Aufbruchstimmung trotz Einheitsprogrammatik
Kurz vor den Wahlen im November geht es der Bevölkerung um mehr als nur einen neuen Präsidenten
Wer heute in Nicaragua aufs Land fährt und dort versucht, ein Stimmungsbild zu den kommenden Wahlen einzufangen, muss nicht lange suchen: Auch dort, wo der Bildungsgrad gering ist, hat jedeR eine Meinung zu den Kandidaten. „Daniel [Ortega] würde ich niemals wählen. Klar, er hat viel gemacht für uns in den 80ern: Er hat uns Land gegeben, Bildung, aber mit ihm sind auch der Militärdienst und der Krieg gekommen, und die Särge mit den Gefallenen sind ein Bild, das ich nie wieder sehen möchte“, ist sich die 43-jährige allein stehende Bonbonverkäuferin Claris sicher. Sie lebt von den Überweisungen ihres Sohnes in Miami. Auch der 50-jährige Familienvater und Landarbeiter Joaquín hat eine klare Position: „Ich wähle die PLC, weil sie uns Arbeit gegeben hat und für Ruhe sorgt. Die Leute von der FSLN wollen nur stören und Unfrieden stiften.“ Auf die Frage, welche Arbeit die PLC denn geschaffen hätte, antwortet er: „Die Maquilas.“ Dem mittelständischen Landwirt Raimundo hingegen fällt die Wahlentscheidung leicht: „Ich bin auf der Seite der Frente [FSLN] und werde es immer sein. Genauso wie alle in der Familie meiner Frau immer die PLC wählen werden.“
Die Leichtigkeit, mit der man über die kommenden Wahlen ins Gespräch kommt, spiegelt sich in der prognostizierten Wahlbeteiligung. Sämtliche Umfragen gehen davon aus, dass zwischen 85 und 90 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung an die Urnen gehen werden. Das ist selbst für Nicaragua eine enorm hohe Zahl.
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Dabei unterscheiden sich die Parteiprogramme der vier Kandidaten nur unwesentlich. Die Gran Alianza Nicaragua Triunfa, die von der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) angeführt wird, tritt mit Daniel Ortega als Präsidentschaftskandidaten an. Unter dem Motto „Unida, Nicaragua triunfa“ (Gemeinsam triumphiert Nicaragua) setzt Ortega auf Frieden und Versöhnung und ging gleich mehrere Allianzen mit ehemals verfeindeten Parteien und Gruppierungen ein. Für die andere etablierte Partei des Landes, die liberale PLC (Partido Liberal Constitucional), tritt José Rizo an. Er hält noch immer am Kurs des wegen Korruption verurteilten Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán fest. Alemáns PLC und Ortegas FSLN teilten sich bereits 1999 die Macht über wichtige staatliche Institutionen auf und nutzen seitdem ihre überwältigende Parlamentsmehrheit, um die Handlungsfähigkeit des aktuellen Präsidenten Bolaños zu beschneiden und ihrer eigenen Klientel Vorteile zu sichern.
Beide Wahlalternativen haben nun Konkurrenz bekommen: Der unabhängige Liberale Eduardo Montealegre kandidiert für die ALN (Alianza Liberal Nacional) und steht für eine Fortführung der neoliberalen, US-treuen Politik von Enrique Bolaños. Vierter Kandidat ist Edmundo Jarquín von der Allianz MRS (Movimiento Rescate del Sandinismo) – einer Abspaltung der FSLN.
Themen aller Parteien sind die Förderung von Landwirtschaft und Kleinbetrieben durch günstige Kredite, Investitionen in Gesundheit und Bildung, Schaffung von Arbeitsplätzen und die Lösung der Energiekrise. Niemand schlägt eine Abkehr vom Neoliberalismus oder einen Konfrontationskurs mit den USA vor, auch wenn die beiden sandinistischen Optionen mit mehr Maßnahmen für die verarmten Unterschichten werben.
