Argentinien | Nummer 414 - Dezember 2008

„Bolívars Traum wird umgesetzt werden“

Interview mit dem argentinischen Publizisten und Filmemacher Osvaldo Bayer

Der vielseitig bewegte und versierte 81-jährige Osvaldo Bayer begleitet, kommentiert und dokumentiert seit vielen Jahrzehnten die argentinische Geschichte. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihm über die Zukunft einer lateinamerikanischen Union, die aktuelle politische Situation sowie die Gegenwart der Vergangenheit in Argentinien.

Katja Fritsche

Wie schätzen Sie die aktuellen Transformationsprozesse in Lateinamerika ein?
Ich denke, dass Bolívars Traum von den Vereinigten Staaten von Lateinamerika in zehn oder fünfzehn Jahren umgesetzt werden wird. Die Grenzen auf dem Subkontinent sind total künstlich. Wir haben dieselbe Sprache, dieselbe Religion, dieselbe Sichtweise. Ich glaube, wir müssen dem Beispiel der Europäer folgen und einen lateinamerikanischen Markt schaffen. Der Rest wird sich von allein ergeben. Wie Bolívar es wollte.
Wir sehen, dass in Lateinamerika eine ganz neue Bewegung entstanden ist. Früher war es nur ein Traum zu denken, dass die Bevölkerung sozialistische Regierungen wählen würde. Aber jetzt gibt es die Prozesse in Venezuela, Kuba, Ecuador, Bolivien, Paraguay, Brasilien und Uruguay. Das ist ein Prinzip: Früher waren alle lateinamerikanischen Regierungen so wie die aktuelle Regierung in Kolumbien. Militärdiktaturen oder Regierungen, die viel versprachen, aber nichts verändert haben.

Werden denn die jetzigen linken Regierungen ihren Ansprüchen gerecht?
Es sind einige positive Sachen umgesetzt worden. Aber die Angst ist, dass die Bevölkerung, die große Erwartungen gehabt hat, müde wird. Diese Angst existiert auch in Argentinien. Wenn die ökonomischen Probleme großer Teile der Bevölkerung nicht gelöst werden, wird die Bevölkerung müde. Und dann kommen vielleicht wieder die Militärs mit Hilfe der Vereinigten Staaten. Das war immer die Erfahrung, die Argentinien gemacht hat.

Wo verorten Sie Argentinien im lateinamerikanischen Zusammenhang?
Kirchner ist nicht so eine typische Repräsentantin des Kapitalismus. Der linke Peronismus, der manchmal auch ganz rechts sein kann, hat verschiedene Aspekte. Cristina hat in ihrer einjährigen Amtszeit bereits viele Fehler gemacht. Beispielsweise die gleiche Besteuerung der kleinen und der großen Landbesitzer. Zum ersten Mal in der argentinischen Geschichte haben sich die kleinen und die großen Landbesitzer vereinigt. Die Regierung ist jetzt in einer so genannten Minderheitenregierung, eine Art Patt-Situation. Im Inneren Argentiniens hat Cristina sehr viel an Sympathie verloren. Auf der anderen Seite hat sich die Linke zusammen geschlossen und sie gegen die Großgrundbesitzer unterstützt. Jetzt herrscht eine Periode der Sprachlosigkeit. Fernández hat einige Abgeordnete im Kabinett ausgetauscht. Wir erwarten jetzt von dieser Regierung eine soziale Politik.

Besitzt Cristina Fernández de Kirchner denn innerhalb ihrer Partei eine Basis, auf die sie sich verlassen kann?
Der Peronismus ist im Moment total geteilt. Nur die Bürokraten der Gewerkschaftsdachverbände CGT und der CTA unterstützen Kirchner. Aber die kleine Bourgeoisie, die kleinen Landbesitzer und verschiedene Gouverneure, die vorher für Kirchner waren, sind jetzt gegen die Regierung. Es ist eine Frage der Ethik, ob nach der Regierungszeit eines Präsidenten die Frau des Präsidenten an die Macht kommt. Das ist für eine Demokratie nicht richtig. Cristina hat als Senatorin viele gute Sachen gemacht, aber sie ist der Präsidentschaft nicht gewachsen.

