Nummer 335 - Mai 2002 | Sport

Brasilien vor der WM

Auf der Suche nach dem verlorenen Fußball

Die Weltmeister von 1994 stehen vor einer Fülle von Problemen: Miserable Qualifikationsspiele, angeschlagene Stars und korrupte Vereinsstrukturen. Und Romàrio, der Star von 1994, ist auch nicht dabei.

Thomas W. Fatheuer

Auch im Freundschaftsspiel gegen Portugal konnte Brasilien wieder mal nicht überzeugen. Ein 1:1 – und nur per Elfmeter gelang dem vierfachen Weltmeister ein Tor. Vorher in Brasilien hatte es nur zu einem mageren 1:0 gegen Jugoslawien gereicht, hier musste ein Jugoslawe die Vorlage zum einzigen Tor geben. Bueno Galvão, der unvermeidliche Fußballreporter von TV Globo, versucht vergeblich Euphorie zu verbreiten. Sein nationalistisches Geschrei bringt den brasilianischen Fußball auch nicht nach vorne. Für Globo steht viel auf dem Spiel: als einziger brasilianischer Sender hat er bei dem Millionenpoker um die Übertragungsrechte mithalten können. Nun aber kommen die Werbeeinnahmen nicht wie erhofft. Unmögliche Spielzeiten (7.00 morgens!) und die schwache Vorstellung der Nationalmannschaft lassen nicht die landesübliche Voreuphorie aufkommen. Was ist los im Land des Fußballs?
Für Optimisten sind die wenig überzeugenden Ergebnisse und Leistungen des brasilianischen Teams in den letzten Freundschaftsspielen Grund zu vorläufigem Aufatmen. Immerhin geht es etwas besser als bei den Qualifikationsspielen. Tatsächlich musste Brasilien nach blamablen Vorstellungen bis zum letzten Spiel um seine Qualifikation bangen. Die Liste der Niederlagen ist lang und beeindruckend: Brasilien verlor seine Qualifikationsspiele gegen Argentinien, Uruguay, Bolivien, Ecuador, Chile und Paraguay. Auswärts wurde Brasilien sogar für mittelmäßige Teams eine leichte Beute. Lediglich die Heimstärke und ein mühseliger Sieg im letzten Spiel gegen Venezuela sicherten die WM – Teilnahme. Eine derartig qualvolle Qualifikation ist einmalig in der Geschichte des brasilianischen Fußballs.
Nun ist allgemein bekannt, dass es dem Land nicht an exzellenten Fußballern fehlt – ein Blick auf die europäischen Clubs genügt. Aber keinem der häufig wechselnden Trainer ist es gelungen, aus dem über den Globus verstreut spielenden Stars ein funktionierendes Ensemble zu formieren. Auch ist deutlich, dass Brasilien zwar einen Überschuss an hervorragenden Stürmern produziert – welches Land lässt Spieler wie Elber oder Amoroso zu Hause? – aber keinen zuverlässigen Mittelfeldspieler, der in der Lage ist, das Spiel zu ordnen. Neben einer leichten Abwehrschwäche (auch hier sind die Außenverteidiger besser in der Offensive als in der Defensive) ist das Mittelfeld wohl die Achillesferse der brasilianischen Mannschaft.

Ronaldinho und Co

Fußball lebt – nicht nur – in Brasilien von der Hoffnung auf große Stars. Wer der Retter der Nation sein soll, ist klar: Ronaldinho, der von Inter Mailand oder einfach o phenómeno („Das Phänomen“). Der Versuch, ihn in Ronaldo umzutaufen funktioniert zumindest in Brasilien nicht. Nur war Ronaldinho fast zwei Jahre dauerverletzt und kommt erst seit kurzem in der Nationalmannschaft und bei Inter wieder zum Einsatz. Aber die Nation hofft auf die triumphale Rückkehr des „Phänomens“ in Korea.
Die zweite große Hoffnung trägt denselben Namen, Ronaldinho, der von Paris Saint Germaint, in Brasilien allgemein als Ronaldinho Gaucho bekannt. Tatsächlich ein junger, brillanter Spieler (Sturm oder offensives Mittelfeld), aber in der Nationalelf mit schwankender Leistung. Die dritte entscheidende Stütze soll Rivaldo sein, aber auch er kämpft mit Verletzungsproblemen.
Zwei der drei großen Hoffnungen Brasiliens gehen also angeschlagen in die WM – eine riskante Option zu der es aber anscheinend keine Alternative gibt.