Umfragewerte und Prognosen
Die Analyse von Wahlprognosen ist derzeit eine der Hauptbeschäftigungen von JournalistInnen, Intellektuellen und AktivistInnen in der Hauptstadt Managua. Die letzte, Ende September durchgeführte Umfrage gleicht im Wesentlichen den vorangegangenen. Demnach liegt Daniel Ortega an der Spitze, verfehlt aber knapp den Sieg im ersten Wahlgang. Dafür werden in Nicaragua mindestens 35 Prozent der Stimmen benötigt, die aber nur dann ausreichen, wenn der Zweitplatzierte um mindestens fünf Prozentpunkte dahinter liegt. An dieser zweiten Position befindet sich derzeit Eduardo Montealegre von der ALN. Nur noch geringe Chancen auf die Präsidentschaft hat Edmundo Jarquín von der Allianz MRS, dem zurzeit rund 20 Prozent ihre Stimme geben wollen. José Rizo und die PLC liegen bei rund zehn Prozent.
Sollte Ortega nicht im ersten Wahlgang gewinnen, würden sich allerdings in der für Dezember angesetzten Stichwahl die „antidanielistischen“ Kräfte vereinen und für den Zweitplatzierten aus dem ersten Wahlgang stimmen.
Für die zeitgleichen Parlamentswahlen sagen die letzten Umfrageergebnisse einige einschneidende Veränderungen voraus. Auf die FSLN entfielen demzufolge 35 Parlamentssitze gegenüber bisher 38. Die PLC käme nach derzeit 40 Parlamentssitzen auf nur noch zwölf. Ein großer Teil ihrer Mandate ginge an Montealegres ALN (29 statt der bisherigen neun) und an die Allianz MRS, die erstmals ins Parlament und auf zwölf Sitze käme.
Für die Verabschiedung eines einfachen Gesetzes werden in Nicaragua 47 Abgeordnetenstimmen gebraucht. Genau auf diese Stimmenzahl kämen derzeit FSLN und PLC gemeinsam und könnten ihren Pakt weiterführen. Doch die Frente könnte auch gemeinsam mit der Allianz MRS Gesetzesvorhaben durchbringen. Das liberale Lager alleine hingegen erreicht keine Mehrheit und wäre auf die Zustimmung der MRS angewiesen, um die FSLN zu überstimmen.
Internationale Einmischung
Auch international ist der Ausgang der Wahlen von großem Interesse. Nicaragua ist bekannt für eine kämpferische und politisch relativ bewusste Bevölkerung. Seit der Erfahrung des US-finanzierten Contra-Kriegs der 80er Jahre wurde jedoch keine linke Regierung mehr gewählt. Ein Wahlsieg der FSLN wäre ein weiteres Zeichen für den Rückgang der US-Hegemonie in Lateinamerika.
So besuchte jüngst der US-amerikanische, republikanische Kongressabgeordnete und Vorsitzende des Unterkomitees für die westliche Hemisphäre, Dan Burton, Nicaragua. Dabei sprach er die vor jeder Wahl übliche Drohung aus, dass ein Sieg der FSLN Krieg, Inflation und Destabilisierung der Region bedeuten würde. Er kündigte auch an, dass die Auszahlung der Nicaragua zur Erreichung der Millenniumsziele zugesagten 175 Millionen US-Dollar bedroht sein könnte. „Ich kam nicht nach Nicaragua, um den Leuten zu sagen, für wen sie stimmen sollten. Es ist ihre Entscheidung. Aber es ist wichtig, dass die Leute wissen, was geschehen könnte, wenn die FSLN die Wahlen gewinnt.“ Bei der Präsidentschaftswahl 2001 hatte eine ähnliche Drohung gereicht, den in den Umfragen unterlegenen liberalen Kandidaten Enrique Bolaños ins Amt zu befördern.
Der große Trumpf, den Ortegas FSLN jedoch diesmal in der Hand hat, sind dessen Kontakte nach Venezuela und Kuba. Erstmals seit den 80er Jahren kann die FSLN eine außenpolitische Alternative zur Unterordnung unter die Hegemonie der USA bieten.
