Nummer 392 - Februar 2007 | Venezuela

Bildet zwei, drei, tausende Kooperativen!

Unter Chávez erlebt das Kooperativenwesen einen Boom

Wie die Produktionsstruktur des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela genau aussehen soll, ist nach wie vor vage. Auf wirtschaftlichem Gebiet unterstützt die Chávez-Regierung seit einigen Jahren finanziell und logistisch massiv die Bildung neuer Kooperativen. Wie viele davon erfolgreich arbeiten, ist jedoch ungewiss, da kaum Kontrollmechanismen existieren. Traditionelle Kooperativen wie Cecosesola funktionieren hingegen auch ohne staatliche Unterstützung gut.

Nora Müller, Tobias Lambert

Die Zahlen sind beeindruckend. Ende 2006 bestanden in Venezuela laut offiziellen Angaben 181.000 Kooperativen. Damit wuchs deren Anzahl alleine im Vergleich zu 2005 um 195 Prozent. Gerade einmal um die 800 Kooperativen waren es beim Amtsantritt Hugo Chávez‘ im Jahre 1999.
Die bolivarianische Regierung hat sich wirtschaftlich dem Modell der „endogenen Entwicklung“ verschrieben. Hierbei kommt der Förderung einer solidarischen Ökonomie, die vor allem auf der massiven staatlichen Förderung von Kooperativen fußt, großes Gewicht zu. In Kooperativen soll gleichberechtigt, demokratisch und ohne Hierarchie gearbeitet und entschieden werden. Bereits in der bolivarianischen Verfassung von 1999 wird die Bedeutung dieser Unternehmensform für die venezolanische Gesellschaft an mehreren Stellen betont. „Der Staat fördert und schützt diese Vereinigungen, die zum Ziel haben, die Basis- und Alternativökonomie zu verbessern“, heißt es etwa in Artikel 118 des Gesellschaftsvertrages. In den letzten Jahren sind verschiedene staatliche Initiativen entstanden, um diesen Anspruch gesellschaftliche Wirklichkeit werden zu lassen.
Zunächst wurden 2001 ein Land- und ein neues Kooperativengesetz per Dekret verabschiedet.

Neue Gesetze

Das Landgesetz ermöglicht die Enteignung unproduktiver Ländereien, um die Landnutzung zu demokratisieren. Anfang des 21. Jahrhunderts hatten 90 Prozent der Bevölkerung nur sieben Prozent des Landes zur Verfügung und der Staat keinerlei Recht, große Ländereien zu überprüfen, geschweige denn brachliegendes Land an Kooperativen zu verteilen. Das Kooperativengesetz erleichtert die Gründung von Kooperativen jeglicher Art und sieht für diese finanzielle Anreize wie Steuererleichterungen und niedrig verzinste Mikrokredite vor. Beide Gesetze verfolgen das Ziel, sich von der Exportausrichtung des großen Agrarbusiness zu lösen, kollektives Eigentum aufzuwerten und somit eine eigenständige Entwicklung voranzutreiben. Durch die Bildung endogener Entwicklungskerne (NUDES), die aus meh­reren Dörfern oder auch ganzen Regio­nen bestehen können, soll eine Dezentralisierung der Wirt­schaft erreicht werden.
Um dies koordiniert voranzutreiben, wurde im September 2004 das Ministerium für Basisökonomie (MINEP) gegründet. Dem Ministerium untergeordnet ist das bereits zuvor ins Leben gerufene staatliche Ausbildungsprogramm Misión Vuelvan Caras (Wendet die Gesichter), in dessen Rahmen bisher etwa 200.000 Menschen Fähigkeiten und Kenntnisse zur Gründung von Kooperativen vermittelt bekommen haben. Einer in der Regel einjährigen Ausbildungszeit soll im Anschluss die direkte Einbeziehung in den Aufbau von Kooperativen folgen. Dieser Aufbau wird vom Staat ebenfalls finanziell und logistisch unterstützt. Finanziert werden diese Anstrengungen direkt durch die Erdöleinkünfte des staatlichen venezolanischen Erdölunternehmens PDVSA.

