Brasilien | Nummer 342 - Dezember 2002

Bis jetzt war es einfach

Lula (PT) hat es im vierten Anlauf haushoch geschafft: Brasilien wird ab dem Jahreswechsel von einem linken Präsidenten regier

Die Opposition wettert was das Zeug hält gegen die neue linke Regierung, bevor ihr Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva überhaupt im Amt ist. Gute Ratschläge für ihn liest man täglich in der internationalen Presse. Der zukünftige Präsident Brasiliens nimmt’s gelassen und bereitet mit seinem Team die erwartungsvolle Wählerschaft und die internationalen Märkte auf das „Krisenjahr 2003“ vor.

Laurissa Mühlich

Lang ersehnt war der Wahlsieg Lulas. Am späten Nachmittag des 27. Oktobers war es soweit. Tausende seiner AnhängerInnen hatten sich auf der Avenida Paulista in São Paulo versammelt, um den Sieg ihres Kandidaten zu feiern. „Die Mehrheit der Wähler gibt mir die Gelegenheit zu beweisen, dass ein Mechaniker und ein Unternehmer (sein Vize José Alencar) für dieses Land erreichen können, was die Elite in all diesen Jahren nicht geschafft hat“, rief Lula ihnen zu. Der am 1. Januar 2003 sein Amt antretende Präsident hatte an diesem Tag also nicht nur seinen 57. Geburtstag zu feiern. Straßen und Strände im ganzen Land waren übersät mit Fahnen der Arbeiterpartei. Selbst die Medien, allen voran der TV-Sender „O Globo“, reihten sich in ungewohnter Begeisterung in die Siegesfeiern ein. Neben Analysen und Interviews zum Wahlausgang wurde die Lebensgeschichte des ehemaligen Gewerkschaftsführers geradezu vermarktet. Bilder des kleinen Luiz Inácio flimmerten über den Bildschirm: aufgewachsen in Brasiliens Armenhaus, dem nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco, die Mutter mit acht Kindern, in São Paulo auf der Suche nach Arbeit, dann der Gewerkschaftsführer Lula, der während der Militärdiktatur zur Massenmobilisierung für die Demokratisierung Brasiliens aufrief. Und schließlich im Sträflingsanzug nach seiner Verhaftung als führender Metallgewerkschafter. Der neue Präsident bündelt in seiner Person die Hoffnungen und Träume großer Teile der brasilianischen Bevölkerung.
Der gelernte Mechaniker hat sich zu einer breiten politischen Koalition mit einem Unternehmer als Vize-Präsidenten zusammen getan, der eine Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär machte. José Alencar von der Liberalen Partei (PL) steht zwar in seiner jetzigen Funktion für das Vertrauen des Mittelstandes und des Unternehmertums in die neue brasilianische Regierung, hat jedoch einen ähnlichen Lebensweg hinter sich wie der ehemalige Gewerkschaftsführer Lula. Erst kurz vor dem Wahlkampf war er zur PL gestoßen, um als Vize von Lula antreten zu können.
Am Tag nach der Stichwahl war es dann Schwarz auf Weiß zu lesen: Lula hat es mit einem Erdrutschsieg von 61,3 Prozent der gültigen Stimmen geschafft. Sein Gegenkandidat José Serra (PSDB) musste sich mit 38,7 Prozent der gültigen Stimmen geschlagen geben. Das vor allem von internationalen Finanzmarkt-Analysten vorausgesagte Chaos für diesen Fall blieb aus – zum einen war sein Sieg für alle abzusehen, zum anderen verlief das Debakel der brasilianischen Währung Real in den letzten Monaten unabhängiger als es manch einer gerne hatte darstellen wollen.