Die Autonomie eines so unbedeutenden Landes wie Nicaragua ist in Zeiten der Globalisierung gering. Der Druck der internationalen Finanzorganisationen und der US-Regierung, die Vereinbarungen des US-zentralamerikanischen Freihandelsvertrags CAFTA sowie das geringe wirtschaftliche Potenzial des Landes setzen den Ambitionen jedweder Regierung enge Grenzen. Trotz formal bestehender demokratischer Verhältnisse erinnert die Ungleichheit zwischen arm und reich im heutigen Nicaragua an somozistische Zeiten. Der Staat zieht sich – unter Mitverantwortung einer starken FSLN – immer weiter aus seiner Verantwortung zurück. Doch auch wenn der Handlungsspielraum gering ist: Man kann die Aufgabe gut oder schlecht machen.
Ortegas „Große Allianz“
Daniel Ortega denkt noch nicht daran, ob er die Aufgabe gut oder schlecht machen wird. Sein Ziel ist es, erst einmal wieder ins Amt zu kommen. Sein größtes Hindernis dabei liegt in der Angst vieler WählerInnen vor einer erneuten Polarisierung der Gesellschaft, Spannungen mit den USA und einem neuen Krieg. Demzufolge sind Versöhnung und Frieden die meistbenutzten Schlagworte in der Kampagne der FSLN. Um dies glaubwürdig zu machen, ging man Bündnisse mit fast allen ehemaligen GegnerInnen ein: Die Gran Allianza Nicaragua Triunfa besteht neben der FSLN aus dem katholischen Klerus, einigen evangelikalen Kirchen, Indígenas aus der Atlantikregion, ParteigängerInnen der ehemaligen Contra-Gruppierung PRN, sogar Angehörigen der heute bedeutungslosen Somoza-Partei PLN. Vizepräsidentschaftskandidat ist Jaime Morales Carazo, ehemaliger Chefunterhändler der Contra und späterer Berater des liberalen Präsidenten Alemán.
Da verwundert es nicht, dass die Allianz kaum noch als linke Kraft zu erkennen ist. Gonzalo Carrión vom Menschenrechtszentrum CENIDH befürchtet sogar, dass die Politik eines Präsidenten Ortega noch neoliberaler ausfallen würde als die seiner Gegner, wenn er seine „Seriosität“ beweisen wolle. Seite an Seite mit dem katholischen Klerus fordert die FSLN das Verbot der Abtreibung aus therapeutischer Indikation. „Das Thema hätte keiner der rechten Kandidaten in den Wahlkampf eingebracht“, meint Luz Marina Torres von der Frauenorganisation Colectivo de mujeres 8 de Marzo.
Die gebildete hauptstädtische Linke hat sich größtenteils von der Option FSLN abgewendet und bildete mit dem im Juni verstorbenen sozialdemokratischen FSLN-Dissidenten Herty Lewites die Allianz MRS. Das Bündnis richtet seinen Wahlkampf auf die Erinnerung an den populären Lewites und klagt die Parteien des so genannten Paktes von FSLN und PLC an. Sie präsentiert sich als integere Kraft an, die der demokratischen Kultur in Nicaragua gegen Korruption und Klientelismus der Etablierten zu ihrem Recht verhelfen will. Als solche ist sie auch glaubwürdig. Eine durchdachte Programmatik links von der Frente sucht man allerdings vergeblich.
Als der Präsidentschaftskandidat Edmundo Jarquín sich kritisch zu dem Verbot der Abtreibung aus therapeutischer Indikation äußerte, pfiff ihn seine Partei zurück, um keine Wählerstimmen zu riskieren. Erst auf Druck autonomer Frauenorganisationen schwenkte die Partei wieder zurück zur Befürwortung der bisherigen Regelung.
