Brasilien | Nummer 511 – Januar 2017

BESETZEN FÜR BILDUNG

In Brasilien trotzen Schüler*innen der rechten Regierung

In ganz Brasilien halten Schüler*innen öffentliche Schulen gegen die neue konservative Regierung und den Bildungsnotstand besetzt. Die Besetzungen finden auch Zuspruch seitens vieler Lehrer*innen, Eltern sowie großen Teilen der Zivilgesellschaft. Besuch einer besetzen Schule in Rio de Janeiro.

Von Kristina Hinz

Tijuca, ein Mittelklassestadtteil im Norden Rio de Janeiros, weitab der Postkartenmotive, für welche die Stadt bekannt ist. Die Nachmittagssonne knallt unbarmherzig auf das Schulgebäude, ein heruntergekommener Plattenbau aus den Zeiten der Militärdiktatur. Eine Gruppe Jugendlicher hat sich vor dem Eingang der Schule versammelt und hält tapfer der Hitze stand. Die Jugendlichen sind in eine angeregte Diskussion vertieft. Andere Schüler*innen haben sich in den Schatten geflüchtet und tippen konzentriert auf ihren Smartphones. Auf einer Mauer versucht ein einsamer Gitarrenspieler auf mehr oder weniger subtile Arte die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler*innen auf sich zu ziehen. Eine völlig normale Szene, so sollte man meinen, die sich auf fast jedem Schulhof der Welt abspielen könnte. Doch einige Details passen nicht ins Bild: Ein Schüler*innenkomitee am Eingang nimmt penibel alle Personaldaten der Besucher*innen auf. Andere Schüler*innen kümmern sich um die Reinigung des baufälligen Gebäudes. In der Schulküche dampfen die Kochtöpfe auf dem Herd und eifrige Hände schmieren Butterbrote und schenken Getränke ein. An einer Wand hängt ein Aktivitätenkalender. Nicht der Lehrplan der brasilianischen Bundesregierung, sondern eine täglich abgehaltene Vollversammlung bestimmt die Schulagenda.

Sie meinen es ernst: Für eine inklusivere Schulbildung (Fotos: Thiago Cury Andries)

