Film | Nummer 343 - Januar 2003

Barsch und doch charmant

Eine Alzheimerkranke als Braut und Mutter

Der argentinische Film „Der Sohn der Braut“ kommt endlich in die deutschen Kinos, nachdem er schon ein Jahr internationale Erfolge feiern konnte. Die tragikomische Familiengeschichte aus Buenos Aires verbindet Galgenhumor mit der sensiblen Zeichnung eines zeitgemäßen Gesellschaftsbilds.

Bettina Bremme

Rafael, genannt Rafa, ist nicht gerade jemand, den man sich als Liebhaber, Ex-Mann, Vater oder Sohn wünschen würde. Ständig rennt er mit Kippe im Mundwinkel und mit Handy am Ohr durch die Gegend und verteilt in atemlosem Tonfall Anweisungen für die Angestellten seines Spezialitätenrestaurants. Die Tatsache, dass der Vierzigjährige schon mal vergisst, seine Tochter von der Schule abzuholen – donnerstags ist Vicky immer Papa „zugeteilt“ – scheint für Rafa zu den Kollateralschäden seines Workaholic-Daseins zu gehören. Als er schließlich doch mit Vicky in der Küche seines durchgestylten Lofts sitzt, herrscht er die Halbwüchsige an: „Werd’ bloß nicht nervig, von dir kann ich mich nicht scheiden lassen.“
Am selben Tag taucht mitten im Geschäftstrubel plötzlich Rafas alter Vater auf. Mit einem Blumenstrauß vor der Brust, steht er in der Tür des Restaurants und bittet ihn, mit ihm die alzheimerkranke Mutter zu besuchen, die im Pflegeheim lebt. Heute ist ihr Geburtstag, und Rafa war schon fast ein Jahr nicht mehr da. Entsprechend beugt er sich dem sanften Druck, nicht ohne unterwegs wegen zu schnellen Fahrens ein Strafmandat zu kassieren. Die Person, die Vater und Sohn im Pflegeheim erwartet, ist allerdings auch nicht gerade eine Ausgeburt von Sanftheit. Als Rafa und sein Vater Mutter Norma in ein Restaurant ausführen, gibt diese pausenlos barsche Bemerkungen von sich. Ihr Lieblingswort ist boludo – „Vollidiot“.

Krönung einer wilden Ehe

Der Vater allerdings blickt Norma mit so verklärten Augen an, als sei sie nach wie vor die Frau, die er einst kannte. Als sei sie die Norma, die damals, als die beiden ihr italienisches Restaurant eröffneten, alle Gäste um den Finger wickelte. „Es ist nicht sie, die spricht, sondern die Krankheit“, meint er zu seinem Sohn. Der Vater besucht nicht nur jeden Tag seine Norma im Pflegeheim, er hat sogar noch große Pläne mit ihr, wie er dem Sprössling am selben Tage eröffnet: Nachdem die beiden 44 Jahre in „wilder“ ziviler Ehe gelebt haben, will er als Krönung ihrer Liebesgeschichte jetzt endlich mit Norma vor den Traualtar treten. Rafael ist entsetzt: „Das ist eine Verrücktheit, Papi. Sie wird nichts davon mitkriegen.“
Die Heiratspläne seines Vaters stellen allerdings nicht die einzige Heimsuchung dar, die sich an diesem Tag andeutet und in der folgenden Zeit Rafas Leben gehörig aus den Angeln heben wird. So taucht ein merkwürdiger Kauz auf, von Beruf Filmstatist, der sich als Rafas Kindheitsfreund entpuppt. Dieser hat genau das bei einem Unfall verloren, was Rafa so auf die Nerven geht: seine Familie. Als wäre es noch nicht genug der unerwarteten Ereignisse, verspürt Rafa, während er abends vor der Glotze abzuschalten versucht, einen zähen Schmerz in der Brustgegend.

Keine Rührseligkeiten

Um eine Tragikomödie zu drehen, deren seelisches Zentrum eine Alzheimerkranke ist, die ihre Umgebung fortlaufend mit patzigem Charme beglückt, muss man wohl mit einem gewissen Galgenhumor gesegnet sein. Und vielleicht gibt es zur Zeit keine Gesellschaft auf der Welt, in der diese Eigenschaft so gedeiht, wie im von Krisen geschüttelten Argentinien. In Buenos Aires spielt der wunderbar ätzend-zärtliche Film El hijo de la novia (“Der Sohn der Braut”) von Juan José Campanella, der ab dem 26. Dezember endlich auch in Deutschland im Kino zu sehen sein wird. Der Film sorgt in anderen Ländern schon seit mehr als einem Jahr für begeisterte Resonanz: in spanischen Großstädten läuft er seit November 2001 ohne Unterbrechung im Kino. In Hollywood wurde El hijo de la novia Anfang 2002 für den Oscar als bester nicht-englischsprachiger Film nominiert. Allerdings trennen Campanellas Film Welten von der Art und Weise, wie Hollywood normalerweise diese Art von Familiendramen inszeniert. Im Gegensatz zu den in den USA so beliebten rührseligen „Taschentuchfilmen“ über Autisten, Taubstumme oder andere Krankengruppen, gönnt Campanella „seiner“ Alzheimerkranken eine ziemliche Portion Widerspenstigkeit. Norma Aleandro, die große Dame des argentinischen Films (La historia oficial), verkörpert die Norma im Film mit einer Mischung aus dämmriger Verlorenheit und aufblitzenden Momenten von instinktiver Schlagfertigkeit und unverwüstlicher Energie. Hector Altério, ebenfalls einer der großen Charakterdarsteller des spanischsprachigen Kinos, spielt Normas Mann als zärtlichen, träumerischen Gegenpart: „Mich wirst du nicht los, ich werde immer an deiner Seite sein“, verspricht er ihr in einem Moment. “Qué pesado!” – „wie nervig“ – ist Normas Antwort. Aber ihre Augen blitzen zärtlich dabei. Die Liebesgeschichte der beiden hat eine innere Kraft, die aus der Fähigkeit entsteht, sich im positiven Sinne Illusionen zu machen: Liebe als Insel der Seligen, als Floß der Utopie. Ricardo Darín dagegen, der Rafa verkörpert, scheint die Rolle des gestressten Jedermann in der Midlife-crisis wie auf den Leib geschrieben. Er ist derzeit nicht nur in Argentinien sondern auch in Spanien einer der gefragtesten Schauspieler. Denn ihm gelingt es, wie ein Chamäleon in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen. Wenn man „Rafa“ sieht, glaubt man sofort, diesen Typ zu kennen, der sich eine seelische Hornhaut zugelegt hat und gestresst vor allem davonrennt, was Probleme bereiten könnte. Mit seiner inneren Rastlosigkeit ist Rafa eine Gestalt, die typisch ist für die männliche Variante des flexibilisierten Individuums in Zeiten des Neoliberalismus – nicht nur, aber gerade auch in Argentinien.

Bettina Bremme

El hijo de la novia, Regie: Juan José Campanella; Argentinien/ Spanien 2001, Farbe, 123 Minuten. Der Film startet am 26. Dezember 2002 bundesweit in den Kinos.

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