Über begrenzte Mittel können die anderen drei Kandidaten nicht klagen. Um die letzten unentschlossenen WählerInnen für sich zu gewinnen, mobilisierten die beiden etablierten Parteien zu ihren Wahlkampfauftaktveranstaltungen jeweils mehrere hunderttausend TeilnehmerInnen. Die populäre Rockgruppe Perrozompopo veranstaltete eigens eine Konzerttour um die Jugendlichen zum Wählen aufzurufen. Es herrscht so etwas wie Aufbruchstimmung. Die Konkurrenz unter vier ernstzunehmenden Optionen bringt Würze in Nicaraguas Politik.
Selbstbewusste Bevölkerung
Wichtiger als ein Wechsel der Regierung ist vielleicht das gesteigerte Interesse an politischen Belangen. Maria Lopez Vigil, Herausgeberin der Zeitschrift envío, knüpft an dieses Interesse an: „Die Suche nach einem guten patrón ist bei uns kulturell verankert. ‚Erzähl mir, dass du mich liebst, auch wenn´s gelogen ist!’, rufen die Leute. Unsere Arbeit als Intellektuelle besteht darin, politische Bildung zu vermitteln und den Gedanken zu stärken, dass nur eine selbstbewusste und gut informierte Bevölkerung zur Verbesserung ihrer eigenen Situation beitragen kann.“ William Rodriguez vom Sozialforschungsinstitut CEI (Centro de Estudios Internacionales) geht noch weiter. „Der Pakt [von PLC und FSLN] war nur möglich durch die Schwäche der sozialen Bewegungen. Was wir brauchen, ist ein dritter Akteur neben der Regierung und den Parteien, und das ist die organisierte Bevölkerung. Die Demokratie in Nicaragua ist jung, man kann nicht alles auf einmal verlangen. Viele der sozialen Organisationen, wie die Gewerkschaften der LehrerInnen und der Gesundheitsangestellten, sind Kinder der Revolution und haben sich lange an die Weisungen der FSLN gehalten. Sie sind aber dabei, erwachsen und damit unabhängige Interessenvertretungen ihrer Mitglieder zu werden.“
In dieser Richtung aktiv ist auch das nationale Verbraucherschutznetzwerk RNDC, das mit durchdachter Informations- und Mobilisierungsarbeit die Proteste gegen den spanischen Stromkonzern Unión Fenosa koordiniert. Seit Monaten kommt es in Managua zu Demonstrationen gegen den Konzern, der für zahlreiche lange Stromausfälle und Preiserhöhungen verantwortlich ist. Das Netzwerk versteht es, militante Protestaktionen auf der Straße mit konkreten Vorschlägen an die Parlamentsabgeordneten zu verbinden. Die Diskussion um eine Rückverstaatlichung ist in vollem Gange. Der Journalist William Grigsby sieht hierin einen qualitativen Sprung für die sozialen Bewegungen in Nicaragua, weil sie ohne Zutun der FSLN einen erfolgreichen Kampf führt.
Auch der Koordinator der ehemals sandinistischen Organisation Movimiento Comunal in Matagalpa, Sergio Saenz, sieht in dieser Strategie die Aufgabe seiner Organisation: „Wenn wir heute in Nicaragua etwas verändern wollen, geht das nur, indem wir Bewusstsein, politische Bildung und Organisationsfähigkeit der Bevölkerung stärken, und zwar unabhängig von Parteien, orientiert an Inhalten. Die Leute können sich nur selbst retten. In Nicaragua haben wir, als Erbe der Revolution, einen Staat, der relativ wenig repressiv ist und der Bevölkerung einiges an Beteiligungsmöglichkeiten bietet. Wir halten es derzeit für sinnvoll, diese Möglichkeiten auszuschöpfen. Das hindert uns nicht daran, vom MST in Brasilien Anregungen aufzunehmen, wenn auch dort die Strategie auf Unabhängigkeit vom Staat ausgerichtet ist.“
Und Hervin, Wahl-Neffe der eingangs erwähnten Bonbonverkäuferin Claris, bringt auf den Punkt, was Hoffnung macht: „Gane quien gane, seguimos luchando.“ – Wer auch immer gewinnt, wir kämpfen weiter.