Chile | Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003

Chile heute – eine bleibende Herausforderung

Es gibt noch viel zu tun in Chile. Die Demokratie ist da, aber die Apathie muss überwunden werden

Dreißig Jahre nach dem Putsch in Chile sieht es eigentlich ganz erfreulich aus für das Land: Der Wirtschaft geht es vergleichsweise gut und es scheint Konsens zu bestehen über ein „Nie wieder“ bezüglich der Diktatur. Aber von innen betrachtet gibt es noch viele Wunden. Die Vergangenheitsbearbeitung ist zum Teil heuchlerisch, es herrscht große soziale Ungleichheit, und die ChilenInnen fühlen sich bedroht

Klaus Heynig

Im Jahre 2003: noch fehlen einige Tage bis zum 11. September dem Tag des Militärputsches vor 30 Jahren. An jenem denkwürdigen Tag geschah in Chile ein historischer Bruch, der eine 17 Jahre dauernde Diktatur hervorbrachte, die sich an brutalen Verletzungen der Menschenrechte schuldig machte. Ein Regime, das letzten Endes erreichte, was die Volksfrontregierung unter Allende nicht schaffte: eine radikale Transformation des Landes in sozialer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. Eine Revolution, aber mit umgekehrten Vorzeichen und Zielen gegenüber der von der Unidad Popular angestrebten „Revolution in Demokratie, mit empanadas und Rotwein“.

Eine Momentaufnahme

Wer die Gelegenheit gehabt hat Chile in den letzten Wochen oder Tagen zu besuchen, konnte feststellen, dass die Medien dabei sind, die Ereignisse, die zu dem Putsch geführt haben, in allen möglichen Einzelheiten wieder ins Gedächtnis zu rufen. Das gibt allen ProtagonistInnen dieser Ereignisse die Gelegenheit, ihre Erinnerungen, vernarbten (oder auch nicht) Wunden und Meinungen an die Öffentlichkeit zu bringen.
Der Besucher sieht ein Land, in dem Regierung, Parlament und Rechtsprechung, die politischen Parteien – einschließlich die Rechten –, die Militärs, die Kirche, die Familienangehörigen der Verhaftet – Verschwundenen darüber diskutieren, wie das Thema der Menschenrechte, die Verurteilung der Schuldigen, die Entschädigungszahlungen für die Opfer und ihre Familien angegangen werden sollen, ohne die Prinzipien der Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verletzen (siehe Artikel von Sandra Grüninger in diesem Heft).

Kein Morgen ohne Gestern

Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, dass das Land sich in lobenswerter Weise mit der Aufarbeitung und Bewältigung seiner Vergangenheit beschäftigt, gemäß dem von Präsident Lagos geprägtem Motto „es gibt kein Morgen ohne ein Gestern“.
Es gibt jede Menge „Nie wieder“-Erklärungen von Personen, die noch vor kurzem weit davon entfernt waren, ihre Beteiligung und noch weniger ihre Schuld am Putsch anzuerkennen.
Andere Protagonisten der damaligen Ereignisse erzählen ihre Geschichte, rechtfertigen die Rolle, die sie damals gespielt haben, und legen ihr „mea culpa“ ab, was ihre Beteiligung an den Ereignissen betrifft, die zum Bruch der demokratischen Institutionalität in Chile geführt haben.
Dem Beobachter drängt sich der Verdacht auf, dass hinter den öffentlichen Schuldbekenntnissen oft die Verteidigung persönlicher Interessen steht, der Versuch, die Geschichte aus ihrer eigenen Perspektive neu zu schreiben, ihr Image zu säubern – in der nicht unberechtigten Hoffnung darauf, dass die historische Erinnerung der ChilenInnen unvollständig und brüchig ist.
Für viele ChilenInnen gehören die Bilder und Zeugnisse, die sie täglich in Zeitungen und Fernsehen wahrnehmen, zu einem traumatischen Kapitel der Generation ihrer Eltern: die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung ist nach dem 11. September 1973 geboren. Allerdings reichen die Schatten dieser Ereignisse bis heute, und für viele stellen sie weiterhin eine offene Wunde dar. Nach einer kürzlich durchgeführten Meinungsumfrage sind 87 Prozent der ChilenInnen der Auffassung, das auch 30 Jahre nach dem Militärputsch das Land noch keine Versöhnung erreicht hat, und fast die Hälfte (44 Prozent) ist der Meinung, dass dieses historische Ereignis am meisten ihr Leben beeinflusst hat. Andererseits bevorzugen drei Viertel der Befragten, auf die Frage, ob es besser sei, zu erinnern oder zu vergessen, das Vergessen.