Die Pedro II-Schule ist in diesen Tagen keine normale Schule. Seit Anfang November wird sie besetzt gehalten und seither in Eigenregie von den Schüler*innen verwaltet. „Wir sind eine Bewegung der Schüler für die Schüler“, erklärt die 17-jährige Isabela Melo. „Wir sind hier, weil wir an eine andere, demokratischere und inklusivere Schulbildung glauben.“
Auf dem schmählichen 58. Platz der von der PISA-Studie evaluierten Länder, ist das brasilianische Bildungssystem als eines der schlechtesten unter den Schwellenländern bekannt. Große Teile der Mittel- und Oberschicht schicken ihre Kinder auf teure Privatschulen, um den strukturellen Defiziten der öffentlichen Bildung zu entgehen. Sozialschwachen Brasilianer*innen steht diese Option in der Regel nicht zur Verfügung. Ihre Kinder müssen sich mit den oft prekär ausgestatteten öffentlichen Schulen abfinden. Die fehlenden Mittel und die schlechte Bezahlung der Lehrer*innen machen eine gute Schulausbildung und damit auch Aufstiegschancen praktisch unmöglich.
So verzeichnet Brasilien eine landesweite Besetzungswelle öffentlicher Schulen und Universitäten – wieder einmal. Bereits im vergangenen Jahr besetzen in São Paulo die secundaristas – die 14- bis 17-jährigen Schüler*innen – hunderte Bildungseinrichtungen. Auslöser damals war eine geplante „Reorganisierung“ des Bildungssektors. Zahlreichen Schulen drohte die Schließung. Die Schüler*innen wehrten sich – auf der Straße und in ihren Schulen. Aufgrund des massiven Widerstandes nahm São Paulos Gouverneur Geraldo Alckmin die umstrittene Reform letztendlich zurück.
Mehr als 1000 Schulen werden momentan im ganzen Land besetzt gehalten. Die Besetzungen haben hohe Wellen geschlagen. Nicht wenige politische Analyst*innen bezeichnen sie als derzeit wichtigste soziale Bewegung Brasiliens. „Wie jede andere Besetzungsbewegung haben wir Anliegen, die unsere eigene Schule und ihre Verwaltung betreffen. Unsere Kernforderungen richten sich aber gegen die Bildungspolitik der Bundesregierung. Wir stehen hier nicht nur für uns und unsere eigene Schule ein, sondern für alle Schüler Brasiliens. Alle Schüler der jetzigen und der zukünftigen Generationen, die die Konsequenzen der prekären Bildungspolitik der Regierung tragen müssen“, erklärt Isabela.
Der Zorn der Besetzer*innen richtet sich vor allem gegen die neue konservative Regierung. Nach einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsprozess hat Michel Temer im Oktober endgültig das Regierungsamt übernommen, das seit 2002 von der Arbeiter*innenpartei PT besetzt war. Die politische Rechtskurve macht vielen Staatsangestellten, Intellektuellen und sozialen Aktivist*innen Angst. Auch viele Schüler*innen befürchten massive Einschnitte im Bildungsbereich. So richten sich von den drei Hauptforderungen der Schulbesetzer*innen zwei explizit gegen die von der Regierung initiierten Maßnahmen: die Verfassungsreform PEC 241/55 (siehe LN 510), die öffentliche Ausgaben und somit auch den Bildungsetat für 20 Jahre einzufrieren droht, sowie einen Präsidentenerlass, der eine Verringerung der Pflichtschulfächer zur Folge hat.
Die dritte Hauptforderung der Schüler*innen richtet sich gegen die unter dem Programm Escola Sem Partido (Parteilose Schule) zusammengefassten Gesetzesvorschläge. Das Programm stammt aus der Feder eines Parteienbündnisses, das Präsident Temer nahe steht, und hat zum Ziel, eine vermeintliche „politische und ideologische Indoktrination“ der Schüler*innen im Unterricht zu bekämpfen. So soll verboten werden über Themen zu diskutieren, die mit den „religiösen oder moralischen Überzeugungen der Eltern oder Erziehungsberechtigten der Schüler in Konflikt stehen können“. Eine Verabschiedung des Programmes könnte eine kritische Diskussion zu Themen wie Geschlechterrollen, Homophobie, Feminismus sowie indigenen und afro-brasilianischen Religionen im Unterricht untersagen und unter Umständen sogar strafbar machen.
„Schüler sind keine unbeschriebenen Blätter“, kommentieren die Schulbesetzer*innen der Pedro II-Schule das Programm Escola Sem Partido in einer Pressemitteilung. „Wir bilden uns Meinungen und Positionen mithilfe der verschiedenen Informationen, die wir sowohl von Lehrern, als auch von der Familie und Freunden vermittelt bekommen. Politische Debatten in der Schule sind wichtig, damit wir mit anderen Ideen und Gedanken in Berührung kommen können. Dies ist fundamental für die Entwicklung unserer Persönlichkeit und Menschlichkeit.“
Doch nicht nur die Bildungspolitik der Regierung steht im Fokus der Schulbesetzer*innen. Vielmehr lassen sich die Proteste auch als Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit und fehlenden Identifikation mit der regierenden politischen Klasse deuten. „Die Regierung hat Angst vor Jugendlichen, die für sich selbst denken, vor Jugendlichen, die noch Träume haben, und vor allem vor Jugendlichen, die nicht diese veraltete und antiquierte Zukunft wollen, welche die Regierung uns vorlegt“, erklärt die Schülerin Erika Thimoteo vor Eltern, Aktivist*innen und Medienvertreter*innen in einer feurigen Rede vor dem besetzten Schulgebäude.
Ein Blick auf Temers Kabinett zeigt, von welcher „antiquierten Zukunft“ Erika spricht. Nach dem kontroversen Amtsenthebungsverfahren von Dilma Rousseff hat sich das Gesicht der brasilianischen Regierung stark verändert: Nicht eine einzige Frau oder person of color ist in Temers Regierung zu finden – und das in einem Land, in dem sich laut der offiziellen Statistik mehr als die Hälfte der Bevölkerung als Schwarz oder farbig identifiziert. „Diese Regierung repräsentiert uns nicht“, erklärt die 17-jährige Ananda Neves, ebenfalls Schülerin am Pedro II. „Michel Temers Kabinett besteht ausnahmslos aus Männern weißer Hautfarbe, meistens der älteren Generation. Sie stehen für eine politische Klasse, in der wir und unsere Anliegen keinen Platz haben.“
