Musik | Nummer 313/314 - Juli/August 2000

Brasilianische Klänge im Berliner Tempodrom

Die HeimatKlänge 2000 feiern 500 Jahre Brasilien mit afrobrasilianischer Musik

Seit Ende der sechziger Jahre brachte die Übernahme neuer Stile und Instrumentierungen in die brasilianischen Rhythmen eine Vielzahl neuer Stilrichtungen hervor. Samba, Bossa Nova und seit einiger Zeit Samba-Reggae aus Bahia haben dabei weltweit starke Verbreitung gefunden. Andere Stile blieben außerhalb Brasiliens bisher weitgehend unbeachtet. Heute ist es vor allem die Musik des Nordostens, die der so genannten Música Popular Brasileira neue Impulse gibt.

Katharina Broschk

5.-7. Juli: Ilê Aiyê
Ilê Aiyê („Haus des Lebens“) kommt aus Bahia, einem Bundesstaat in dem 90 Prozent der Bevölkerung schwarz ist. Die Hauptstadt Salvador da Bahia war im 17. und 18. Jahrhundert der wichtigste Einfuhrhafen für den Sklavenhandel. Und noch immer ist die Mehrheit im eigenen Staat unterprivilegiert oder wird diskriminiert. Ähnlich wie in den USA entstanden in den 70er Jahren in Salvador Gruppen zur Förderung des schwarzen Selbstbewusstseins und der sozialen Selbsthilfe.
Musik ist für den 1974 gegründeten Afro-Bloco Ilê Aiyê nur eine unter vielen Aktivitäten. Die Organisation unterstützt Grundschulen und hilft älteren bedürftigen Menschen. Vor allem aber sieht sich Ilê Aiyê als ein Beispiel für das Gedächtnis, den Stolz und die Selbstachtung der Schwarzen und den Erhalt der afrikanischen Kultur. Durch das entschiedene Eintreten für Schwarze ist Ilê Aiyê selber in die Kritik geraten, Rassismus zu fördern. So werden noch nicht einmal MulattInnen, geschweige denn Weiße, als Mitglieder aufgenommen. Mittlerweile wird diese Kritik von der Gruppe anerkannt und die starren Regeln beginnen zumindest im einen oder anderen Workshop aufzuweichen.
Ilê Aiyê berauscht bei seinen Auftritten durch afrikanische Kostüme und kraftvolle Rhythmen und Tänze. Ihre Lieder handeln von religiösen Riten des Candomblé, dem Widerspruch weißen und schwarzen Glaubens, den Helden der Befreiungskriege und den schwarzen Widerstandskämpfern.
12.-16. Juli: Velha Guarda da Mangueira
Velha Guarda da Mangueira („Alte Garde Mangueiras“) stammt aus einem Armenviertel Rios. Die auf einem Hügel gelegene Favela Mangueira beheimatet die gleichnamige und populärste Sambaschule der Stadt. In der „Velha Guarda“ ist die graue Eminenz aus der Gründungszeit der Schule versammelt, deren Verehrung in Sambakreisen fast kultische Züge annimmt. Früher hatten die Sambaschulen im Grunde nur eine Aufgabe: die Vorbereitung und Durchführung des Umzuges beim Karneval. Heute sind sie eine Art Gemeindezentrum, in dem man sich trifft, in verschiedenen Arbeitsgruppen Projekte organisiert und seine Sorgen und Nöte loswerden kann.
Die Samba de Enredo ist eine eigene Stilrichtung, die das musikalische Thema der Karnevalsumzüge im Sambódromo von Rio erzählt und von einer mehr als 100 MusikerInnen starken Trommeleinheit (batucada) begleitet wird. Einige Sambakompositionen des Karnevals wurden zu Klassikern und von berühmten Sängern in Liedform, samba-canção, mit abgespeckter Percussiongruppe auf Platte aufgenommen. Trotz der zunehmenden Kommerzialisierung des Samba darf man den ehrwürdigen Vertretern der Mangueira-Schule den gleichen Erfolg wünschen, der schon ihren kubanischen Altersgenossen bei uns zuteil wurde.

