Bolivien | Nummer 486 - Dezember 2014

Ausgleich statt Radikalität

Eine Analyse zum erneuten Wahlsieg von Präsident Evo Morales

Evo Morales wird im Januar 2015 seine dritte Amtszeit als Präsident Boliviens antreten. Die Zustimmung der Bevölkerung zu der aktuellen Regierung erreicht laut den Wahlergebnissen einen historischen Höhepunkt. Selbst für die Konservativen ist der Sozialist kein Schreckgespenst mehr.

Rafael Archondo

Der 12. Oktober könnte ein Sieg für die Geschichtsbücher gewesen sein. Sollte Evo Morales seine nunmehr dritte Amtszeit zu Ende bringen, wird er 14 Jahre an der Spitze des bolivianischen Staates gestanden haben, länger als jeder Präsident vor ihm. Dazu passend plant Morales ein neues Gebäude für die Inszenierung seiner Macht. Das auf 29 Stockwerke angelegte „Volkshaus“ soll den aktuellen Regierungspalast ersetzen. Dieser wird sich dann in ein „Museum des kolonialen Staats“ verwandeln, ein Beispiel für die üble Vergangenheit, für das alte Bolivien. Die Geschichte des Landes und seines Volkes wird unter der Regierung von Morales neu geschrieben.
Laut der offiziellen Interpretation der historischen Verhältnisse hat Bolivien seit dem ersten Wahlsieg der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) im Jahr 2006 einen Neuanfang erlebt. Der koloniale Staat liegt in der Vergangenheit. Der „plurinationale“ Staat hat sich durchgesetzt und zwar mit einer Verfassung, die zum ersten Mal seit der spanischen Eroberung die indigenen Völker als gleichberechtigte Subjekte anerkennt und in politische Entscheidungsprozesse mit einbezieht. Morales Alleinstellungsmerkmal in der Geschichte der politischen Repräsentation beruht nicht nur auf seiner ethnischen Identität, sondern auch auf der Tatsache, dass er als erster Präsident aus der Arbeiterklasse kommt.
1982 gelang der bolivianischen Linken erstmals ein Sieg an den Urnen. Begleitet von einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen des 20.Jahrhunderts endete diese Erfahrung schon nach drei Jahren. Damals kontrollierte die Kommunistische Partei drei Ministerien, trotz des Widerstands der amerikanischen Botschaft. Im Kontext des Kalten Krieges war es das Ziel der bolivianischen Linken, das Militär in die Kasernen zurück zu drängen und auf diese Weise die demokratische Grundordnung des Landes wieder herzustellen. Damals war keine Rede vom Sozialismus.
25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die bolivianische Linke an der Regierungsmacht etabliert. Evo Morales wurde mit einer Wahlbeteiligung von 89 Prozent zum zweiten Mal wiedergewählt. Laut offiziellen Angaben konnte sich seine Partei MAS mit 61 Prozent der Stimmen auch in der kommenden Legislaturperiode 2015 bis 2020 eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Kongresses sichern. Die Regierung kann weiterhin jedes ihrer Vorhaben mit den eigenen Stimmen verabschieden. Die beiden stärksten Oppositionsparteien schnitten hingegen wesentlich schlechter ab, die Demokratische Union (UD) erhielt 24 Prozent und die Christdemokraten (PDC) 9 Prozent der Stimmen.
Bereits in ihrem Parteinamen propagiert die Regierungspartei MAS den Weg zum Sozialismus.Der Vizepräsident des Landes, Álvaro García Linera, ist ein ehemaliger Guerrillero, der sich selbst als Kommunist versteht. Porträts von Che Guevara säumen die Wände des Regierungsgebäudes und die Beziehungen zu Kuba und Venezuela sind enger denn je. Ist Boliviens Regierung seit 2006 auf dem Weg, ein sozialistisches Modell zu implementieren?
Nach Meinung der aktuellen Zentren des Kapitalismus ist die klare Antwort ein Nein. Sowohl die Weltbank als auch der Internationale Währungsfonds, ehemalige Erzfeinde Morales‘, haben ihre Sympathie für das bisherige bolivianische Wachstumsmodell gezeigt. Die konservativen Meinungszirkel der USA, vertreten durch die New York Times oder das Wall Street Journal, applaudieren der Politik Morales. Sie sehen durch dessen Form des Sozialismus keine kapitalistischen Interessen gefährdet.
In Bolivien fällt die Antwort auf diese Frage jedoch wesentlich komplexer aus. An den Ergebnissen der letzten Wahl wird die eindeutige Unterstützung der Bevölkerung deutlich, die MAS gewann acht der neun großen Wahlbezirke des Landes. Ihre Wähler_innen konstituieren sich jedoch nicht nur aus den prekarisierten oder indigenen Teilen der Bevölkerung, sondern kommen auch aus den konservativen Regionen des Flachlandes wie Santa Cruz oder Tarija. Die dort ansässigen Großunternehmer_innen machen Gewinne und stabilisieren so die Macht der Regierung, die dabei ist, ein Machtmonopol in der Politik zu etablieren. Vor fünf Jahren war die Opposition der Meinung, die Regierung würde eine kommunistische Revolution in Gang bringen. Heute besteht die Erkenntnis, dass dies in keiner Weise die Absicht ist.
Tatsache ist, dass die Bewegung zum Sozialismus ihren eigenen Weg zur Modernisierung gefunden hat. Anfangs versprach sie, Großgrundbesitz zu enteignen und an die armen Landarbeiter_innen zu verteilen. Auch die Marktreformen der neunziger Jahre sollten rückgängig gemacht werden. Viele fürchteten die Radikalisierung des Klassenkampfes in einem Land, in dessen Geschichte die Gegensätze zwischen Arm und Reich tief verwurzelt sind. Um den damals radikalen Protest abzuschmälern, der das Land an den Rand eines Bürgerkriegs brachte , entschloss sich die Regierung dazu, die Armut zu reduzieren, ohne die Vermögen und Privilegien der Reichen anzurühren. Eine umfangreiche Sozialpolitik hat in den letzten Jahren die Revolution ersetzt. Das hat klare Folgen für die Wahlergebnisse gehabt.
Die zweite große Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, ob die MAS ihre Ideale verraten hat. Hat sie sich an die Machtverhältnisse in der Welt einfach angepasst? Hat sie das Ziel des Sozialismus gegen Stabilität eingetauscht?
Eine der möglichen Antworten ist, dass der durch die positive wirtschaftliche Lage bedingte finanzielle Handlungsspielraum von der Regierung sinnvoll genutzt werden konnte, um soziale Spannungen abzuschwächen. Die neue Mittelschicht, aus der Verteilungspolitik des letzten Jahrzehntes entstanden, wird zunehmend konservativ. In einigen Ländern des Kontinents mit Linksregierung, wie Brasilien, hat sich die neue Mittelschicht von der Regierung distanziert. In Bolivien ist das Gegenteil geschehen, die Ausrichtung der Regierung hat sich geändert. Geschickt hat die bolivianische Linke, ähnlich wie in Uruguay, den veränderten gesellschaftlichen Grundkonsens begleitet und ist mit einem Teil der Bevölkerung zur politischen Mitte gewechselt.
Die bolivianische Gesellschaft wünscht sich den Sozialismus nicht mehr und und die Regierunghat dies rechtzeitig erkannt. Basierend auf dieser Grundstimmung in der Bevölkerung hat sie dann die Wahlkampagne initiiert. Keine Veränderungen mehr, das war die Parole während der aktuellen Wahlperiode. Eine verblüffende Entwicklung, die nur in einer funktionierenden repräsentativen Demokratie möglich ist.

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