Wachsen und Ungleichheit

Aber es gibt auch das andere Chile, das in dieser Zeit entstanden ist, vor allem seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahre 1990. Ein Land, das zu einem Musterschüler der Internationalen Finanzorganisationen geworden ist, mit stolzen Wachstumsraten, großen Infrastrukturinvestitionen, gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht, einem erstaunlichen Zuwachs der Staatsausgaben im Sozialbereich und einer Halbierung der Armutsrate, institutioneller Stabilität und guten Noten in Bezug auf Regierungsführung, zumindest im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern.
Die orthodoxe Durchführung des herrschenden Wirtschaftsmodells in Chile beinhaltet auch nicht wegzuleugnende Schattenseiten: Es ist durch eines der höchsten Maße von sozialer Ungleichheit in Lateinamerika und in der Welt gekennzeichnet; und diese Ungleichheit hat sogar in den letzten Jahren trotz (oder gerade wegen) der makroökonomischen Fortschritte zugenommen. In der Tat, es gibt weniger Armut, aber die Ungleichheit nimmt zu. Im Jahre 2000 kommt 40 Prozent des Volkseinkommens den zehn Prozent reichsten Haushalten zugute, während die 40 Prozent ärmsten Haushalte gerade mal 14 Prozent bekommen. Auch in anderen Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Wohnungsbau verharrt die Ungleichheit oder vertieft sich sogar. Dies verhindert, dass der Teufelskreis der Übertragung der Armut von einer Generation zur anderen durchbrochen wird. Diese Hürde erschwert das Einhalten der Wahlversprechen des regierenden Mitte-Links-Bündnisses Concertación, nämlich verstärktes Wirtschaftswachstum mit mehr Gleichheit und Gerechtigkeit zu erreichen, damit Chile im Jahre 2010, 200 Jahre nach seiner Unabhängigkeitserklärung, ein entwickeltes Land werde.
Nach den Meinungsumfragen sind die ChilenInnen mehrheitlich mit den Veränderungen einverstanden, und sie sind der Meinung, dass es ihnen besser geht als ihren Eltern. Der – wenn auch ungleiche – Zugang zu Gütern und Dienstleistungen erlaubt den meisten eine Verbesserung ihres Lebensstandards. Auf der anderen Seite sind sie unzufrieden mit den Schwächen des Wirtschaftssystems, vor allem mit den hohen Arbeitslosenraten und der fehlenden sozialen Absicherung, mit der zunehmenden Kriminalität (obwohl weit niedriger als in anderen lateinamerikanischen Ländern), der Luftverschmutzung. Oder dem Verkehrschaos in Santiago. Dazu kommt die schon erwähnte mangelnde Identifizierung mit den demokratischen Institutionen, das Fehlen eines nationalen Projektes.
Das heißt, von außen gesehen erscheint Chile als „statistisch“ erfolgreiches, aber von seinen Bürgern ungeliebtes Land.

