Brasilien | Nummer 298 - April 1999

Brasilien nach dem Währungscrash

Nach der Mittelschicht erreicht die Krise nun die Armen

Am 15. Januar dieses Jahres hatte Brasilien bedingungslos kapituliert. Die über vier Jahre lang durchgehaltene Wechselkurspolitik mußte aufgegeben werden – die Überbewertung des Reals forderte Tribut. Es kam, was kommen mußte: die brasilianische Währung stürzte ab und verlor binnen kurzer Zeit etwa 50 Prozent ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar. Waren die ersten Opfer eher brasilianische TouristInnen und KäuferInnen importierter Wagen, erreicht die Krise nun auch die Armen. Und langsam wird klar, daß sie es einmal wieder sind, die letztendlich die Rechnung bezahlen werden.

Thomas W. Fatheuer

Die abrupte Abwertung einer Währung hat einige voraussehbare und an vielen Beispielen dokumentierte Konsequenzen. Die Verteuerung der Importe und die damit verbundene Reduktion der Importkapazität hat prompte und drastisch rezessive Auswirkungen. Diese werden durch die mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vereinbarten Sparmaßnahmen verschärft. Das Regierungsinstitut IPEA erwartet für 1999 einen Rückgang des Bruttosozialprodukts um etwa 4 Prozent. Der zweite Effekt ist ein Ansteigen der Inflation, hier liegen die Erwartungen bei etwa 15 Prozent.

Bezahlt wird jetzt!

Das alles sind erstmal abstrakte Zahlen, die sich aber schon im alltäglichen Leben auszuwirken beginnen. Die BrasilianerInnen machen nun einen Schnellkurs in Sachen globalisierter Ökonomie mit. Als erstes stiegen die Preise für Brötchen, deren Stabilität bei 10-12 Centavos ein Symbol des Plano Real war. Wieso – die kommen doch nicht aus den USA, sondern die produziert der Bäcker an der Ecke? Ja, aber, so erfahren die KosumentInnen, der Weizen wird zu fast 80 Prozent aus Argentinien importiert, dessen Peso bekanntlich an den US-Dollar gekoppelt ist. Also, 20 Prozent mehr für die Brötchen. Nun schmecken die pappigen Dinger entschieden besser mit Kaffee, aber auch der ist plötzlich um über 20 Prozent teurer geworden. Hier weiß nun der gewitzte Konsument, daß der aber garantiert nicht importiert ist, sondern auf brasilianischen Sträuchern wächst. Trotzdem Pech gehabt, denn der brasilianische Kaffee wird eifrig exportiert. Da nun der Exporteur auf dem Weltmarkt Dollar kassiert, die mehr Real entsprechen als vor der Abwertung, verlangt er auch auf dem Binnenmarkt höhere Preise in Real.
Nach dem Frühstücksschock setzt auch zum Mittagessen keine Beruhigung ein. Die Preise fürs beliebte Hähnchen haben angezogen. Nein, keine fiese Spekulation, wir erfahren, daß Brasilien in den letzten Jahren zu einem bedeutenden Hühnerexporteur aufgestiegen ist, Hauptabnehmer sind die arabischen Staaten. Da die leidgeplagten brasilianischen KonsumentInnen in unmittelbarer Abnehmerkonkurrenz zum Ölscheich stehen, müssen sie auch für den Flattermann ein paar Centavos mehr hinlegen. Und weil dem Scheich nun andererseits mehr Real für sein Öl zu zahlen sind, werden die Benzinpreise gleich gründlich erhöht – und dann gibt es kein Halten mehr, weil die Energiepreise sich ja bekanntlich überall niederschlagen…

Alles wird teurer

So also fühlen sich die BrasilianerInnen beim Gang in den Supermarkt an alte und keineswegs gute Zeiten erinnert. Die Preise erhöhen sich unaufhaltsam und der Effekt ist bereits meßbar: Die Inflationsrate stieg im Februar auf über 3 Prozent, im Monat versteht sich. Nun kommen in solcher Lage die unverbesserlichen politischen Neandertaler (Gewerkschaften) auf die absurde Idee, eine Lohnanpassung entsprechend der Inflationsrate zu fordern. Diese Hohlköpfe haben nun wirklich nichts von Marktwirtschaft und modernen Zeiten verstanden. Jetzt Inflationsausgleich – das bedeute ja Indexierung (automatische Lohnanpassung), und das heißt, daß die Inflationsspirale in Gang gesetzt und nicht mehr aufzuhalten sein wird. Auch der Einwand, daß doch zum Beispiel alle Mietverträge nach wie vor eine jährliche automatische Anpassung an die Inflationsrate vorsehen, zieht nicht. Hier werde schließlich Rechtssicherheit und Berechenbarkeit für Vertragsparteien geschaffen.