Welche Art von Politik die junge Generation im Blick hat, wird deutlich, wenn man ihre Organisation und Entscheidungsstrukturen betrachtet. In der Pedro II-Schule in Rio de Janeiro zirkulieren täglich etwa 300 der rund 2000 eingeschriebenen Schüler*innen. Etwa 100 von ihnen verbringen dort sogar regelmäßig die Nacht. Alle Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen. „Wir halten hier jeden Tag eine Vollversammlung der Schülerinnen und Schüler ab, in der wir nicht nur über administrative und organisatorische, sondern auch über die inhaltliche Ausrichtung der Besetzung unserer Schule diskutieren und abstimmen“, erklärt Ananda.
Die Besetzung ist straff organisiert. Sieben verschiedene Kommissionen regeln den Alltag in der Besetzung. Auf Sauberkeit wird penibel geachtet und das Gebäude wird mehrmals am Tag geputzt. Dank der Verpflegungskommission gibt drei Mahlzeiten am Tag für die hungrigen Besetzer*innen, dazwischen Pausenbrote und Snacks. Die Aktivitätenkommission organisiert Seminare mit bekannten Künstler*innen,  Akademiker*innen und Aktivist*innen. Auch die Pressearbeit, Budgetverwaltung und Sicherheit der Besetzung wird innerhalb der Schüler*innen+kommissionen gemanagt. Finanziert wird die Besetzung ausschließlich über Spenden, vornehmlich von Eltern und Ehrenamtlichen. Die Kommissionen haben eine hohen Frauenanteil: „Frauen haben eine Schlüsselrolle hier bei uns in der Besetzung im Pedro II“, sagt die 16-jährige Carolina Gomes. „Einige zeichnen sich durch eine explizite Führungsrolle aus, andere bringen sich in den Kommissionen und Arbeitsgruppen ein. Und dank des Misch- und Rotationsprinzips in den Kommissionen sorgen wir dafür, dass die notwendigen Dinge effizient erledigt werden und keine Geschlechterstereotype bei der Aufgabenvergabe reproduziert werden.“
Unterstützung erhalten die jungen Besetzer*innen auch von vielen Lehrer*innen. So auch von Leandro Climaco: „Ich stehe absolut hinter der Entscheidung der Schüler, ihre Schule zu besetzen. Für mich sind die Schüler soziale Akteure, die in der Lage sind, sich politisch zu positionieren, insbesondere im Zusammenhang mit Themen, die sie und ihren Schulalltag direkt betreffen. Die Schüler haben beschlossen, selbstständig Politik zu betreiben und die Regierung zu Verhandlungen aufzurufen. Das müssen wir respektieren“, erklärt der Geschichtslehrer, der seit zwei Jahren an der Pedro II-Schule unterrichtet.
Auch die Portugiesischlehrerin Silvia Barros unterstützt die Besetzung. Sie sorgt sich um die Zukunft des öffentlichen Schulsystems: „Es ist beängstigend, sich die Schule der Zukunft vorzustellen: finanziell noch prekärer, als sie jetzt schon ist und nicht mehr in der Lage, ein Umfeld sicherzustellen, in dem Schüler und Lehrer frei über Ideen diskutieren können, ohne Repressalien oder gar Verhaftung fürchten zu müssen.“
Allerdings findet die Besetzung nicht nur Zuspruch. Christine Melo, die Mutter der redegewandten Isabela, steht der Schulbesetzung eher kritisch gegenüber: „Ich verstehe die Wut der Schüler über die Bildungspolitik der Regierung. Aber ich finde, die Schüler hätten auch auf eine andere Art und Weise protestieren können. Durch die Schulbesetzung riskieren die Schüler, das Schuljahr nicht im vorgesehenen Zeitrahmen beenden zu können. Außerdem sorge ich mich täglich um die Sicherheit meiner Tochter in der Besetzung. Was passiert, wenn sie geräumt werden?“
Die Schüler*innen geben sich indes weiter kämpferisch und planen die Besetzung fortzuführen, bis ihre Forderungen gehört werden. Für sie stellt die Reifung ihres zivilen und politischen Bewusstseins die größte Lernerfahrung der Schulbesetzung dar: „Die Besetzung hat mir die Gelegenheit gegeben, ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln und die Schule als ein Projekt zu begreifen, das uns allen gehört und zu dem wir alle beitragen. Jeder auf seine Art und Weise“, argumentiert Isabela. „In den zwei Wochen der Besetzung haben wir mehr über Politik gelernt, als in 13 Jahren Schule“. Ihre Freundin Ananda ergänzt: „Wir verwalten uns hier komplett selbst und kümmern uns neben der Gebäudereinigung und Verpflegung um fast alle verwaltungstechnischen Belange. Eine Schule zu verwalten ist eine schwierige Aufgabe und sie liegt jetzt in der Hand von 15-, 16- und 17-jährigen Jugendlichen.“ Lachend fügt sie hinzu: “Und was mir am meisten Angst macht: wir kriegen es hin!“
Wie lange die Regierung die Besetzungen in den Schulen noch dulden wird, ist unklar. Ein Ende scheint jedenfalls nicht in Sicht. Im Gegenteil: immer mehr Schulen schließen ihre Pforten. Inspiriert durch die Schüler*innen haben auch Studierende begonnen, ihre Universitäten zu besetzen. Mehr als 80 öffentliche Universitäten sind mittlerweile unter der Besetzung der Studierenden. Auch hier steht Temers Sparpolitik und der allgemeine Bildungsnotstand im Fokus der Kritik. Die Besetzer*innen stehen im krisengebeutelten Brasilien vor einer großen Aufgabe. Eine Bildungsreform steht nicht auf der Tagesordnung der Regierung. Allerdings haben die Besetzer*innen ihren jugendlichen Kampfgeist und Optimismus auf ihrer Seite: „Der Sinn der Schulbesetzung ist etwas an uns zu nehmen, was uns rechtmäßig zusteht, und daraus die Schule unserer Träume zu machen“, erklärt Isabela. „Das einzige was wir brauchen, ist eine Stimme. Wir haben viel zu sagen und viel beizutragen, aber niemand wollte uns zuhören. Diese Tage sind jetzt vorbei.“

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