Renaissance des forró

Die Wiederentdeckung und Verarbeitung der Musik des Nordostens in der führenden Popmusik ist eine der erfrischendsten Bewegungen seit langem. In vielen Diskotheken in Rio und São Paulo gehört die noite de forró inzwischen zum Standardprogramm, besucht von trendigen GroßstädterInnen, Jugendlichen der classe média, Arbeitern und Intellektuellen, die sich den unwiderstehlichen Rhythmen des Nordostens hingeben und die Nacht hindurch forró tanzen. Der forró hat ein landesweites Fieber ausgelöst.
Eine Legende erzählt, der Name forró wäre die brasilianische Aussprache für „For All“. Wahrscheinlicher ist, dass das Wort von dem Ausdruck forrobodó („großes Fest“ in der Bantu-Sprache) abstammt und durch Sklaven nach Brasilien gebracht wurde. Vor einigen Jahren war forró das Sprungbrett für den eklektischen Sound des Mangue-Beat.

19.-23. Juli: Cabruêra

Die Mitglieder der Gruppe Cabruêra stammen aus Campina Grande im Bundesstaat Paraíba und greifen in ihrer Musik Rhythmen und Lieder der Folklore des Nordostens auf, die von den Medien seit langem vernachlässigt werden. Sie gelten als neuester Geheimtip des im Nachbarstaat Pernambuco entstandenen Mangue-Beat, berühmt geworden durch den 1997 verstorbenen Chico Science und seine Gruppe Nação Zumbi. Der Mangue-Beat ist kein spezifischer Rhythmus, er lässt sich am ehesten als wilde Mischung regionaler Stilrichtungen mit externen Einflüssen charakterisieren. Folkloristische Instrumente werden dabei neben elektrischen gespielt.
Bei Cabruêra stehen die folkloristischen Elemente im Vordergrund, neben Forró hört man Einflüsse der regionalen Rhythmen côco, baião, xaxado, galope und ciranda. Darüber hinaus bietet die Gruppe ein atemberaubendes Bühnenspektakel: Sie musizieren zum Beispiel mit Nagelfeilen und Kugelschreibern.

26.-30. Juli: Cidade Negra

Cidade Negra („Schwarze Stadt“) ist Brasiliens Reggae-Band Nummer 1. Das Quartett fand sich 1990 zusammen und macht in seinen Texten die Benachteiligung der afro-brasilianischen Bevölkerung zum Thema. Das verbindet die Gruppe aus Rio mit den Samba-Reggae-Bands aus Salvador da Bahia. Zeichen ihres internationalen Erfolges sind Auftritte in Jamaica und die Zusammenarbeit mit u.a. Shabba Ranks und der Dancehall-Queen Patra.
Ursprünglich stammen die Mitglieder der Band aus der Baixa da Fluminense, den für Drogen, Gewalt und Kriminalität berüchtigten armen Vorort Rio de Janeiros, und hier ist es auch, wo sie die Inspiration für ihre Arbeit finden. Auf den ersten Blick erscheinen Musik und Texte nicht neu, da viele der Elemente bereits im brasilianischen Pop verarbeitet wurden. Aber im Gegensatz zu einer ausgefeilten Poesie handeln ihre Lieder vom Alltag, von einfachen, nachdenklich stimmenden Ereignissen. Ihre Themen sind der tägliche Überlebenskampf, der Rassismus und die unglaubliche Vitalität der Menschen. Falar a verdade („die Wahrheit sagen“), Refrain einer ihrer Songs, wurde zu einem wichtigen Bestandteil ihres Konzepts.

2.-6. August: Pinduca

Pinduca aus Belém ist der „Rei do Carimbó“, der König des Carimbó, ein Rhythmus und Tanz aus dem dem Amazonasgebiet. Carimbó heißt auch die Trommel afrikanischen Ursprungs, die den Tanz mit dunklen Rhythmen begleitet.
Pinduca gilt als der Vater vieler Rhythmuskreationen: sirimbó, lári-lári, langode und nicht zuletzt lambada. Von sich selbst behauptet er, in einer halben Stunde einen neuen Rhythmus kreieren zu können. Während seiner 30-jährigen Karriere nahm er fast ebenso viele Platten auf und verbreitete seine Rhythmen dadurch auch in den Nachbarländern. Doch blieb dem König der große Erfolg bisher versagt, obwohl er seine Rhythmen in letzter Zeit modern arrangiert. So erinnert die Carimbó-Trommel in einigen Stücken stark an poppige kolumbianische Cumbias. Seine verschiedenartigen Stücke haben nur eines gemein: Sie sind bestens tanzbar!
Pinduca kommt mit einer 15-köpfigen Truppe. Während er singt, werden TänzerInnen regionale Choreographien der carimbó, boi bumbá, síria und anderer Rhythmen vorführen. Unter ihnen auch seine Tochter, der man die beste tänzerische Darbietung nachsagt.

9.-13. August: Elba Ramalho

Elba Ramalho ist die Blüte Paraíbas („Flor da Paraíba“), dem Bundesstaat im Nordosten. Diesen poetischen Namen gab ihr Caetano Veloso vor 20 Jahren zu Beginn ihrer Karriere.
Ende der 70er Jahre begann sich die Musik des Nordostens in ganz Brasilien zu verbreiten und Künstler wie Zé Ramalho, Moraes Moreira und auch Elba Ramalho erlangten größere Bekanntheit. Elba Ramalho hatte gerade durch ihre brillante Interpretation in Chico Buarque’s Musical A ôpera do Malandro (“die Gauneroper”) beeindruckt. Ihre Platte „Silbervogel“ wurde daraufhin gleich ein großer Erfolg. Elba transportierte in ihrem Timbre die Klänge des Nordostens, in ihren Liedern besang sie die dunkle Seite der brasilianischen Wirklichkeit wie die Trockenheit und den Hunger im Sertão. Die Medien wandten sich daraufhin von ihr ab.
Mit der Zeit besann sich Elba mehr auf die „touristischen Attraktionen“ des Nordostens, den Tanz, die Fröhlichkeit und natürlich den Forró. Mit ihren Liedern ist sie heute wieder ganz oben in den Charts, aber ihre Botschaft hat sie nie verleugnet. Die Blüte Paraíbas gehört zu den elektrisierendsten und expressivsten Stimmen der Música Popular Brasileira.

16.-20. August: Funk’n Lata

Die Samba-Funk-Gruppe Funk’n Lata („Funk in der Dose“) ging aus der Mangueira-Schule hervor. Der ehemalige Präsident Ivo Meirelles legte das musikalische Fundament mit den zehn besten Percussionisten der Mangueira, ersetzte das traditionelle cavaquinho (eine kleine vierseitige Gitarre mit hartem hellen Klang) durch eine elektrische Gitarre, fügte einen funkigen Bass dazu und heizte dem Ganzen noch mit einer dynamischen Bläsergruppe ein. Mit der Zeit hat Ivo Mereilles in der Favela die Anerkennung gewonnen, eine neue soziale Bewegung gegründet zu haben, die sich vornehmlich um Jugendliche kümmert. Besonderer Stolz gilt ehemaligen Drogenabhängigen, die durch die Mitarbeit und Gemeinschaft bei Funk’n Lata ihre Sucht in den Griff bekommen haben.
Ivo macht in Interviews keinen Hehl daraus, dass sein Hauptziel der kommerzielle Erfolg ist. So hat er bei der Produktion der letzten CD tief in die Erfolgstrickkiste gegriffen: Man nehme lauter bekannte Stars und lasse sie zum eigenen Beat singen, nehme alte Ohrwürmer wie Light my Fire und unterlege sie ebenfalls wieder mit demselben eingängigen Beat. Dazu kommen die zum Teil ziemlich vulgären Texte.
Wie auch immer, das Rezept scheint aufzugehen. Während der Fußballweltmeisterschaft 1998 wurde Funk’n Lata frenetisch in Europa gefeiert. Ob Samba-Funk aber ein bleibender neuer Musikstil ist, der sich ähnlich dem Samba-Reggae oder dem Mangue-Beat dauerhaft behaupten kann, wird sich erst noch zeigen.

Kasten: Bom Xibom, Xibom, Bom, Bom

Ab November werden in Brasilien die Karnevalhits des Jahres lanciert. Bahia dominiert inzwischen den nationalen Markt. Axé Music und Popsamba aus Bahia sind zur nationalen Karnevalsmusik geworden, gefragt sind Stücke zum Mitgrölen, Tanzen, möglichst mit einer eingängigen Choreographie. Zwar gibt es in Bahia noch interessante und qualitätsvolle Karnevalsmusik. Ilê Aiyê sind ein herausragendes Beispiel dafür, aber es ist in Brasilien äußerst schwierig, eine CD von ihnen zu erstehen. Es sind andere Bands die den Musikmarkt dominieren, allen voran È o Tchan, bei denen die Hintern der vortanzenden Frauen allemal wichtiger sind als die nichts sagenden Texte. Als letztes Jahr die zu einem nationalen Phänomen hochstilisierte Vortänzerin Carla Peres die Band verließ, wurde die Nachfolge per Volksabstimmung via Globo, dem größten Fernsehsender zu besten Sendezeiten geregelt.
Aber der Markt giert nach Neuigkeiten und jedes Jahr müssen neue Hits produziert werden. Grölhit Nummer 1 des Sommers war wohl „Oh Ana Julia“, dem lange Zeit überhaupt nicht zu entrinnen war. Außergewöhnlich allerdings die Urheber: die Rockband Los Raimundos, keine typische Karnevalsgruppe, die nun aber ihre Ana Julia nicht mehr loswird. Nummer 2 war ohne Zweifel “Bom Xibom, Xibom, Bom, Bom”, der all girl band Las Meninas (“Die Mädchen”). ein Lied, das die kurzlebige Karnevalssaison überdauert hat.
Als ich die Musik zum ersten Mal hörte, hielt ich es für ein Kinderlied, wie es ja auch der Titel und die simple Melodie nahe legen. Es ist der Text, der Bom Schibom, Schibom, Bom,Bom und Las Meninas interessant macht:
Bom Xibom, Xibom, Bom,Bom, Bom …
Die ererbten Ketten analysierend / Will ich mich aus dieser prekären Lage befreien / Der Reiche wird immer reicher / Und der Arme immer ärmer /
Den Grund dafür kennt schon alle Welt: / Was oben ist steigt höher / Was unten ist sinkt ab
Bom Xibom, Xibom, Bom,Bom
Ich will nur meine Kinder mit viel Würde erziehen / Ich will gut leben / Und mich ernähren / Aber was ich verdiene / Reicht nicht mal für die Butter aufs Brot /
Den Grund dafür kennt alle Welt / Was oben ist steigt höher / Was unten ist sinkt ab
Bom Xibom, Xibom, Bom, Bom
Das scheinbar so harmlose Karnevalslied enthält eine soziale Anklage, den Aufschrei einer wohl allein erziehenden Mutter. Es thematisiert die Auswirkungen von Globalisierung und den Würgegriff des IWF, in dem sich Brasilien zur Zeit befindet. Die soziale Situation wird treffend auf eine kurzen und freilich etwas simplifizierenden Nenner gebracht: die Reichen werden immer reicher, die Armen immer Ärmer, eine Feststellung, die durch die jüngsten Sozialstatistiken durchaus belegbar ist.
Um aber Las Meninas und “Bom Xibom, Xibom, Bom, Bom” richtig würdigen zu können, muss man die tanzenden Mengen gesehen haben. Massen, die im Karneval in die Knie gehen, wenns im Refrain heißt, „was unten ist“ und dann begeistert in die Höhe springen, wenns nach oben geht. Bei jedem Fest füllt sich sofort die Tanzfläche, wenn die ersten Töne von Bom Xibom, Xibom, Bom, Bom erklingen, alles geht in die Knie und springt nach oben. Zweimal schon durften die Meninas in der unsäglichen Sonntagsshow Domingão do Faustão auftreten, wo dann ein ganzes hinternwackelndes Fernsehballett auf und nieder springt. Und zu den Meninas als Band ist eigentlich nur zu sagen, dass sie all dies mit unerschöpflicher Heiterkeit und niemals ersterbendem Lachen vortragen. Ganz Brasilien tanzt also die soziale Frage. Könnte das der olle Marx doch sehen, der ja die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen wollte.
Analysieren wir aber aber das Phänomen Bom Xibom, Xibom, Bom, Bom, so kommen wir zu dem unabweislichen Schluss, dass die Meninas eine Antwort auf die ewige Frage der Kritischen Theorie parat haben – „Gibt es ein richtiges Leben im falschen?“: Es gibt zumindest ein lustiges Leben im falschen!
Thomas W. Fatheuer

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