Probleme in der Praxis

In der Praxis ist dieses Konzept allerdings mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert. So kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen Kooperativen, die im Rahmen von Vuelvan Caras mehr staatliche Unterstützung erhalten als andere, die „lediglich“ Steuervorteile und Mikrokredite in Anspruch nehmen können. Auch versickert eine Menge Geld durch ineffiziente Verwendung. Nicht selten komme es vor, dass städtische TeilnehmerInnen von Vuelvan Caras sich zunächst am Aufbau von Kooperativen auf dem Land beteiligen, nach kurzer Zeit aber feststellen, dass das Landleben nichts für sie ist und einen Rückzieher machen, berichtet Isabel Valdivia, die in einer Unterabteilung des venezolanischen Agrarministeriums INTI arbeitet. Dass auf diese Weise etwa 45-50 Prozent der Anstrengungen und Geldmittel versickern, werde in der Regierung allerdings nicht unbedingt als negativ angesehen, da es „einen Gewinn an Erfahrung“ mit sich bringe. „Die sozialen und gesellschaftlichen Prozesse sind sehr komplex und deshalb gibt es so viele Rückschläge“, führt Valdivía weiter aus.
Ein größeres Problem stellt der hohe Missbrauch bei der Gründung von Kooperativen dar. Durch das Kooperativengesetz von 2001 wurde die Gründung derart stark vereinfacht, dass im Prinzip das Ausfüllen eines Formulars ausreicht, um Steuervorteile und billige Kredite in Anspruch zu nehmen. Heute weiß niemand, wie viele der Kooperativen nur auf dem Papier bestehen oder einfach wie herkömmliche, hierarchisch strukturierte Unternehmen arbeiten, während sie die finanziellen Vorteile von Kooperativen genießen. So hat die nationale Kooperativenaufsicht Sunacoop bis Ende 2006 gerade einmal drei Prozent der neu gegründeten Genossenschaften kontrolliert. Bei fast der Hälfte wurden Regelverstöße festgestellt. Wie viele der bestehenden Kooperativen tatsächlich funktionieren, ist ebenfalls unklar.

Es geht auch ohne den Staat Doch es gibt auch andere Beispiele des Kooperativenwesens in Venezuela. Cecosesola, ein Zusammenschluss von Kooperativen in Barquisimeto (Bundesstaat Lara), arbeitet erfolgreich und hat sich ohne jegliche staatliche Unterstützung entwickelt. Die Organisation kann auf eine 39-jährige Geschichte zurückblicken, umfasst heute rund 80 überwiegend ländliche Basiskooperativen und zählt 2.000 direkt assoziierte Mitglieder. Seit 1984 arbeitet Cecosesola ohne Hierarchien. 1967 als kollektiv organisiertes Beerdigungsunternehmen gegründet, nahm man sich 1979 zusätzlich der Organisierung des öffentlichen Nahverkehrs an. Politische Auseinandersetzungen und Missmanagement des Vorstandes führten Anfang der 1980er Jahre zum Bankrott des Transportunternehmens und hinterließen einen immensen Schuldenberg. Durch diese Erfahrungen aufgerüttelt fanden sich Mitglieder von Cecosesola zusammen, um die Kooperative ohne Vorstand und Hierarchien neu zu organisieren.
Die neue Struktur erwies sich als erfolgreich und so nahm sich Cecosesola im Laufe der Zeit neuer Tätigkeitsbereiche an. Dazu zählen die fünf großen Wochenmärkte in der 1,2 Mio.-Einwohner-Stadt Barquisimeto, auf denen wöchentlich rund 55.000 Familien kooperativeneigenes Obst und Gemüse einkaufen. Daneben gibt es ein Spar- und Darlehenssystem und als jüngstes Projekt die vor Jahren begonnene Gesundheitsinitiative. Mit monatlich 10.000 Behand­lungen in den Gesundheitszentren trägt dieses Projekt zur erschwinglichen medizinischen Basisversorgung der Kooperativenmitglieder und auch Außenstehender bei.

Angemessenheit statt Gleichheit

Lohn im klassischen Sinne bekommt bei Cecosesola niemand ausgezahlt. Stattdessen erhalten alle Mitglieder anticipos societarios (Mitgliedervorschüsse)Diese orientieren sich an den voraussichtlichen Einkünften der Kooperative und ihre Höhe – in etwa das Doppelte des gesetzlichen Mindestlohnes von zurzeit etwa 238 US-Dollar – wird in der Generalversammlung festgelegt. Die Verteilung des erwirtschafteten Ertrages erfolgt hingegen nach einem so genannten „Angemessenheitprin­zip“. Dies bezieht sich beispielsweise auf höhere Zahlungen an Familien mit Kindern oder auch die Finanzierung der Ausbildungskosten. Da die Mitgliedervorschüsse leistungsunabhängig sind, erhalten sie auch Mitglieder, die aufgrund von Alter oder gesundheitlicher Beeinträchtigungen nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr arbeiten können. So verfügt die Organisation über ihr eigenes soziales Netz.

