsbewältigung in dem südamerikanischen Land, dass unter den Militärs in ein „großes Gefängnis“ verwandelt wurde (jeder fünfzigste im Land war während der Diktatur inhaftiert), weiter voran gekommen als in den anderthalb Jahrzehnten zuvor.
Die überraschende Haltung von Jorge Batlle hat auch mit der Konkurrenz zu seinem Vorgänger, dem ebenfalls der Colorado-Partei angehörenden Julio María Sanguinetti zu tun. Sanguinetti steht für die Aussage „In Uruguay gibt es keine Fälle von Kindesentführungen“. Diese Haltung konnte er über die Jahre seiner ersten und zweiten Präsidentschaft von 1985 bis 1990 und von 1995 bis 2000 durchhalten, bis Juan Gelman seinen Weg kreuzte.
Mit einem offenen Brief, den der argentinische Dichter Juan Gelman im Sommer 1999 an den damaligen uruguayischen Präsidenten Sanguinetti adressierte, erreichte der Fall eine internationale Öffentlichkeit. Mehrere hundert JournalistInnen, SchriftstellerInnen und KünstlerInnen weltweit erklärten ihre Solidarität und Unterstützung für Gelman, der seit mehr als 23 Jahren versuchte, das Schicksal seines Ende 1976 in Gefangenschaft geborenen Enkelkindes aufzuklären. Sanguinetti hatte sich, trotz des starken nationalen wie internationalen Drucks, beharrlich geweigert, auch nur anzuerkennen, dass es in Uruguay Fälle von Verschwundenen gibt. Zudem beschuldigte er Juan Gelman der Parteilichkeit und bezeichnete ihn öffentlich als ehemaligen Montonero (peronistische Guerilla in Argentinien Mitte der 70er-Jahre), in der Hoffnung, ihn dadurch zu diskreditieren. Mehr noch, immer offensichtlicher wird, dass der Ex-Präsident über viel mehr Details der „Operación Cóndor“, der Gemeinschaftsaktion der Militärregierungen Argentiniens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays in den 70er- und 80er-Jahren, informiert war, als bisher vermutet wurde (Vgl. LN 297).
Der 72-jährige Politveteran und Nachfahre des legendären Präsidenten José Batlle y Ordóñez erreichte innerhalb von nur zwei Monaten einen radikalen Politikwechsel in Uruguay: Am 31. März 2000 traf er sich mit Gelman und beide verkündeten öffentlich die Nachricht vom Auffinden der Enkeltochter des Schriftstellers (Vgl. LN 311). In den folgenden Wochen traf sich Batlle als erster uruguayischer Präsident mit den Angehörigen der Verschwundenen und ordnete in weiteren Einzelfällen Untersuchungen an. Zudem empfing er VertreterInnen der uruguayischen Menschenrechtsorganisation Servicio Paz y Justicia (Serpaj), die dem Präsidenten eine Liste mit Namen von 162 uruguayischen und vier argentinischen StaatsbürgerInnen übergaben.