Die Sicht der ChilenInnen

In der öffentlichen Meinung hat die Veränderung des politischen Regimes keine wesentliche Veränderung des „Systems“ hervorgebracht. Der Kapitalismus erscheint als Naturprozess, und die so genannten Marktgesetze werden als unveränderbar wahrgenommen. Wenn das Wirtschaftssystem und die Sozialordnung von politischen Entscheidungen nicht beeinflusst werden können, dann ist die Beteiligung an Politik und an der Gestaltung der Zukunft sinnlos.
Aus der subjektiven Wahrnehmung der Wirklichkeit lassen sich die Warnsignale und Nachteile des gegenwärtigen Entwicklungsmodells ableiten. Demokratieverdruss, Entpolitisierung und Apathie sind im letzten Jahrzehnt stärker geworden. Wenn in Meinungsumfragen Ende der 80er Jahre noch 90 Prozent die Demokratie befürwortet haben, sind es heute nur noch 50 Prozent, eine der niedrigsten Raten in Lateinamerika. Politische Partizipation, der Kern der Staatsbürgerschaft, wird auf die Stimmabgabe reduziert; sie ist sehr niedrig bei den politischen Parteien und öffentlichen Kundgebungen, wenn sie mit den historischen Tendenzen bis 1973 verglichen wird. Die Beteiligung an Gewerkschaften und Gremien ist nicht höher als 15 Prozent – was auch die schwache Beteiligung am Generalstreik im August erklärt. Mehr als eine Million Jugendliche von 18 bis 24 haben sich nicht in das Wahlregister eingeschrieben, was dazu führt, dass die Älteren stärkeren Einfluss auf Wahlentscheidungen haben.

Angst vor dem “Anderen”

Fast die Hälfte der WählerInnen glaubt nicht, dass ihre Stimme „etwas ändern kann“. Auch die Glaubwürdigkeit des Parlaments und der Parteien ist gering, ebenso wie die der Politiker: so sind zum Beispiel 65 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Parteien nur ihre eigenen Interessen verfolgen.
Es gibt eine Krise des sozialen Zusammenhangs, die sich in der Furcht vor dem anderen und in Misstrauen ausdrückt: 91 Prozent sind der Meinung, dass man sich vor Fremden in Acht nehmen müsse. Diese Gesellschaft weist einen hohen Grad an Intoleranz und Diskriminierung gegenüber den Armen, den Mapuches, den Immigranten, den Alten, den Juden oder den Homosexuellen auf.
Kein Wunder, dass ein hohes Maß an Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Gesellschaft existiert: 80 Prozent sind der Meinung, „die chilenische Gesellschaft sei immer aggressiver geworden“, 64 Prozent meint, sie sei „immer egoistischer“, 81 Prozent hält sie für sozial ungleich und 70 Prozent für ungerecht.
Heute, nach 30 Jahren, ist Chile insgesamt eine Gesellschaft mit einem höheren Grad an Intoleranz, an Zurückweisung des Anderen; konservativer in ihren Werten, traumatisiert durch die Diskussionen der Vergangenheit, und auf der Suche nach Frieden und Harmonie. Mehr als die Hälfte der ChilenInnen (57 Prozent) meinen, die Regierung Lagos sollte zur Lösung der großen Themen den Konsens zwischen dem Regierungsbündnis und der Opposition angehen suchen.

Chile quo vadis?