Konsumverzicht für das Volk

Nun, die alten Römer hatten solche Logik auf eine einfache Formel gebracht: Quod licet Iovi non licet bovi – Was für Iuppiter erlaubt ist, gehört sich noch lange nicht für jedes Rindvieh. Das Volk soll also erstmal Lohnverzicht üben, denn bei der breiten Masse bringt’s immer am meisten. Im Mai steht allerdings die jährliche Anpassung des Mindestlohnes an. Der beträgt 130 Reais (ein Real entspricht zur Zeit ziemlich genau einer Mark). Entsprechend den Vorstellungen der Regierung soll er lediglich um die Inflation der vergangenen 12 Monate angepasst werden, um etwa 7 Prozent. Da die sprunghaft ansteigende Inflation von 1999 sich in diesem Anpassungszeitraum nur schwach widerspiegelt, wird dies ganz einfach Kaufkraftverlust in den nächsten Monaten bedeuten – sprich die Armen werden wieder einmal ärmer.
Sie sollen also die Rechnung bezahlen für eine unverantwortliche Wirtschaftspolitik, deren Scherbenhaufen nun besichtigt werden kann. Die jahrelang durchgehaltene Kombination von Hochzinspolitik und Überbewertung des Reals haben ein wirtschaftspolitisches Desaster erzeugt. In vier Jahren hat sich die interne Verschuldung etwa verfünffacht. Brasilien, das bis 1994 immer große Außenhandelsüberschüsse zu verzeichnen hatte, importiert inzwischen mehr als es exportiert und wies 1998 ein Außenhandelsbilanzdefizit von 35 Milliarden US-Dollar auf. Dieses Defizit wurde in kürzester Zeit unfinanzierbar, als nach der Rußlandkrise im August vergangenen Jahres eine abrupte Kapitalflucht einsetzte, mithin die zur Defizitdeckung erforderlichen Kapitalimporte ausblieben.
Drastische Haushaltskürzungen, die die ohnehin nur zögerlich in Angriff genommene Agrarreform besonders hart treffen, Abwertung und Rezession sind nun einerseits die Folge der gescheiterten Wirtschaftspolitik, andererseits sollen sie aber auch zugleich das Heilmittel sein – die berühmte bittere Medizin. Die Handelsbilanz wird sich verbessern, die Exporte werden durch den billigen Real wieder wettbewerbsfähiger und die Zahlungsbilanz wird weniger durch kaufwütige BrasilianerInnen in Miami belastet. Diese Erleichterungen werden allerdings zum großen Teil in den Schuldendienst fließen, der durch die Abwertung natürlich teurer wird. Die Kombination von Abwertung und Rezession wird jedenfalls dazu dienen, die Inflation unter Kontrolle zu halten und die Ungleichgewichte der ersten Phase des Plano Reals zu korrigieren – jetzt aber mit extrem hohen sozialen Kosten.
Während die Regierung also alles tut, um das internationale Kapital, das ja bekanntlich ein scheues Reh ist, bei der Stange zu halten, wird die eigene Bevölkerung, die nicht so beweglich ist wie das Finanzkapital, zur Kasse gebeten. Präsident Cardoso hat bei Ausbruch der Krise nicht gezögert, sich in die Hände des IWF zu begeben. Die neue Stabilisierungspolitik ist bis aufs Detail mit dem IWF ausgehandelt. Für viele BrasilianerInnen war es äußerst befremdlich zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit Weltbankdirektor Stanley Fisher die neue brasilianische Wirtschaftspolitik auf einer Pressekonferenz vorstellte und Wirtschaftsminister Malan wie einen Vasallen aussehen ließ, der auch noch die ganze Zeit nur englisch sprach. Der Schriftsteller João Ubaldo Ribeiro kommentierte die Szene mit harschen Worten: „Habt ihr Minister Malan und den Chef der Besatzungstruppen im Fernsehen gesehen? In dem Augenblick, ich gebe zu, es ist eine gewisse Übertreibung, habe ich mich an den schmerzverzerrten Gesichtsausdruck eines Franzosen erinnert, angesichts des Aufmarsches der deutschen Truppen unter dem Triumphbogen. Sie brauchen sich schon gar nicht mehr zu verstellen, die Auslieferung ist total.“ (A Tarde, 142.1999).
Der zweite Akt von großer Symbolik war die Ernennung von Armínio Fraga zum neuen Zentralbankchef. Fraga wechselte vom Megaspekulanten Soros zur Zentralbank, alles im Namen des Vertrauens der Finanzmärkte.

