Argentinien | Nummer 356 - Februar 2004

“Bald nennt man uns Städtische Recycler“

Interview mit Pepe Córdoba von der selbstverwalteten Müllsammler-Kooperative Nuevo Rumbo in Lomas de Zamora in der Provinz Buenos Aires

Die Cartoneros gehören längst zum Alltagsbild von Buenos Aires. Mit ihren Karren ziehen sie durch die Straßen der Stadteile und suchen im Müll nach verwertbarem Material. Dabei geht es nicht mehr nur um Papier und Kartonagen, sondern auch um Metall, Flaschen und Plastik. Um nicht mehr übers Ohr gehauen zu werden, organisieren sie ihren Zwischenhandel selbst.

Timo Berger

Herr Córdoba, wie ist die Lage der Cartoneros zurzeit?

Heutzutage sagt man Cartonero, Kartonsammler, früher sagte man ciruja, der in den Müll sticht, oder botellero, Flaschensammler. In Kürze wird man uns Städtischer Recycler nennen. Als Cartonero zu arbeiten, ist sehr in Mode gekommen, da die Krise von 2001 die Arbeitslosigkeit und den Hunger verschärft hat. Die Leute durchwühlen den Müll, um sich ihr tägliches Überleben zu sichern. Auf einmal gab es so viele, dass sie den „tren blanco“, den weißen Zug, einrichteten, den Zug aus Merlo, aus Moreno, der die Leute nach Buenos Aires brachte, um Karton zu sammeln (siehe Filmrezension in dieser Ausgabe, Anmerkung der Red.). Ich bin Mitglied der Kooperative Nuevo Rumbo aus Lomas de Zamora und ich bin Cartonero. Unsere Kooperative kümmert sich nicht nur um Papier und Karton, sondern um insgesamt 19 Materialien. Eisenschrott, Glas, Flaschen, Stoffe, Plastik, Metalle. Die Kooperative ist entstanden, weil die Sammelstellen für Wertstoffe uns regelmäßig übers Ohr gehauen haben. Einmal haben wir 100 Kilo hingebracht, und sie wogen 70 Kilo. Das passierte immer wieder. Am Anfang hatten wir nur einen Schuppen, aber mit der Krise stießen Leute aus anderen Berufen hinzu, Unternehmer, Lehrer, Handwerker, und mit ihnen zogen wir dann die Kooperative auf.

Wie funktioniert die Kooperative?

Der größte Teil der Mitglieder sammelt Müll, ein kleinerer arbeitet in dem Schuppen. Dort haben wir mehrere Abteilungen. Eine kümmert sich um die Restaurierung und das Kunsthandwerk, weil die Cartoneros manchmal Bronzesachen und Antiquitäten mitbringen. Alles was irgendwie selten ist, wird vom Rest getrennt. Dann gibt es zwei Gruppen mit jeweils zehn Leuten. Die erste wäscht Plastik, sie entfernen Etiketten. Die zweite wäscht Weißglasflaschen für eine kleine Fabrik. Viele von denen, die drinnen arbeiten, sind Frauen. Eine andere Gruppe von Frauen arbeitet die Stoffe auf, wäscht und trennt sie, und die Stoffe ohne Metallstücke werden zu Lappen für Reinigungsfirmen verarbeitet. Es gibt eine andere Gruppe, die soziale Aktivitäten übernimmt, Kinderbetreuung, oder Betreuung von Angehörigen bei Todesfällen oder Krankheiten. Ich klassifiziere das Plastik.

Sie haben von den Sammelstellen gesprochen, wo die Cartoneros um ihren Lohn gebracht werden. Wem gehören diese Sammelstellen?

Die gehören verschiedenen Leuten. Das Geschäft mit Wertstoffen hat eine hundertjährige Tradition. In letzter Zeit kam es zu einer Zusammenlegung verschiedener Stellen und einer Neueröffnung vieler Hallen, wo die verschiedenen Materialien angenommen werden. Heutzutage wird fast alles recycelt. Vor ein paar Jahren waren Plastik, Glas und Schrott so gut wie nichts wert, jetzt schon. Die Recyclingunternehmer haben Kapital, haben die Lagerflächen und eine Waage. Das haben wir nicht, uns fehlt es vor allem an Lagerfläche. Es handelt sich schließlich um viele Tonnen, eine riesiges Volumen. Beispielweise das Plastik: zehn Kilo PET-Flaschen nehmen einen Kubikmeter ein. Der Cartonero ist nicht in direktem Kontakt mit der Industrie. Er ist nur ein Zulieferer am Anfang der Kette.

Wie viele Leute leben vom Müllsammeln?

Es gibt keine offiziellen Statistiken über die informelle Arbeit. Wir wissen eigentlich nur Bescheid über die Sammelstellen im Großraum Buenos Aires. Wir wissen, wie viele Leute die einzelnen Sammelstellen beliefern. Auf Grundlage dieser Zahlen schätzen wir, dass beispielsweise in Lomas de Zamora 15 000 Familien vom Müllsammeln leben. Das gibt uns einen Maßstab, mit dessen Hilfe wir annehmen können, dass in der gesamten Provinz Buenos Aires 100.000 Familien vom Müllsammeln leben.

Gibt es mittlerweile Reglementierungen von Seiten der Regierung bezüglich der Cartoneros?

In der Vergangenheit war alles gegen uns. Es gab ein Gesetz, das das cirujeo, das Durchstöbern des Mülls verbot. Es stammte noch aus den Zeiten der Diktatur und diente dazu, unsere Aktivitäten zu unterdrücken und uns ins Gefängnis zu stecken. 2002 hat die Stadtregierung von Buenos Aires ein Gesetz verabschiedet, das unsere Arbeit zum ersten Mal anerkennt. Von der Secretaría de Medio Ambiente (Umweltbüro), dem Organ, das sich um die Reglementierung kümmert, wurden Ausweise ausgegeben, Aufnäher, die uns identifizieren und es wurden Impfungen durchgeführt. Das Programm “Grüner Sack” wurde gestartet, also ein Müllbeutel, in dem die Anwohner Wertstoffe getrennt sammeln sollten. Dafür wurden allein drei Millionen Peso ausgegeben.

Beim letzten Wahlkampf in der Stadt Buenos Aires gab es eine Kampagne gegen die Cartoneros.

Die Müllfirmen hatten den Cartoneros vorgeworfen, sie würden ihre Einkünfte schmälern, da sie auf Grund deren Arbeit weniger Müll einsammeln. Aber das war eine Lüge. Als die Firmen die Verträge mit den staatlichen Stellen schlossen, wurde ein bestimmtes Müllvolumen zu Grunde gelegt und für den Fall, dass ein solches nicht zusammen kommt, wurde vereinbart, dass die Regierung trotzdem zahlt. Also trotz der Cartoneros, die, wenn sie viel arbeiten, allerhöchstens zehn Prozent des Mülls einsammeln. Für den damaligen rechten Kandidaten Maurico Macri sind wir Diebe und Delinquenten. Macri hat sich am Geschäft mit dem Müll bereichert. Er hat es quasi monopolisiert. Seit über 25 Jahren, also seit ihm die Müllfirmen Ceanse und Manliva gehören, hat er nie irgendeine Anstrengung in Bezug auf die Wiederverwertung unternommen. Dabei ist er geschickt vorgegangen, hat sich bereichert, aber die Verantwortung auf andere verteilt, für den Fall, dass irgendwann einmal jemand kommt, und sich beschwert, dass er so viele Wertstoffe ungenutzt ließ, während viele Leute Hunger leiden.

Wie ist das Verhältnis der Cartoneros zu anderen Gruppen aus den so genannten Neuen Sozialen Bewegungen, beispielsweise den Piqueteros?

Im Gegensatz zu den Piqueteros lehnen wir die Annahme von Sozialplänen ab und wir beteiligen uns nicht an einem Kampf für einen Sozialplan oder ein Lebensmittelpaket. Wir diskutieren darüber nicht, wir arbeiten. Die Sozialpläne über 150 Peso (umgerechnet 43 Euro), die die Piquteros nach den Straßensperren bekommen, reichen noch lange nicht für eine Familie aus. Sie gehen also wieder auf die Straße, um mehr zu fordern.

Sie meinen, die Piqueteros sollten ihre Strategie ändern?

Keine von diesen Gruppierungen arbeitet in der Produktion oder an einer regionalen Entwicklung. Ich komme aus Salta. Aus Tartagal. Dort entstanden die Piqueteros. Meine Neffen, mein Bruder, sind Piqueteros. Vergangenes Jahr war ich wieder in Tartagal. Und die Piqueteros waren auf einmal verschwunden. Ich sprach mit meinem Bruder und fragte ihn, was los sei. Der sagte mir, die Anführer der Piqueteros sind jetzt Funktionäre, sie haben Supermärkte, und sie sind nicht an einer weiteren Entwicklung interessiert, und wenn jemand mit einem Vorschlag kam, dann benutzten sie alles in ihrer Macht stehende, um sie verstummen zu lassen.