Alle wollen Romário

Das Trio Rivaldo, Ronaldinho (2X) ist sicherlich ein nationaler Konsens, trotz einiger Animositäten gegen Rivaldo, der den Ruf hat, etwas zu pomadig zu spielen. Der Trainer ist auch ein weitgehender Konsens. Nach verschiedenen Wechseln hat Felipe Scolari – Felipão – das Amt angetreten. Damit hat der brasilianische Fußballverband zweifelsohne dem Volkswillen Rechnung getragen. Intellektuelle Kritiker wenden zwar ein, dass die von ihm trainierten Vereinsmannschaften eher defensiv und überhart spielten, aber er hat es immer verstanden, die Spieler dazu zu bringen, bis zum Umfallen zu kämpfen. Zudem wirkt er volksnah und zeigt seine Emotionen – kein cooler Funktionärstyp. Politisch ist er eher eine unerfreuliche Erscheinung, hat er sich doch als Bewunderer Pinochets geoutet. Das stört in Brasilien weniger als etwas anderes: störrisch beharrt Felipão darauf, Romário nicht ins Team zu berufen.
Romário, der Star der WM von 1994, ist inzwischen 35 Jahre alt, aber schießt in der brasilianischen Meisterschaft Tore wie am Fließband. Gäbe es Direktwahlen zur Mannschaftsaufstellung, könnte Romário schon seinen Flug nach Korea buchen. Die Frage Romário oder nicht ist Gesprächsthema Nr.1, und fast alle wollen Romário. Sogar Präsident Cardoso – der nicht gerade wie ein Fußballkenner wirkt – hat sich für Romário eingestzt. Der als undiszipliniert bekannte Altstar hat öffentlich Abbitte für alle Sünden gebeten, die Unterwerfung unter Felipão geschworen und vor den Augen der Nation geweint – aber nicht das Herz des Trainers erweichen können. Nur Tore der Ronaldinhos werden den Ruf nach Romário verstummen lassen können. Für Gesprächsstoff ist also gesorgt.

Der geschundene Fußball

Die Schwierigkeiten der Nationalmannschaft hängen wohl mit einer Dauerkrise des organisierten brasilianischen Fußballs zusammen. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss hat im letzten Jahr haarsträubende Machenschaften des nationalen Fußballverbands und der Vereine aufgedeckt – freilich ohne drastische Konsequenzen. Die Organisation der nationalen Meisterschaft ist chaotisch, ständig werden die Regeln geändert. Alle großen Vereine sind hoch verschuldet und zahlen ihre Gehälter nicht mehr regelmäßig. Der populärste (und verhassteste) Club, Flamengo aus Rio, ist pleite, wichtige Spieler haben den Verein verlassen. Der Präsident Vascos, eines anderen Traditionsteams aus Rio, war einer der Hauptangeklagten des Untersuchungssauschuss. Er hat offensichtlich Gelder auf Konten in Steueroasen umgeleitet. Er ist auch Bundesabgeordenter, um – wie er sagt – nicht die Interessen des Volkes, sondern die von Vasco zu vertreten.
Die Mehrzahl der wichtigsten brasilianischen Vereine werden von solchen populistischen Gestalten geführt und ruiniert. Die Quittung kam bei der letzten Meisterschaft. Wer bestritt das Endspiel? Keiner der Traditionsclubs, sondern São Caetano gegen Atlético Paraense. São Caetano ist ein neuer Verein aus dem Großraum São Paulo, Atlético kommt aus dem Staat Curitiba, der Hauptstadt Paranás. Mit dem Gewinn der Meisterschaft durch Atlético hat zum ersten Mal seit vielen Jahren ein Club aus der Fußballprovinz die Oberhand behalten. Aber dies reicht im Jahre 2002 noch nicht aus, um tief greifende Änderungen im organisierten Fußball einzuleiten. Opfer sind auch wichtige Spieler. Luizão, der mit seinen Toren in den letzten Qualifikationsspielen zum Retter der Nation avanciert war, ist nach einem Streit um nicht gezahlte Gehälter mit Corinthians ohne Verein, womit seine WM-Teilnahme in den Sternen steht.

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