Wie sieht die wirtschaftliche Situation unter der Regierung Fernández de Kirchner aus?
Die Inflation in der letzten Zeit ist nicht so groß, aber es ist wie immer: viele Arbeitslose, die Preise steigen jeden Monat und die Arbeiter müssen kämpfen, um mehr Gehalt zu bekommen. Und jetzt will Kirchner den Tren Bala, den Zug, der mit fast 300 Stundenkilometern fährt. Es ist ein staatliches Projekt, aber es gibt eine große Opposition gegen den Bau und scheinbar hat Argentinien gerade kein Geld, ihn umzusetzen. Dafür haben wir gekämpft – keine Luxuszüge, sondern keine hungernden Kinder.

Manche HistorikerInnen sind der Meinung, dass man angesichts der heutigen Probleme die Vergangenheit in Argentinien ruhen lassen sollte.
Wir haben beide Arten von Problemen, die der Geschichte und die heutigen. Warum gab es in Argentinien 14 Diktaturen? Warum hat nicht einmal jemand die Demokratie verteidigt? Wir hatten keinen Präsidenten wie Salvador Allende in Chile, der sich den Militärs entgegengestellt oder das Volk aufgerufen hat, die Demokratie zu verteidigen. Und in der Bevölkerung hat sich auch niemand bewegt.

Woran liegt es, dass sich in Argentinien niemand hinter die Demokratie gestellt hat?
Wir hatten nie wirklich ideologische Parteien. Chile hatte eine starke sozialistische Partei. In Argentinien war die sozialistische Partei sehr klein und hatte nur ein paar Repräsentanten in wenigen Städten. Die zwei großen Parteien, die immer gewählt wurden (die Peronistische und die Radikale Partei; Anm. D. Red.), waren nicht sehr klar umrissen. Der Peronismus hat sehr viel für die Arbeiter getan, aber es war kein Sozialismus, sondern Populismus. Die Zustände blieben wie immer, nur dass sich die Lebensbedingungen für die Arbeiter ein bisschen verbesserten. Mit der radikalen Partei war es ähnlich, eine Art liberale Partei.

Wie schätzen Sie die Vergangenheitspolitik der Kirchners ein?
Der erste, der etwas getan hat, war Néstor Kirchner, das muss man ganz laut sagen. Es geht ganz langsam voran, nicht so, wie wir wollten. Aber wenigstens müssen die ersten Verbrecher der Diktatur mittlerweile ins Gefängnis – nach 30 Jahren. Wir müssen weiter kämpfen, um die Sache zu beschleunigen, denn sonst werden alle wie Videla vor ihrer Haft sterben.
// Interview: Katja Fritsche

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Osvaldo Bayer
geboren 1927 in der argentinischen Provinz Santa Fe, ist unter anderem Anarchist, Publizist, Historiker, Menschenrechtsaktivist und Drehbuchautor. Berühmt wurde er unter anderem durch Werke wie Patagonia Rebelde über Arbeiteraufstände Anfang des 20. Jahrhunderts in Patagonien. Für die gleichnamige Verfilmung des Regisseurs Héctor Olivera schrieb Bayer das Drehbuch. Beide wurden wegen des Films politisch verfolgt. Bayer lebte von 1976 bis 83 im Exil in Deutschland. Von 1958 bis 1973 war er Redaktionssekretär der argentinischen Zeitung Clarín, später Herausgeber der Zeitschrift Imagen. Heute ist er Mitarbeiter der Tageszeitung Página 12 und war bis 2006 Professor für das Fach Menschenrecht an der Philosophischen Fakultät der Universität von Buenos Aires.

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