Sie fordern also keine Sozialpläne, die neue Regierung hält hingegen weiter an ihnen fest. Wie schätzen sie die Regierung Kirchner ein?

Ich habe wie viele Argentinier dem Caudillo aus La Rioja (Menem) geglaubt, als er 1989 mit seinen 26 Punkten, der so gennanten Produktiven Revolution, an die Macht kam. Jetzt lassen wir Kirchner Zeit, vergessen aber nicht die Geschichte. Kirchner hat in seiner Provinz dasselbe gemacht wie Menem in La Rioja oder Duhalde in der Provinz von Buenos Aires: Zu allererst haben sie eine Politik verfolgt, um sich selbst an der Macht zu halten, das ist das, was im Augenblick wieder passiert. Also wie viel Vertrauen können wir ihm entgegenbringen?
Auch wenn ich persönlich ihn gewählt habe: Seine Geschichte zeigt, dass sich möglicherweise nichts ändert. Er nutzt im Augenblick die Stimmung und gibt einige wohlklingende Erklärung herab, aber danach macht er weiter mit dem Ausbau seiner Machtbasis.

Sie klingen sehr desillusioniert. Gibt es keine politische Unterstützung auf lokaler Ebene?

Nein, sie kümmern sich einen feuchten Kehricht um uns. Obwohl wir zuletzt 2.800 Zulieferer hatten, von denen 160 ständige Mitglieder sind und 300, fast 400 einen weiteren Aufnahmeantrag in die Kooperative gestellt haben. Wir führen 680 Tonnen verschiedener Materialien dem Markt zu, unsere Cartoneros haben ein monatliches Durchschnittseinkommen von 700 Pesos. Wir haben einen Plan eingeführt für das getrennte Sammeln von Müll und die Anwohner machen mit.
Die öffentliche Verwaltung ignoriert uns weiter, aber sie kann uns nicht mehr übersehen. Und dennoch: Wir putzen keine Klinken.

Es handelt sich bei Nuevo Rumbo um eine isolierte Zelle, außerhalb der traditionellen klientelistischen Netzwerke der Parteien. Gleichzeitig seid ihr in Kontakt mit dem Markt, denn ihr verkauft schließlich eure Wertstoffe. Wie funktioniert diese Verbindung? An wen verkauft ihr, zu welchen Bedingungen?

Nun, es ist eine Firma. Aber es ist eine soziale Firma, es gibt keinen Eigentümer, alle haben das Recht, ihre Meinung zu sagen. Und als Firma müssen wir all das Verkaufen, was wir können, sonst haben wir kein Geld, um die Cartoneros zu bezahlen.
Als wir anfingen, konnten wir den Cartoneros nur das ausbezahlen, was wir am selben Tag verkaufen konnten, das war das Papier und der Karton, Rohstoffe, die schnell verkauft werden können. Das Glas liegt manchmal Monate lang rum, bis es verkauft wird, das Plastik ein Jahr. Seit dem letzten Jahr verkaufen sich aber auch jene Rohstoffe schneller und die Cartoneros können jetzt auch dafür kassieren. Jetzt können wir alles bezahlen, was sie bringen.
Als wir anfingen, haben wir zwölf Pesos umgesetzt, wir waren zu dritt, heuten machen wir täglich 3500 Peso Umsatz. Als wir mit dem Schuppen anfingen, war das auch eine Utopie. Niemand glaubte, dass wir es schaffen könnten. Der Typ, der mir damals meine Wertstoffe abkaufte, sagte, negro de mierda (Scheißneger), überlass uns das Geschäft, wir haben das Kapital. Heute hat ihn unsere Kooperative längst überholt. Er kann nur weiter machen, weil er selbst 50 Karren besitzt, die er Müllsammlern ausleiht, damit sie ihn beliefern. Ihm war es immer egal, ob ich Hunger litt, ob meine Kinder zur Schule gingen, er betrog mich. Früher war das einzige Erbe, das der Cartonero seinen Kindern hinterließ, der Karren. Heute können die Cartoneros der Kooperative den Kindern eine Schulbildung und ein Studium bezahlen. Wir arbeiten gerade daran, kleine und mittelgroße Firmen zu eröffnen. Wir befinden uns immer noch in der Etappe des Sammelns, aber da bleiben wir nicht. Es kommt die Etappe der Transformation und die Etappe der Reindustrialisierung. Vielleicht werden wir das selbst nicht mehr erleben, aber andere, die uns folgen.

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