Wahrheitskommision vorgesehen

Die Haltung Batlles hat die Debatte über die Vergangenheit seit dem Plebiszit von 1989, durch das den an Verbrechen beteiligten Militärs Immunität garantiert wurde, wieder deutlich angeheizt. Das Gesetz wurde 1989 von vielen UruguayerInnen auch nur deshalb angenommen, weil es den Verzicht auf Strafverfolgung der Tupamaros, der linken Guerilla, mit der Immunität der Militärs verknüpfte. Allerdings verlangt Artikel 4 dieses Gesetzes auch, dass die Fälle der Verschwundenen aufgeklärt werden. Jetzt, fünfzehn Jahre nach dem Ende der Militärherrschaft, soll damit endlich begonnen werden. Dies soll laut Batlle durch eine Wahrheitskommission über das Schicksal der Verschwundenen geschehen, die sich aus verschiedenen Persönlichkeiten des Landes zusammensetzen und Batlle einen Bericht vorlegen soll. Über Aufgabe und Mitglieder der Kommission gibt es aber immer mehr Widersprüche. So ist die “Vereinigung der Mütter und Familienangehörigen der Verschwundenen“ nicht bereit, unter den bisher bekannt gewordenen Bedingungen in der Kommission mitzuarbeiten. Und auch die Linke verhält sich zögerlich, weil ihr der vorgeschlagene Weg nicht weit genug geht. Von seiner eigenen Partei und seinem Koalitionspartner, den Blancos, wird ihm hingegen jede Zusammenarbeit verweigert. Für den Ex-Präsidenten Luis Alberto Lacalle (1990-1995) ist das Thema „abgeschlossen”.
Dabei steht Batlle unter Zeitdruck, seit die Richterin Estela Jubette angeordnet hat, dass staatlicherseits eine Untersuchung über das Schicksal der 1976 verschwundenen Lehrerin Elena Quinteros durchgeführt werden muss. Die neue Stimmung im Land hat auch das Militär erkannt; nach bewährtem Modell versuchte es, unterschwellig Angst vor einem etwaigen Eingreifen zu schüren. Aber auch hier hat sich der neue Präsident erstaunlich klar verhalten. Der Chef der Streitkräfte, der sich drohend geäußert hatte, wurde umgehend entlassen.
Die unerwartet deutliche Haltung des neuen Staatspräsidenten, die auch den Linken Respekt abnötigt, öffnet den politischen Raum für weitere Untersuchungen. So kündigten die Regierungen der Departamentos Rocha und Colonia an, dass sie jetzt bereit sind, Untersuchungen über die sterblichen Überreste von nicht identifizierten Personen auf den lokalen Friedhöfen zu eröffnen. Die Mehrheit dieser Leichen war zwischen 1976 und 1979 an den Küsten des Río de la Plata und des Atlantiks aufgefunden worden. Dass dies gerade kurz vor den im Mai anstehenden, landesweiten Regionalwahlen angekündigt wurde, zeugt von einem Politikwechsel in Uruguay, wo im Gegensatz zur jüngsten Entwicklung in Argentinien die Zeit der Militärdiktatur noch kaum aufgearbeitet ist.
Auch im argentinischen Parlament werden die Bemühungen Batlles gewürdigt. „Batlle hat sich in den ersten Präsidenten eines lateinamerikanischen Landes verwandelt, der offiziell anerkannt hat, dass der ,Plan Cóndor’ existierte”, so die Resolution des Abgeordneten Bravo, die im Parlament behandelt wurde.

Schluss im Wahlmarathon

Einen Einfluss auf die Kommunalwahlen, die am 14. Mai in Uruguay stattfanden, hatten diese Ereignisse wider Erwarten kaum. Das Linksbündnis Encuentro Progresista–Frente Amplio (EP–FA) mit seinem Vorsitzenden Tabaré Vázquez ist endgültig zur stärksten politischen Kraft im Lande geworden. Trotzdem gewannen in allen 18 Departamentos, teilweise jedoch nur sehr knapp, die traditionellen Parteien. Das gesamte Interior, wie in Uruguay alles außerhalb von Montevideo genannt wird, teilen also auch für die nächsten fünf Jahre die Blancos und Colorados, wie schon seit über 170 Jahren, unter sich auf. In Montevideo errang der bisherige Bürgermeister Mariano Arana einen beeindruckenden Sieg. Fast 60 Prozent (umgerechnet auf das ganze Land sind das 44 Prozent) stimmten für den Kandidaten des Linksbündnisses, der seit fünf Jahren die Hauptstadt regiert und sich steigender Zustimmung über alle Parteigrenzen hinweg erfreut.
Für die UruguayerInnen waren diese Wahlen der Schlusspunkt eines langen Wahlmarathons. Jetzt ist zuerst einmal wahlfreie Zeit bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen Ende 2004.
Batlle hat in einer Rede Mitte Mai davon gesprochen, dass “alle in diesem Land absolut frei und gleich“ sind. Nun muss er sich allerdings auch immer öfter Kritik an seinen Sonntagsreden gefallen lassen. Vor dem Gesetz sind eben nicht alle gleich, es gibt viele UruguayerInnen, speziell im Militär, die nicht für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der zwölfjährigen Diktatur zur Rechenschaft gezogen wurden. Fast schien es schon, als hätten sich die UruguayerInnen mit den unaufgeklärten Verbrechen in den 15 Jahren Demokratie abgefunden. Durch den Politikwechsel in Bezug auf die Verschwundenen wird der Ruf nach einer Bestrafung der Täter nun wieder lauter.

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