Wandel braucht Zeit

Entscheidungen werden grundsätzlich im Konsens getroffen, was täglich zahlreiche Versammlungen erfordert und einen nicht unwesentlichen Teil der Zeit aller Kooperativenmitglieder in Anspruch nimmt. Eine feste Zuteilung von Arbeitsplätzen existiert nicht. „Im Rahmen des Möglichen sind im Prinzip alle Aktivitäten rotierend“, sagt cooperativista Georg Rath. Cecosesola verfolge das Ziel, „immer ein bisschen weniger kapitalistisch“ zu werden, wie Kooperativenmitglied Froilan Torin betont. Einfach, geschweige denn schnell, sei diese Transformation aber nicht. „Wandel braucht Zeit, denn Wandel ist mit Angst verbunden!“, gibt Rath zu bedenken. Daher sähen sich die Koopera­tivenmitglieder stän­dig mit der Herausforderung konfrontiert, mit ihren am eigenen Vorteil und Gewinn orientierten Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen umzugehen. So komme es auch immer wieder zum Austritt von Mitgliedern, denen das Geldverdienen allein wichtiger sei als die darüber hinausreichenden Vorzüge des Kooperativenlebens.
Aber auch wenn die Überwindung „alter“ Verhaltensmuster nach wie vor das größte Problem darstellt, bleiben die Mitglieder zuversichtlich. Laut Torin begreife man das tägliche Ringen um ein solidarisches Miteinander als einen „ständigen, offenen Lernprozess“, durch den man bereits erreicht habe, „eine kollektiv geführte Organisation zu entwickeln, die Tag für Tag demokratischer, flexibler, transparenter und solidarischer wird“.

Unabhängigkeit bewahren

Ein entscheidender Grundsatz von Cecosesola ist die prinzipielle Ablehnung (finanzieller) staatlicher Unterstützung. Jahrzehnte lang musste sich das Projekt aus eigener Kraft entwickeln, was zu einem hohen Maß an Unabhängigkeit und Autonomie geführt hat, welche es auch heute auf keinen Fall einbüßen möchte. Allerdings hat sich ihr Verhältnis zum Staat verändert. Sahen sie sich in ihren Anfangsjahren noch Repression ausgesetzt, ist das Verhältnis heute deutlich entspannter. Cecosesola hatte selbst Gesetzesvorschläge eingereicht, die zu großen Teilen in Verfassung und Kooperativengesetz eingegangen sind. Ebenfalls unterstützten sie auf Anfrage von staatlicher Seite die Ausbildung von über 700 Mitgliedern der Vuelvan Caras-Kooperativen. Doch darüber hinaus wollen sie sich weder vereinnahmen noch ihre Unabhängigkeit einschränken lassen. Cecosesola bestand schon lange vor Chávez und möchte auch nach ihm fortbestehen.
Gelegentlich kommt es aber auch heute noch zu Konflikten, wie im Falle der Planung eines kollektiv organisierten Friedhofs. Das Projekt, das zunächst vom bolivarianisch regierten Stadtrat begrüßt wurde, erhielt schließlich wegen befürchteter Steuerausfälle keine Erlaubnis. Denn als Kooperative hätte Cecosesola laut aktueller Gesetzgebung keine Steuern zahlen müssen.
Die Quintessenz der langjährigen Erfahrung von Cecosesola – die Unmöglichkeit, grundlegende Veränderungen in kurzer Zeit zu vollziehen – weist auf einen der Widersprüche hin, die das bolivarianische Projekt kennzeichnen: Schnelle Erfolge erzielen zu wollen und gleichzeitig grundlegend Strukturen zu verändern. So ist es fragwürdig, ob dem Erwartungsdruck und den akuten Bedürfnissen, mit denen sich die venezolanische Gesellschaft konfrontiert sieht, durch eine Orientierung an schnell und plakativ vorzeigbaren quantitativen Ergebnissen erfolgreich begegnet werden kann. Es wird sich zeigen, ob nach Chávez´ erneutem Wahlsieg im Dezember 2006 auch Raum für eine tiefer gehende Konsolidierung des bisher Erreichten entsteht und nachhaltigere Projekte und Strategien eine Chance bekommen. Denn vollzieht sich der Wandel nicht auch in den Köpfen, sind 181.000 offiziell bestehende Kooperativen genau so schnell wieder verschwunden wie sie entstanden sind.

Der Artikel bezieht sich größtenteils auf mehrere Veranstaltungen mit Isabel Valdivia vom staatlichen Agrarinstitut Venezuelas (INTI) sowie Mitgliedern der Cecosesola-Koope­rative (Froilan Torin und Georg Rath) im Rahmen des Kongresses „Solidarische Ökonomie im glo­ba­lisierten Kapitalismus“, der Ende November 2006 in Berlin stattfand. Für weitere Informationen:
www.solidarische-oekonomie.de

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