Der „autoritäre Wandel“ des Pinochet-Regimes ist durch den „demokratischen Wandel“ der Concertación abgelöst worden. Aber das hat nicht zu einer wirklichen Demokratie geführt. Die Regierungsfähigkeit des Landes beruht auf einem prekären Gleichgewicht der Machteliten, während die Bevölkerung sich damit begnügt, ein politisch reales, aber institutionell mangelhaftes, sozial wenig partizipatives und ineffektives Repräsentationssystem zu legitimieren.
Aber trotz dieser Situation und dem unbestreitbaren Verschleiß der Concertación nach 13 Jahren an der Regierung, der sich in einer Kette von Skandalen ausdrückt, untersstützt immer noch (gemäß einer Meinungsumfrage zur Präsidentschaftswahl 2006 vom Juli diesen Jahres) mehr als die Hälfte der ChilenInnen die Regierung Lagos, und ein Drittel identifiziert sich politisch mit der Concertación, während nur 18 Prozent mit der oppositionellen Alianza por Chile sympathisiert.
Die letzten Meinungsumfragen vom Juli dieses Jahres zeigen den Oppositionskandidaten Lavin weiterhin an der Spitze der Wählergunst, obwohl seine Unterstützung geringer geworden ist und immer mehr Zweifel an seinen Führungsqualitäten aufkommen, sogar innerhalb der Rechten. Dazu kommen die permanenten Querelen zwischen den Oppositionsparteien Nationale Erneuerung (RN) und Unabhängige Demokratische Union (UDI), der rechten „Allianz für den Fortschritt“. Wir wissen noch nicht, wer der Kandidat oder die Kandidatin der Concertación sein wird, obwohl genügend Namen ins Spiel gebracht werden: die Außenministerin der Christdemokraten, Soledad Alvear, sowie ihr Parteikollege Ravinet, Ex-Bürgermeister von Santiago und jetziger Wohnungsbauminister. Und die sozialistische Verteidigungsministerin Michelle Bachelet oder gar der Ex-Präsident und gegenwärtige Senator Eduardo Frei, ebenfalls Christdemokrat, der diskret sein Comeback vorbereitet.
Jedoch keiner dieser Namen hat die Statur des jetzigen Präsidenten Lagos, denn bisher hat keiner seinen Grad der Zustimmung erreicht. Darüber hinaus haben die Christdemokraten unmissverständlich klar gemacht, dass sie nach Lagos wieder an der Reihe seien.
Abgesehen von den Ergebnissen der Meinungsumfragen ist ein interessantes Phänomen zu beobachten, das über die traditionelle Auseinandersetzung zwischen der Rechten und der Linken hinausweist. Die letzten Umfragen zeigen, dass der Präsidentschaftskandidat der Rechten am meisten Zuspruch unter den Jugendlichen unter 24, den Frauen und den Personen mit dem niedrigsten formalen Bildungsstand hatte. Diese Tendenz zeigte sich schon bei den letzten Präsidentschaftswahlen von 2000, in denen Lavin 48 Prozent der Stimmen erhielt, und in den letzten Gemeindewahlen, in denen die Rechtsparteien, vor allem die UDI, die größten Zugewinne in den Wahlbezirken erlangten, die traditionelle Hochburgen der Linken oder der Christdemokratie waren.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch einige der (selbst) ernannten KandidatInnen der Concertación den erfolgreichen populistischen Politikstil Lavins kopieren.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Welche Hoffnung gibt es, dass sich in den anstehenden Wahlen, den Gemeindewahlen von 2004 und den Präsidentschaftswahlen von 2006, dieses Bild ändert? Wir kennen das Projekt des Kandidaten der Rechten, Lavin. Er wird mit Sicherheit die makroökonomische Politik fortsetzen und die Integration Chiles in den Welthandel zu beschleunigen suchen. Es wird wahrscheinlich mehr Privatisierungen geben, vor allem von öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit und Bildung, und mit Sicherheit will er konservative Werte aggressiver vertreten.
Was die Concertación betrifft, so wird vermutlich kaum ein größerer Wandel der aktuellen Regierungspolitik zu erwarten sein, unabhängig davon, welches die Kandidatin und welches ihre Parteizugehörigkeit ist. Das hieße eine Fortsetzung der Öffnung Chiles für die internationalen Märkte, verstärkte Anstrengungen zur Modernisierung des Staatsapparates, erhöhte Investitionen im Bildungsbereich und, langsam aber sicher, zunehmende Privatisierungen beispielsweise im Bereich der Gesundheitsversorgung. Es gibt nicht wenige die meinen, dass sich das Kapital an Gemeinsamkeiten innerhalb der Concertación erschöpft hat: und dass ein Wechsel von den Regierungs– auf die harten Oppositionsbänke eine längst überfällige Gelegenheit wäre, die notwendige Reflexion über eine progressive Alternative zum neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell anzustrengen.
Was ist angesichts dieser Realität zu tun? Wenn die Concertación zum vierten Mal die Wahlen gewinnt, werden die Zyniker ihr wieder unterstellen können, dass sie „alles sich ändert, damit sich nichts ändert“. Andere – und darunter auch der Autor dieses Artikels – ziehen aber vor zu glauben, dass die von vielen gespürte Hoffnungslosigkeit als Symptom aufgefasst und in positive Bahnen gelenkt werden kann.
Dies könnte dazu führen, dass die Apathie, die Resignation und sogar der Konformismus derjenigen, die meinen, alles funktioniere perfekt, und das Wachstum des Konsums werde letzten Endes auch zur Verbesserung seiner Verteilung führen, überwunden werden. Dann könnten auch Organisationsversuche auf der Basis von gesellschaftlicher Solidarität und politische Alternativen gedeihen.

Übersetzung: Alois Möller, mit herzlichem Dank vom Autor!


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