Aktuell | Musik | Nachruf | Nummer 551 - Mai 2020 - Onlineausgabe

AUFRECHT BIS ZUM SCHLUSS

Mit Óscar Chávez ist einer der größten Musiker Mexikos und eine unermüdliche Stimme des Protests gegangen

„Durch Lieder verändert sich nichts, nur durch Taten. Aber sie helfen dabei, Bewusstsein zu schaffen.“ Seinen musikalischen Anspruch beschrieb Óscar Chávez, mexikanischer Sänger, Komponist und Schauspieler nüchtern und zugleich hoffnungsvoll. Am 30. April 2020 verstarb er mit 85 Jahren an den Folgen einer Infektion mit dem Coronavirus in seiner Geburtsstadt Mexico City.

Von Dominik Zimmer

Óscar Chávez bei einem Konzert in Mexico City an seinem 81. Geburtstag (Foto: ProtoplasmaKid via Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Chávez gehörte zu den Gigant*innen der Música Folclórica Mexikos und ganz Lateinamerikas. Geboren 1935, wuchs er in den einfacheren Vierteln von Mexiko City auf und hatte dabei von Kindheit an Zugang zu Kunst und Musik. Sein Vater war ein leidenschaftlicher (allerdings nie professioneller) Gitarrist. So kam Chávez schon früh in Kontakt mit der Trova, einem fast vergessenen Stil lateinamerikanischer Gitarrenmusik, der im 19. Jahrhundert von fahrenden Sänger*innen in Kuba erfunden wurde. Nach der kubanischen Revolution von 1959 sollte dieser Stil in der Trova Moderna, die die traditionellen Wurzeln mit Sozialkritik und Einflüssen moderner Rock- und Popsongs kombinierte, ein Revival erleben. Óscar Chávez galt als eine*r der prominentesten Vertreter*innen dieses Genres.

Obwohl Chávez bereits 1963 sein erstes Musikalbum veröffentlichte, verdankte er seinen Aufstieg zu Berühmtheit seinem Wirken als Schauspieler in Los Caifanes. Der 1967 gedrehte Kultfilm, an dessen Drehbuch unter anderen Carlos Fuentes mitschrieb, gilt als Meilenstein des mexikanischen Kinos. Als Mitglied einer Gruppe junger Männer aus der Arbeiterklasse, die sich Caifanes nennen und durch das Nachtleben Mexico Citys ziehen, verdiente sich Óscar Chávez seinen Spitznamen Caifán Grande, der ihm später auch als Musiker erhalten bleiben sollte.

Das zweite einschneidende Ereignis für den Werdegang des Sängers waren die Studierendenproteste des Jahres 1968 in Mexiko. Bei den Kundgebungen gegen die Politik des mexikanischen Präsidenten Díaz Ordaz spielte Chávez regelmäßig in Universitäten und auf öffentlichen Plätzen und stellte sich gegen die Gewalt und Repression der Regierung, die im Massaker von Tlatelolco mit über 200 Toten gipfelte. Von diesem Moment an war die politische Dimension in Chávez’ umfangreichem musikalischem Werk allgegenwärtig. Unter den über 50 Alben, die er veröffentlichte, bestehen alleine 20 aus politischen Parodien und Protestsongs. Exemplarisch dafür steht das Stück La Casita, in dem er mit beißender Ironie Gier und Machtmissbrauch von Funktionär*innen kritisiert, die die Ideale der mexikanischen Revolution verraten haben.

Ikone der mexikanischen (Pop-)Kultur

Darauf, dass er sich mit Menschlichkeit und Prinzipientreue zum Anwalt der einfachen Bevölkerung machte, beruhte Óscar Chávez’ immense Popularität. Er bezeichnete sich selbst dezidiert als links, politische Parteien waren ihm allerdings zeitlebens zuwider. Dagegen unterstützte er Bewegungen wie die zapatistische EZLN, die er einmal als „zu den wenigen anständigen Leuten in Mexiko gehörend“ bezeichnete, mit Einnahmen aus Konzerten und Plattenverkäufen. Seine unverwechselbare Stimme, seine Verdienste um die Wiederbelebung und Erneuerung musikalischer Traditionen seines Landes und sein bescheidener, skandalfreier Lebenswandel machten ihn aber auch weit über das linke politische Spektrum hinaus zu einer Ikone der mexikanischen (Pop-)Kultur. So war und ist Chávez’ Musik bis heute an unterschiedlichsten Orten präsent und überschreitet gesellschaftliche Grenzen. Macondo performte er mehrfach in Künstler*innencafés gemeinsam mit Gabriel García Márquez, die sehnsüchtige Ballade Por tí fehlt auf kaum einer Karaokeparty. Ein Jahr vor seinem Tod wurde er deshalb folgerichtig von seiner Heimatstadt als „Lebendiges Kulturerbe Mexico Citys“ ausgezeichnet. Óscar Chávez’ Stimme wird in einem mehr denn je von Ungleichheit und Ungerechtigkeit gebeutelten Mexiko fehlen. Sein musikalisches Erbe aber wird überdauern. Descansa en paz, Caifán Grande.

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