Koalitionen und Kompromisse

Lula geht gestärkt und mit unerwartet viel Vertrauen in seine erste Amtszeit – ein leichter Gang wird es jedoch ganz sicher nicht, wie er selbst sagt: „Ich hoffe, dass die Märkte gegenüber Brasilien denselben Respekt zeigen, den wir den Märkten entgegenbringen werden. Die Märkte müssen wissen, dass das brasilianische Volk dreimal am Tag essen will, und dass es in diesem Land Menschen gibt, die hungern.“ Es ist ein innen- und außenpolitischer Spagat, in dem die neue Regierung ihren Gleichgewichtssinn behalten muss. Einerseits gibt es Vereinbarungen mit dem IWF, die im Grunde keinen anderen Weg als einen strengen Sparkurs zulassen. Andererseits wird innenpolitisch von Lula jedoch vor allem ein umfassendes sozial- und arbeitsmarktpolitisches Reformpaket erwartet.
Im Abgeordnetenhaus wird die PT zwar mit 91 Abgeordneten die stärkste Fraktion stellen, doch von der absoluten Mehrheit unter den über 500 Mitgliedern ist sie weit entfernt. Außerdem – und das wird wohl zur größeren Hürde werden – stellt die bürgerlich-liberale PMDB die stärkste Fraktion im Senat. Hier ist die PT bei den Wahlen im Oktober lediglich drittstärkste Kraft geworden. Der Senat hat ein Vetorecht gegen Entscheidungen des Abgeordnetenhauses, so dass viel Verhandlungsgeschick von Nöten sein wird, um eine Reformpolitik à la PT wirklich auf den Weg zu bringen. Dem neuen brasilianischen Präsidenten wird nach seiner langen Gewerkschafterkarriere zwar nachgesagt, ein Mann des Dialogs zu sein. Sollte er es jedoch nicht schaffen, sich die nötige Unterstützung zu verschaffen, könnte es ihm ähnlich ergehen, wie seinen Parteikollegen in dem traditionell PT-regierten Bundesstaat Rio Grande do Sul. Tarso Genro, der Gouverneurs-Kandidat der PT unterlag hier gegen ein breites Bündnis bürgerlicher Parteien, die in den letzten vier Jahren der PT-Regierung im regionalen Parlament durch eine Blockadepolitik das Leben schwer gemacht hatten.
Insgesamt ging es für die PT auf bundesstaatlicher Ebene im zweiten Wahlgang schlechter aus als erwartet. Nachdem im ersten Wahlgang bereits die zwei Gouverneursposten von Acre im Norden und Piauí im Nordosten sicher waren, hatte man sich für den zweiten Wahlgang, der in 14 der insgesamt 27 Bundesstaaten Brasiliens stattfinden musste, größere Chancen ausgerechnet. Am Ende blieb nur Mato Grosso do Sul, wo „Zeca do PT“ das einzige weitere Gouverneursamt gewann, sieben weitere Kandidaten mussten sich geschlagen geben.
Mit welchen Prioritäten wendet sich die neue Regierung unter diesen Umständen den internen Problemen des Landes zu? Innenpolitisch steht das Programm „Fome Zero“, ein „Null-Hunger-Programm“, das bereits im Wahlkampf viel Raum einnahm, an erster Stelle. In den nächsten fünf Jahren sollen zehn Millionen Menschen von diesem ersten Schritt der Armutsbekämpfung profitieren. Für die Durchführung des Programms veranschlagt die neue Regierung Kosten von sechs Milliarden Real (etwa 1,5 Mrd. Euro).
53 Millionen der 170 Millionen BrasilianerInnen leben unter der Armutsgrenze und haben monatlich weniger als 80 Real (etwa 20 Euro) zur Verfügung. Darunter sind 23 Millionen Menschen, die immer wieder von Hunger bedroht oder betroffen sind und den täglichen Bedarf von 2000 Kalorien nicht decken können. Hierfür wird ein Monatseinkommen von 40 Real (etwa 10 Euro) für eine Familie angesetzt, was für die Mehrheit jedoch viel zu wenig ist. Trotzdem tauchen sie in einer offiziellen Armutsstatistik nicht als bedürftig auf. Daher geht die PT in ihren Schätzungen sogar von 44 Millionen von Hunger betroffenen BrasilianerInnen aus. Über die konkrete Umsetzung von „Fome Zero“ wird jetzt eine breite Debatte geführt. Besonders umstritten – auch innerhalb der PT – ist die Absicht, die Hilfe über Coupons zu verteilen, was einen paternalistischen Beigeschmack hätte und klienteilstischen Machenschaften Vorschub leisten könnte.
Untrennbar mit diesem Problem verbunden ist die Einkommenssituation auf dem Land und in der Stadt. Zu Reformen der ländlichen Grundbesitzverhältnisse sagte Jose Graziano, der Koordinator der Bodenreform, gleich nach der Wahl recht diplomatisch: „Die Verfassung ist ganz klar, denn nur die unproduktiven Ländereien werden enteignet. In den ersten Monaten werden keine Enteignungen stattfinden, denn wir müssen zuerst die angesiedelten Familien unterstützen.“ Nach einer Erhebung des brasilianischen Agrarreforminstituts INCRA handelt es sich bei 60.000 Großbetrieben mit insgesamt 166 Millionen Hektar um nicht rational genutzten Großgrundbesitz oder gegen Umwelt- oder Arbeitsgesetze verstoßende Nutzung des Bodens, wie es Artikel 184 der Verfassung definiert. Die PT spricht hier von 90 Millionen Hektar Land, die umzuverteilen seien. Dadurch könnten 1,8 Millionen ländliche Familien zu einer produktiven Beschäftigung kommen, so der Brasilianische Verband für Agrarreform (ABRA). Innerhalb von sechs Jahren würden dem Staat durch diese Reform ein jährlicher Kostenaufwand von 4,8 Milliarden Real (etwa 1,2 Mrd. Euro) entstehen.