Zwei verlorene Jahrzehnte?

„Ich bin überzeugt, daß die Bevölkerung weiß, daß Brasilien 1998 besser ist als das Brasilien von 1994, sie weiß, das im heutigen Brasilien die Armen nicht mehr die Rechnung für ökonomische Irrtümer zahlen.“ Dies sind Worte von Fernando Henrique Cardoso, gesprochen im Juli 1998. Nur wenige Monate und eine Wahl später, dementieren die Zahlen den präsidentialen Optimismus.
Nach Berechnungen von Gilberto Dupas (Folha de São Paulo vom 12.3. 1999) gab es im berühmten „verlorenen Jahrzehnt“, den achtziger Jahren, einen unbedeutenden Anstieg des Bruttosozialprodukts (BSP) pro Kopf von 5 151 auf 5 347 Reais (1989), eine Steigerung von 0,3 Prozent pro Jahr. Falls das BSP 1999 nur um 3 Prozent sinken sollte (eine optimistische Annahme!) würde das pro Kopf 5 296 Reais bedeuten, ein Wert also, der unter dem von 1989 liegt und nur ganz knapp über dem von 1980: In zwanzig Jahren eine Steigerung um 2,8 Prozent.
In der offiziellen Regierungspropaganda ist der Plano Real als die größte Umverteilung von oben nach unten in der Geschichte Brasiliens angepriesen worden. Tatsächlich ist unumstritten, daß das drastische Sinken der Inflationsrate 94/95 und die Anhebung des Mindestlohnes 1995 (von 70 auf 100 Real) einen deutlichen Kaufkraftgewinn, gerade für die ärmsten Teile der Bevölkerung, gebracht hat. 1992 galten 42 Prozent der Erwerbstätigen als arm, diese Zahl sank bis 1996 auf 31,3 Prozent. Nach Berechnungen von Marcio Pochman (Unicamp) wird die Zahl bis Ende 1999 wieder auf 43,8 Prozent ansteigen, wenn das BSP um 3,5 Prozent sinkt (nach Folha de São Paulo vom 28.2.1999).
Auch die soziale Ungleichheit wird wieder auf das Niveau der Zeiten vor dem Real ansteigen. Die Auswirkungen des Plano Real auf die Einkommensverteilung war ohnehin gering. Nach den letzten verfügbaren Daten des Weltentwicklungsberichts der Weltbank (1998/99) lag Brasilien auch 1995 mit einem Gini-Koeffizienten (Maßstab für die Einkommensverteilung) von 60,1 in der absoluten Spitzenklasse. Nach Sierra Leone bedeutet dies die höchste Einkommenskonzentration der Welt!
Fünf Jahre Stabilisierungspolitik haben also, primär als Folge der Inflationseindämmung, zwar zunächst einen gewissen Kaufkraftschub gebracht, sie haben aber weder nennenswertes wirtschaftliches Wachstum produziert noch einen nachhaltigen Beitrag zur Veränderung der Sozialstruktur Brasiliens geleistet – das allerdings mit hohen sozialen Kosten für einen Teil der Bevölkerung: Die offizielle Arbeitslosenquote erreichte 1999 eine Quote von 7,73 Prozent, die höchste seit 1983, dem Beginn der Statistik. Die vom IBGE ermittelten Zahlen dürften dabei kaum die reale Situation widerspiegeln, sind aber als Vergleich wichtig. IBGE schließt jeden aus seiner Statistik aus, der auch nur der geringfügsten Beschäftigung nachgegangen ist. Das Gewerkschaftsinstitut DIESSE zusammen mit SEADE, einer Art statistischem Landesamt, kommen mit einer realistischeren Methode zu ganz anderen Zahlen: danach liegt die Arbeitslosenquote in São Paulo bei 17,8 Prozent, im Großraum São Paulo, dem traditionellen Industriegürtel, gar bei 20 Prozent.
Diese Zahlen sind auch ein Hinweis dafür, warum es den Gewerkschaften und linken Parteien so schwer fällt, eine soziale Mobilisierung gegen die Regierungspolitik zu Stande zu bringen. Und anders als in Ecuador ist das Finanzsystem nicht zusammengebrochen. Der Regierung gelingt es immer noch, einen großen Teil der Bevölkerung, ihre Politik als einzig mögliche, als Vollzug der ehernen Notwendigkeiten der Marktgesetze zu verkaufen. Auch wenn die diffuse Unzufriedenheit wächst und die Popularität des Präsidenten in den Umfragen drastisch sinkt, ist es der Opposition bisher nicht gelungen, gegen den „ökonomischen Terror“ mobil zu machen.

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