Begrenzter Handlungsspielraum

Die finanziellen Dimensionen verschiedener Reformpakete stehen den hohen Erwartungen der Bevölkerung gegenüber, die Lula bereits vor der Stichwahl zu dämpfen versuchte. Trotzdem sind sich große Teile der Bevölkerung ebenso sicher, wie ein Gelegenheitsarbeiter, der am Wahlabend hinter seinem Hotdog-Stand verkündet: „Ich habe ihn gewählt, und er gibt mir schon Arbeit.“ Zwölf Millionen BrasilianerInnen sind arbeitslos, und auf das Staatsbudget drückt ein immenser Schuldenberg. Woher nehmen, wenn nicht stehlen, muss sich da die neue Regierung fragen und beginnt schon jetzt mit dem Aufbau einer breiten Koalition aus Unternehmern, Banken und Gewerkschaften, einen Sozialpakt zu entwerfen, der von einem gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialrat getragen werden soll. Dass der Mindestlohn kurzfristig nicht viel steigen könne, hat Lula bereits angekündigt. Sein Versprechen, ihn innerhalb von vier Jahren zu vervierfachen, werde aber gehalten.
Ohne einen stabileren Wechselkurs zum US-Dollar ist es jedoch um den finanziellen Spielraum für eine politische Wende schlecht bestellt. Und selbst dann ist bei einer Auslandsverschuldung von 250 Milliarden US-Dollar nicht viel zu holen. Vor allem weil mit dem letzten Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) im September dieses Jahres die Abhängigkeit Brasiliens von internationalen Gläubigern nur allzu deutlich geworden ist: Nur drei der vor zwei Monaten zugesagten 30 Milliarden US-Dollar wurden sofort ausbezahlt. Weitere drei Milliarden US-Dollar sollen vor Jahresende fließen – vorausgesetzt Brasilien zeigt die vom IWF geforderten “fiskalpolitischen Fortschritte”. Nach den Vereinbarungen, die sein Vorgänger Cardoso mit dem IWF schloss, muss unter anderem ein Haushaltsüberschuss von 3,75 Prozent des Bruttoinlandproduktes erwirtschaftet werden, um weitere Tranchen des Kredites zu erhalten. Es kommen also schwierige Zeiten auf Lula zu, wo doch allein schon 40 Prozent der Steuereinnahmen in Zinszahlungen fließen. Die von der Notenbank veröffentlichten Prognosen zum Abbau des Schuldenberges bis 2011 basieren zudem auf recht optimistischen Wachstumsprognosen von 3,5 Prozent pro Jahr. Daher wurden vor den Wahlen Befürchtungen geschürt, der neue „sozialistische“ Präsident könne bereits getroffene Vereinbarungen brechen und sogar Brasiliens Schuldenrückzahlung einstellen. Nach Lulas Wahlsieg hieß es dann aus internationalen Investorenkreisen, man brauche schleunigst Namen des zukünftigen Kabinetts, um die kommenden Entwicklungen einschätzen zu können.
Die Bekanntgabe der 55 Mitglieder des Übergangsteams, das den Regierungsantritt in zwei Monaten vorbereitet, hat trotzdem wenig an den brasilianischen Wirtschaftsdaten geändert. Auch jetzt erholt sich der Real, der seit Jahresanfang einen Wertverlust von über 40 Prozent erlitten hat, nicht wirklich. Die Zentralbank hob die Zinsen Anfang November überraschend von 18 auf 21 Prozent an, was von vielen Analysten als falsches Zeichen der Instabilität bewertet wurde. Die Zentralbank verteidigte den Schritt als eine Maßnahme zur Bekämpfung der steigenden Inflation.
Schuldensenkung und Wachstumsförderung – Lula ist mit alles andere als einfachen Aufgaben konfrontiert. Bevor er aber die großen Reformprogramme in Angriff nehmen kann, muss erst einmal der gewaltige Regierungsapparat durchleuchtet und mit der Korruptionsbekämpfung begonnen werden.
Das ist bei den niedrigen Gehältern der Beamten in Brasilien ein schier unlösbares Problem. Wo niemand mehr verdienen darf als der Präsident und dieser sich bereits mit 8.000 Real (etwa 2.000 Euro) im Monat zufrieden geben muss, ist Bestechlichkeit nur allzu nahe liegend. In São Paulo hat die PT bei der Korruptionsbekämpfung bereits Erfolge vorzuweisen – die Frage ist, ob sie auch Brasília knacken kann.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren